Im Rat stellt sich Deutschland hinter die Sozialversicherung.
Gute Nachrichten aus Deutschland. Die Bundesregierung hat
sich am 7. März im Rat für Wettbewerbsfähigkeit (COMPET) hinter die
Sozialversicherung gestellt. In einem Austausch zum Fortgang der Verhandlungen
zum Dossier
zum Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr unterstrich Staatssekretär Sven
Giegold die Notwendigkeit, dass starre Vorgaben nicht sachgerecht seien und an
verschiedenen Stellen zu Kollisionen führen würden. Unter anderem müsse
sichergestellt werden, dass die Sozialversicherung ausreichend Zeit hat, ihre
Zahlungen zu prüfen.
Damit hat sich die Bundesregierung den Appell
der DSV aufgegriffen, die besondere Situation der Sozialversicherungsträger
in den Blick zu nehmen. Renten-, Unfall- und Krankenversicherungsträger haben
mit den Vertretungen ihrer Dienstleister eine Vielzahl von Verträgen
geschlossen, die sich nicht immer mit einer starren Zahlungsfrist von 30 Tagen
decken, wie sie der Europäischen Kommission vorschwebt. Insbesondere dann, wenn
die Rechnung oder die erbrachte Leistung Fragen aufwirft. In der geltenden
Zahlungsverzugsrichtlinie hatte eine Ausnahmeregelung im Gesundheitsbereich die
notwendigen zeitlichen Spielräume für sachgerechte Vertragslösungen geboten.
Eine besondere Situation besteht in der Krankenversicherung,
wo die Abrechnungen von Ärzten, Zahnärzten, Apotheken und Krankenhäusern nach
der Zahlung über zum Teil lange Zeiträume geprüft und gegebenenfalls korrigiert
werden. Hier erfüllt die Krankenversicherung Prüfaufgaben aus dem
Sozialgesetzbuch. Diese dürfen nicht sanktioniert werden. Im Rat ist diese
Botschaft angekommen.
Für Binnenmarktkommissar Thiery Breton war die Sitzung am
7. März nicht erfreulich. Die weit überwiegende Mehrzahl der Mitgliedstaaten
plädiert für mehr Vertragsfreiheit und hegt große Skepsis an der Notwendigkeit
einer Verordnung. Zumal sich eine Richtlinie einfacher ins nationale Zivilrecht
einfügen ließe. Auf breiten Widerstand stößt auch die Einrichtung neuer
Bürokratie, die im Zweifel mit der Zuständigkeit der Gerichte kollidiert. Last
but not least: Neben Deutschland forderten auch weitere Länder wie Italien, Malta
und Slowenien Ausnahmen für den Gesundheitssektor. Gespannt darf man nun
auf das Europäische Parlament blicken, wo die Kontroversen zum Vorschlag der
Europäischen Kommission ebenfalls Gräben – zum Teil auch innerhalb der
Fraktionen - aufgeworfen haben. Wegen des hohen Klärungsbedarfs wird der
Bericht von Róża Thun und Hohenstein (Renew, PL) erst am 21. März erwartet.
Die Beratungsverläufe in Parlament wie Rat lassen erwarten,
dass der Entwurf der Europäischen Kommission massive Änderungen erfahren wird.
Ob am Ende eine Verordnung verabschiedet wird oder es überhaupt zu einer
Einigung kommt, ist höchst ungewiss.
Nach der Pandemie erholt sich die Mobilität von
Beschäftigten innerhalb der EU und den EFTA-Staaten.
Der Jahresbericht
2023 der Europäischen Kommission über die Arbeitsmobilität innerhalb der
Europäischen Union (EU) und der EFTA-Länder – also Island, Norwegen, der Schweiz und
Lichtenstein - zeichnet einen leicht positiven
Trend nach Beendigung der Corona-Pandemie. Basierend auf Daten der Jahre 2021
und 2022 werden folgende Entwicklungen aufgezeigt:
In der Gruppe der EU-Bürgerinnen und Bürger im
erwerbsfähigen Alter (20-64 Jahre) ist die Zahl der Wanderer relativ konstant
geblieben und lag bei etwa 9,9 Millionen. 58 Prozent waren jung und männlich, die
maßgeblichen Herkunftsländer unverändert Rumänien, Polen und Italien. Jeder
Dritte geht nach Deutschland. Die Mobilität in dieser Gruppe hat aber noch
nicht ganz das Niveau von 2019 und damit vor der Pandemie erreicht.
Etwas anders zeigt sich die Situation bei den Grenzgängern:
In der EU und den EFTA-Ländern sind im Jahr 2022 rund 1,8 Grenzgänger gemeldet
worden und damit acht Prozent mehr als 2021. Deutlich gestiegen ist die Zahl
der Entsendungen. Die Gesamtzahl der ausgestellten Portablen Dokumente PD A1 -
diese weisen nach, dass eine entsendete Person im Sozialversicherungssystem des
Landes versichert ist, aus dem die Entsendung erfolgt - belief sich auf 4,6
Millionen und damit 27 Prozent mehr als im Vorjahr. Auch hier geht der größte
Teil des Anstiegs auf Deutschland zurück.
Mit einem Anstieg von 22 Prozent im Vergleich zu 2020 ist
auch die Zahl der Selbständigen wieder auf das Niveau vor der Pandemie
zurückgekehrt. Rückläufig ist der Anteil der EU-Bürgerinnen und Bürger mit
Teilzeitverträgen oder befristeten Verträgen. Hatten 2017 noch 20 Prozent aller
EU-Migrantinnen und Migranten einen befristeten Arbeitsvertrag, waren es 2022
nur noch 15 Prozent. Im gleichen Zeitraum ist auch das Bildungsniveau der
Umzügler leicht gestiegen. Ein Drittel (32 Prozent) hatte ein eher hohes
Bildungsniveau; gegenüber 29 Prozent fünf Jahre zuvor.
Interessant ist auch der Blick auf die Renten. Der Export
von Renten ist sowohl Bedingung für Arbeitsmobilität als auch dessen Folge.
Dennoch spielt der Export von Renten, so der Bericht, eine Schlüsselrolle, um
faire Arbeitsmobilität zu gewährleisten. Ihre Zahl ist von 2018 bis 2021 von
4,6 auf 5,4 Millionen gestiegen und umfasst ein Volumen von über 22 Milliarden
Euro. Deutschland ist gleichzeitig größter Exporteur als auch größter
Importeur von Renten. Ähnliches gilt für Frankreich.
Was der Bericht auch zeigt: Es gibt viel weniger Senioren
außerhalb ihres Heimatlandes als Bürger im erwerbsfähigen Alter. Die
exportierten Renten gehen hauptsächlich an mobile Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die in ihrem Heimatland in Rente gegangen sind.
Zwischen Hoffen und Bangen.
Die
Europawahlen stehen kurz vor der Tür. Die spürbaren Folgen des Klimawandels,
Lösungen für die Migrationsfrage, die langfristige Sicherung und
Weiterentwicklung des europäischen Sozialmodells sowie neue außenpolitische
Bedrohungen und Konflikte stellen alle in Europa vor großen Herausforderungen.
Gleichzeitig sehen sich die Europäische Union (EU) und die Mitgliedstaaten mit
einem starken Aufkommen populistischer und extremer Bewegungen im Inneren
konfrontiert. Nach aktuellen Umfragen werden vor allem rechtspopulistische
Kräfte gestärkt aus den Europawahlen im Juni hervorgehen. Auch in Deutschland
zeigen sich deshalb viele Politikerinnen und Politiker aus den verschiedenen
politischen Lagern besorgt. Woran liegt es, dass antieuropäische und
rechtspopulistische Parteien europaweit immer stärker werden? Wie wollen die
etablierten Parteien dem entgegentreten, um die Gunst der Wählerstimmen
zurückzugewinnen? Werden veränderte Kräfteverhältnisse in der EU die
europäische Sozialpolitik von morgen beeinflussen? Und heißt es an dieser
Stelle: Hoffen oder Bangen?
Diese Fragen wollen wir am 21. März in Berlin in einer gemeinsamen
Veranstaltung der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft (GVG) und der
Deutschen Sozialversicherung (DSV) mit Abgeordneten des deutschen Bundestages diskutieren.
Die vergangene Legislaturperiode war von der gemeinsamen
Bewältigung der Covid-19-Pandemie sowie dem Umgang mit dem russischen Angriffskrieg
gegen die Ukraine und dem damit einhergehenden sprunghaften Anstieg der
Inflation geprägt. Gleichzeitig hat die EU wichtige Weichen für die Zukunft
Europas gestellt: Das europäische Sozialmodell mit der europäischen Säule
sozialer Rechte hat weiter Gestalt angenommen. Mit dem europäischen Grünen Deal
und der digitalen Dekade ist der Rahmen für ein zukunftsfähiges Europa
geschaffen worden. Wird die EU in der Lage sein, diesen Weg fortzuführen und
diese drei wichtigen Politikfelder zusammenzuführen?
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben viele vermeintliche Gewissheiten
erschüttert. Es scheint, als hätten viele Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen
in die Zukunftsfähigkeit Europas verloren. Eine Reaktion auf die zunehmend
komplexer werdenden Herausforderungen und die damit einhergehenden schwierigen
Entscheidungsfindungen auf europäischer Ebene ist der Glaube an vermeintlich
einfache Lösungen auf nationaler Ebene.
Nach aktuellen Umfragen werden populistische, extreme und
antieuropäische Kräfte im Europäischen Parlament einen deutlichen Wählerzuwachs
verzeichnen, während die etablierten Parteien Sitze verlieren. Auch die aktuellen
Umfragen für die anstehenden nationalen Wahlen - beispielsweise in Belgien,
Österreich oder Rumänien - sehen ein Erstarken der antieuropäischen Kräfte. Gemeinsame
politische Lösungen im Rat und im Europäischen Parlament werden dadurch
erschwert.
Wie können die EU und seine Institutionen das Vertrauen der
Bürgerinnen und Bürger in eine gemeinsame europäische Zukunft (zurück)gewinnen?
Am 21. März laden die GVG und die DSV mit Blick auf die
anstehenden Herausforderungen zu einer hochkarätig besetzten Veranstaltung in
Berlin ein: „Zwischen Hoffen und Bangen: Die Europawahl, Rechtsruck und die
Sozialpolitik von morgen.“
Auf dem Podium werden der Bundestagsabgeordnete und ehemalige
Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Ralph Brinkhaus; die
stellvertretende Sprecherin der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales der SPD,
Angelika Glöckner; der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für die
Angelegenheiten der Europäischen Union, Dr. Anton Hofreiter (Bündnis 90/Die
Grünen); und die Obfrau der FDP-Fraktion im Bundestagsausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union, Dr. Ann-Veruschka Jurisch, ihre
Vorstellungen und Ideen für ein zukunftsfähiges Europa diskutieren. Zur
Anmeldung für die Veranstaltung geht es hier.
Die Reform des Koordinierungsrechts wird in dieser
Legislaturperiode nicht abgeschlossen.
Mit der Reform des Rechts zur Koordinierung der Systeme der sozialen
Sicherheit – der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und ihrer Durchführungsverordnung
(EG) 987/2009 – wird es vorerst nichts. Der belgische Vizepremier und
Gesundheitsminister Frank Vandenbrouke hat am 14. Februar im Ausschuss für
Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (EMPL) offiziell gemacht, was seit
dem gescheiterten Kompromissvorschlag von Ende Januar im Grunde klar war: Das
Dossier wird von der belgischen Ratspräsidentschaft nicht weiterverfolgt. Damit
ist es auch in der zweiten Legislaturperiode nicht gelungen, den Vorschlag
der Europäischen Kommission vom 13. Dezember 2016 für eine Revision des
Koordinierungsrechts erfolgreich auszuhandeln.
Die
belgische Ratspräsidentschaft hatte vorgeschlagen, die verbliebenen strittigen
Punkte gesondert zu verhandeln. Hierbei handelt es sich um den Mechanismus zur
Feststellung der Sozialversicherungspflicht von Beschäftigten im EU-Ausland über
die A1-Bescheinigung und um das Arbeitslosengeld für grenzüberschreitende Arbeitskräfte.
Dies war mit dem zuständigen EMPL-Ausschuss nicht zu machen. Damit war der Weg
für das Aus in der sich ohnehin auf ihr Ende zubewegenden Legislaturperiode
vorgezeichnet.
Die Berichterstatterin für das Gesetzesverfahren, Gabriele
Bischoff (S&D, DE) ließ zu der Ratsentscheidung wissen, das Europäische
Parlament bleibe weiter am Ball. Man sei weiterhin offen für einen Kompromiss,
ob in dieser oder in der nächsten Legislaturperiode. In einer Presseerklärung
vom 15. Februar der EMPL-Verhandler heißt es: „Die mangelnde Bereitschaft
des belgischen Ratsvorsitzes, die Bemühungen des spanischen Ratsvorsitzes um
einen Gesamtkompromiss fortzusetzen, ist enttäuschend.“ Aber eine Aufspaltung
der Themen sei nicht zu akzeptieren. Nur Teile der Reform abzuschließen, würde bedeuten,
auf wesentliche Punkte seiner Position auf unbestimmte Zeit zu verzichten. Man
sei an einem ausgewogenen Paket interessiert. Im Übrigen ließe sich das
Parlament nicht in Geiselhaft nehmen, weil die Mitgliedstaaten Schwierigkeiten
haben, einen gemeinsamen Standpunkt zu finden.
In der Tat ist es in der Vergangenheit zweimal gelungen,
eine vorläufige Einigung zwischen Parlament und Rat zu erzielen – im Frühjahr 2019
und im Dezember 2021. Beide Male wurde der Kompromiss von den Mitgliedstaaten
abgelehnt. Das Dossier wird wohl nun in der nächsten Legislaturperiode wieder
aufgenommen. Ob Gabriele Bischoff dann weiterhin die Fäden für die
Verhandlungen auf Parlamentsseite in den Händen halten wird, ist nicht
gesichert, aber wahrscheinlich. Mit ihrem Listenplatz 1 auf der Berliner
Landesliste der SPD für die Europawahl stehen ihre Chancen sehr gut, am 1. Juli
ins neu besetzte Parlament einzuziehen. Vieles spricht dafür, dass sie ihre
Expertise zum Koordinierungsrecht in die Waagschale werfen wird, wenn die
Zuständigkeiten für die Gesetzesverfahren neu verteilt werden.
Auch
die zweite vorläufige Einigung erhält keine ausreichende Unterstützung im Rat.
Der
belgische Ratsvorsitz konnte am 16. Februar nicht die nötige Unterstützung der
Mitgliedstaaten für die im Trilog gefundene vorläufige Einigung zur
Plattformarbeit finden. Die Formulierung zur widerlegbaren
Beschäftigungsvermutung, die der Statusfeststellung von Plattformbeschäftigten
zugrunde liegen soll, blieb bis zuletzt umstritten und war im Rat nicht
konsensfähig. Nach der Ablehnung der noch unter spanischer Ratspräsidentschaft
erzielten Einigung am 22. Dezember 2023, ist dies bereits das zweite Mal, dass die von den Unterhändlern des EU-Parlaments und des Rates erzielte vorläufige Einigung im Ausschuss der Ständigen Vertreter
(AStV) keine qualifizierte Mehrheit gefunden hat. Damit besteht kaum noch
Hoffnung, dass das Dossier rechtzeitig vor dem Ende der parlamentarischen
Arbeit und dem Beginn des EU-Wahlkampfes erfolgreich abgeschlossen werden kann.
Am 8.
Februar hatten die Verhandlungsführerinnen und -führer des Europäischen
Parlaments und des Rats in ihrer vorläufigen Einigung abgesprochen, das Kapitel
über „Algorithmisches Management am Arbeitsplatz“ der vorläufigen Einigung vom
Dezember unverändert zu übernehmen. Der Abschnitt zur Feststellung des
Beschäftigungsstatus ist jedoch stark verändert worden. So ist auf
harmonisierte Bedingungen für die Auslösung der widerlegbaren
Beschäftigungsvermutung verzichtet worden. Stattdessen wurde ein Verweis auf
„Tatsachen“ aufgenommen, der auf eine Kontrolle und Leitung gemäß der in den
Mitgliedstaaten geltenden nationalen Rechtsvorschriften unter Berücksichtigung
der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) verweist. Gleichzeit verpflichtete der Text
die Mitgliedsstaaten, eine widerlegbare Beschäftigungsvermutung in ihren
nationalen Systemen zu schaffen - ohne auf die Einzelheiten ihrer Anwendung
einzugehen.
Der
von Frankreich geforderte Zusatz in den Erwägungsgründen, wonach ein Indikator
der widerlegbaren Beschäftigungsvermutung nicht als erfüllt gilt, wenn dies
Folge nationalen Rechts oder gewerkschaftlicher Vereinbarungen ist, hatte
hingegen nicht Eingang in die Einigung gefunden. Die Parlamentarier
kritisierten, dass dadurch digitale Arbeitsplattformen die Statusfeststellungen
aushebeln könnten, indem sie Vereinbarungen mit nicht repräsentativen oder auch
selbst gegründeten Gewerkschaften treffen.
Für
die Billigung des Gesetzentwurfes wird im Rat eine qualifizierte Mehrheit
benötigt. Hierfür müssen mindestens 55 Prozent der Mitgliedstaaten, die
mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der Europäischen Union (EU)
vertreten, dafür stimmen. Enthaltungen werden somit wie Gegenstimmen gewertet. In
der Abstimmung haben sich Estland, Griechenland, Deutschland und Frankreich
enthalten. Damit haben zwar mehr als die erforderlichen 15 Mitgliedstaaten
zugestimmt. Diese 23 Mitgliedstaaten repräsentieren jedoch nur 63,66 Prozent
der Bevölkerung der EU. Damit wird das zweite Kriterium für eine qualifizierte
Mehrheit nicht erfüllt.
Die
belgische Ratspräsidentschaft versucht weiterhin eine qualifizierte Mehrheit zu
organisieren und will das Dossier auf dem Rat „Beschäftigung, Sozialpolitik,
Gesundheit und Verbraucherschutz“ (EPSCO) auf Ministerebene diskutieren. Sehr
wahrscheinlich ist dies die letzte Möglichkeit, das Dossier in dieser
Legislaturperiode abzuschließen.
Das Europäische Parlament legt seine Verhandlungsposition
fest.
Wenn das Europäische
Parlament am 27. Februar in Straßburg zusammenkommt, wird es auch zu den
meisten Dossiers im Gesetzespaket zum Schutz des geistigen Eigentums seinen
Standpunkt beschließen. Darunter befinden sich auch die beiden Dossiers zu
Schutzzertifikaten für Arzneimittel. Vorlage für die Entscheidung im Plenum
werden die Berichte von Tiemo Wölken (S&D, DE) zum einheitlichen
ergänzenden Zertifikat und zur Neufassung
der Verordnung zum ergänzenden Schutzzertifikat für Arzneimittel sein, die
am 24. Januar im zuständigen Rechtsausschuss (JURI) des Europäischen Parlaments
abgestimmt worden sind.
Auch wenn grundsätzlich weitere Änderungen im Plenum möglich
sind, die Berichte des Rechtsausschusses (JURI) zeigen, mit welchen Verhandlungsschwerpunkten die
Unterhändler des Parlaments in den Trilog ziehen werden. Handlungsleitend war
für die Abgeordneten im Ausschuss, dass es bei den Schutzzertifikaten – wie bei
der Reform des Arzneimittelrechts - entscheidend darauf ankommt, eine gesunde Balance
zwischen dem rechtzeitigen Eintritt von Generika und Biosimilars und damit dem
Wettbewerb auf der einen Seite und dem Erhalt der Innovations- und
Wettbewerbsfähigkeit der europäischen pharmazeutischen Hersteller auf der
anderen Seite zu wahren.
Schutzzertifikate wirken wie Patente und schützen ein
Originalpräparat vor Konkurrenz. Sie haben zum Zweck, den Hersteller über
zusätzliche Schutzzeiten von bis zu fünf Jahren für die zum Teil langen und
aufwendigen Verfahren zu kompensieren, die notwendig sind, um ein Produkt zur
Marktzulassung zu bringen. Die Abgeordneten möchten mit der Einführung eines
einheitlichen europäischen Schutzzertifikats die Chance nutzen, dieses zu einem
Instrument auszubauen, das dabei hilft, dass neue Arzneimittel auf möglichst
vielen Märkten erhältlich sind. Dazu soll der Inhaber des Zertifikats die
Rechte aus diesem per Lizenz vergeben können, wenn er selbst kein Interesse an
einer Vermarktung hat.
Um europäische Hersteller vor Wettbewerbsnachteilen zu
schützen, sollen die Rechte aus Schutzzertifikaten aber auch eingeschränkt
werden können. Nämlich dann, wenn die Herstellung des Arzneimittels
ausschließlich zum Zweck der Ausfuhr in Drittländer erfolgen soll. Schließlich würden
die Schutzrechte auch nicht für die Konkurrenten aus den Drittländern gelten.
In diesen Fällen soll die Herstellung des Arzneimittels auch ohne Zustimmung
des Zertifikatsinhabers erfolgen können.
Im JURI ist man auch der Meinung, dass es in bestimmten
Fällen erforderlich sein könnte, Entscheidungen über die Vergabe von ergänzenden
Schutzzertifikaten schneller herbeizuführen. Dafür soll ein beschleunigtes
Prüfungsverfahren eingerichtet werden. Der Verfahrenseffizienz soll dienen, dass
alle Antrags-, Stellungnahme-, Beschwerde- und sonstige Verwaltungsprozesse verpflichtend
elektronisch erfolgen. Den zuständigen Ämtern – im Falle des einheitlichen
europäischen Zertifikats das Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO)
mit Sitz in Alicante und im Falle national zu vergebender ergänzender
Schutzzertifikate die nationalen Patentämter – sollen verpflichtet werden,
innerhalb von sechs Monaten, beziehungsweise vier Monaten in einem
beschleunigten Verfahren, über die Anträge zu entscheiden. Die Fristen waren
für die Abgeordneten offenbar so wichtig, dass sie deren Festlegung nicht den Durchführungsrechtsakten
durch die Europäische Kommission überlassen wollten.
Schon in den Verordnungsentwürfen der Europäischen
Kommission fanden sich Vorgaben zur Einrichtung von Registern - sowohl für die
Einheitsbescheinigung als auch für die national zu vergebenden Zertifikate. In
diesen sollen neben den Grundangaben zum Antrag auch Laufzeiten der Zertifikate
und Verfahrensinformationen zusammengeführt werden. Der JURI drängt darauf,
dass diese Register öffentlich zugänglich gemacht werden und diese auch Angaben
zur direkten finanziellen öffentlichen Unterstützung der Entwicklung des
Produkts aufzunehmen. Sein Vorschlag geht aber nicht so weit wie jener der Grünen bei
der Arzneimittelreform. Die grünen Schattenberichterstatterinnen hatten vorgeschlagen, die Daten des Auslaufens von
Patentschutz und regulatorischem Schutz gemeinsam transparent zu machen. Eine
Forderung, die den Generikawettbewerb unterstützen soll und welche die DSV
uneingeschränkt teilt. Vielleicht könnte dieser Gedanke im Trilog zur Reform
des Schutzes des geistigen Eigentums aufgegriffen werden?
Das Europäische Parlament bestätigt neue Grenzwerte für
die Exposition am Arbeitsplatz.
Am 7. Februar 2024 hat das Europäische
Parlament der vorläufigen Trilogeinigung zur Änderung
der Richtlinie hinsichtlich der Expositionsgrenzwerte für Blei und
seine anorganischen Verbindungen und Diisocyanate mit hoher Mehrheit im Plenum zugestimmt.
Der Abstimmung war eine Parlamentsdebatte vorausgegangen,
in welcher die Abgeordneten die Bedeutung der neuen Vorschriften für die
Gesundheit und Sicherheit der Beschäftigten betont haben. In
der Europäischen Union (EU) sind jedes Jahr etwa 50.000 bis 150.000 Beschäftigte
Blei sowie 4,2 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Diisocyanaten ausgesetzt.
Beide Stoffe finden Verwendung in Batterien und Dachmaterial, wie auch bei der
Herstellung von Windturbinen und Elektrofahrzeugen.
Die Richtlinie wird nun zum ersten Mal seit 1982 den Grenzwert
für die berufsbedingte Exposition gegenüber Blei aktualisieren und auf 0,03
mg/m3 senken. Der biologische Grenzwert für Blei wird ab dem 1.
Januar 2029 auf 15 µg/100 ml herabgesetzt, bis dahin gilt übergangsweise ein
Grenzwert von 30 µg/100 ml. Laut der Europäischen Chemikalienagentur kann die Exposition gegenüber Blei zu
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nierenerkrankungen, Bluthochdruck oder
Fruchtbarkeitsstörungen führen. Für Frauen im gebärfähigen Alter sowie
Beschäftigte, die bereits längerer Zeit Blei ausgesetzt waren, werden daher weitere
Gesundheitsüberwachungsmaßnahmen eingeführt.
Bei Diisocyanaten handelt es sich um chemische
Arbeitsstoffe, die bei berufsbedingter Exposition Auswirkungen auf die
Gesundheit der Atemwege und der Haut haben können. Die Richtlinie legt nun erstmalig
auch hierfür einen Expositionsgrenzwert fest. Als maximale Konzentration, der
ein Arbeitnehmer während eines achtstündigen Arbeitstages ausgesetzt sein darf,
wird 6 µg NCO/m3 festgelegt. Für die kurzzeitige Exposition von 15
Minuten ist ein Grenzwert von 12 µg NCO/m3 vorgesehen.
Der Rat wird am 26. Februar 2024 über die Verabschiedung
des Gesetzgebungsakts formell abstimmen. Sofern der Rat die neuen Vorschriften ebenfalls bestätigt,
wird die Richtlinie im Amtsblatt der EU veröffentlicht und tritt 20 Tage später
in Kraft.
Die Europäische Kommission legt Vorschlag für
Ratsempfehlungen zur Krebsbekämpfung durch Impfungen vor.
Die Europäische Kommission hat am 31. Januar einen Vorschlag
für Ratsempfehlungen zu durch Impfung verhütbare Krebsarten veröffentlicht. Im
Mittelpunkt des Vorschlags steht, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union
(EU) bei der Prävention und Verringerung des Krebsrisikos durch humane
Papillomaviren (HPV) und Hepatitis-B-Viren (HBV) zu unterstützen. Dazu sollen
die Durchimpfungsraten erhöht und die Impfraten besser überwacht werden. Die
Initiative geht auf den Europäischen
Plan zur Krebsbekämpfung zurück, der das Ziel verfolgt, bis 2030 eine
HPV-Impfrate von 90 Prozent bei Mädchen und jungen Frauen zu erreichen und
deutlich mehr Jungen zu impfen. Auch die HBV-Impfrate soll erhöht werden.
HPV sind Viren, die Zellen der Haut und der Schleimhäute
befallen. Sie sind die Hauptursache für Gebärmutterhalskrebs. Jedes Jahr
erkranken im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) etwa 28.600 Menschen an
Gebärmutterhalskrebs, 13.700 sterben daran.
HBV sind Viren, die eine Infektion der Leber verursachen
können, die akut oder chronisch verlaufen kann und das Risiko für Leberzirrhose
und Leberkrebs erhöht. Im Jahr 2021 meldeten 30 EU- und EWR-Länder 16.187 neu
diagnostizierte HBV-Infektionen, von denen ein großer Teil (43 Prozent) als
chronisch eingestuft wurde.
Innerhalb der EU gibt es große Unterschiede, insbesondere
bei den Durchimpfungsraten gegen HPV. In einigen EU-Mitgliedstaaten liegt die
HPV-Durchimpfungsrate bei Mädchen bei 90 Prozent, in anderen bei unter 50 Prozent.
Für Jungen und junge Erwachsene liegen derzeit nur begrenzte Daten über die
Durchimpfungsraten vor. Die Daten einer kürzlich von der OECD veröffentlichten Cancer
Inequality Study zeigen, dass mehr als 90 % der Mädchen in Island,
Portugal und Norwegen die empfohlenen Dosen des HPV-Impfstoffs zur Vorbeugung
von Gebärmutterhalskrebs erhalten - mehr als doppelt so viele wie in Bulgarien,
Frankreich, Luxemburg, Slowenien und Lettland. Sozioökonomische Ungleichheiten
sind bei den meisten Risikofaktoren zu beobachten, und zwar zum Nachteil von
Menschen mit niedrigerem Bildungsstand oder Einkommen.
Die Europäische Kommission schlägt in ihrem Entwurf 16
Maßnahmen vor, wie Infektionen mit den krebserregenden HPV und HBV besser
verhindert werden können. Im Mittelpunkt steht dabei die Einführung oder
Verstärkung nationaler Impfprogramme, unter anderem durch die Bereitstellung
kostenloser Impfungen und/oder die vollständige Erstattung der Impfkosten für
Personen, für die eine Impfung empfohlen wird. Daneben soll der Zugang für
besonders gefährdete und gegebenenfalls benachteiligte Gruppen verbessert
werden. In diesem Zusammenhang spielen Impfprogramme in Schulen und
Bildungseinrichtungen eine wichtige Rolle.
Zur besseren Überwachung werden die Mitgliedstaaten
aufgefordert, die HPV- und HBV-Impfung stärker in die nationalen
Krebspräventionsprogramme zu integrieren und für eine bessere Verknüpfung von
Impf- und Krebsregistern zu sorgen. Ein weiterer Schwerpunkt soll auf einer verstärkten
Aufklärungsarbeit liegen, insbesondere durch die Betonung der Vorteile von
Impfungen bei Eltern, Jugendlichen und Zielgruppen sowie die Bekämpfung von
Falsch- und Fehlinformationen.
Von den vorgeschlagenen Maßnahmen kann auch Deutschland
profitieren. In Deutschland liegen die HPV-Impfquoten für eine vollständige
Impfserie bei 15-jährigen Mädchen derzeit bei 54 Prozent und bei Jungen bei 27
Prozent. Die Deutsche Sozialversicherung (DSV) begrüßt deshalb die Initiative der
Europäischen Kommission. Die deutschen Sozialversicherungsträger unterstützen
und finanzieren im Rahmen ihrer Zuständigkeit die Durchführung aller von der
Ständigen Impfkommission (STIKO) empfohlenen Impfungen bei ihren Versicherten
und informieren darüber. Im Falle der HPV-Impfung gehen die Krankenkassen in
vielen Fällen sogar über die STIKO-Empfehlungen hinaus. Im Rahmen des
Präventionsengagements der Sozialversicherungsträger werden zudem zahlreiche
Projekte unterstützt, die insbesondere in Schule und Arbeitswelt aufklären und
auf Schutzmöglichkeiten hinweisen. Bereits im Februar 2023 hatte sich die DSV
in einem Feedback dazu positioniert.
Der Vorschlag für die Ratsempfehlungen wird nun an den Rat
überführt. Der Rat plant, die nicht bindenden Ratsempfehlungen im EPSCO (Rat
für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz) am 21. Juni
formell anzunehmen.
EU und Sozialpartner verpflichten sich zur
Stärkung des sozialen Dialogs.
Am
31. Januar 2024 haben die Europäische Kommission, der belgische Ratsvorsitz und
die europäischen Sozialpartner auf einem Sozialpartnergipfel in Val Duchesse
eine „Dreigliedrige Erklärung für
einen dynamischen europäischen sozialen Dialog“
unterzeichnet. Die Erklärung versteht sich als ein erneutes Bekenntnis zur
Stärkung des sozialen Dialogs auf Ebene der Europäischen Union (EU) und zur
gemeinsamen Bewältigung der Herausforderungen, mit denen Volkswirtschaften und
Arbeitsmärkte in der EU konfrontiert sind. Das Ziel ist, florierende
Unternehmen, hochwertige Arbeitsplätze und Dienstleistungen sowie verbesserte
Arbeitsbedingungen zu schaffen.
Im Rahmen der Erklärung verpflichten sich die Europäische Kommission,
der Rat und die europäischen Sozialpartner zu einer Reihe von Maßnahmen.
Arbeitskräftemangel und Qualifikationsdefizite sind
von entscheidender Bedeutung für nachhaltiges Wachstum und die
Wettbewerbsfähigkeit der EU. Vor diesem Hintergrund verpflichten sich die Unterzeichner
in der Erklärung, ihren Teil dazu beizutragen, mehr Menschen auf den
Arbeitsmarkt zu bringen, Arbeitsbedingungen zu verbessern, die Anerkennung von
Qualifikationen zu erleichtern und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem
Ausland besser zu integrieren. Darüber hinaus will die Europäische Kommission
in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern bis Frühjahr 2024 einen Aktionsplan
zur Bekämpfung von Arbeitskräftemangel und Qualifikationsdefiziten vorlegen.
Der soziale Dialog ist ein Prozess, der in den
Artikeln 151 bis 156 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) hinsichtlich
der Teilnehmer, Befugnisse und Verfahren genau geregelt ist. Seine Rolle als
wesentlicher Bestandteil des europäischen Sozialmodells und der europäischen
Demokratie unterscheidet sich von anderen Formen der Konsultation, wie zum
Beispiel dem Dialog mit der Zivilgesellschaft, dessen Funktionsweise nicht in
den Verträgen verankert ist. Die Europäische Kommission, der Rat und die
europäischen Sozialpartner bekräftigen deshalb ihre Verpflichtung, die Rolle
der Sozialpartner und den Sozialdialog zu fördern.
Um die Rolle des sozialen Dialogs auf europäischer
und nationaler Ebene zu fördern und zu stärken, soll ein Beauftragter oder eine
Beauftragte für den europäischen sozialen Dialog eingesetzt werden. Der oder
die unparteiische Beauftragte soll die Umsetzung der Mitteilung der Europäischen Kommission über die
Stärkung des sozialen Dialogs in der EU unterstützen und koordinieren sowie die Anlaufstelle in der Europäischen
Kommission für die Sozialpartner sein.
Laut der Erklärung soll eine Reihe von Treffen mit
den europäischen Sozialpartnern stattfinden, um Möglichkeiten zur weiteren Stärkung
des europäischen sozialen Dialogs zu erarbeiten. Diese sollen unter anderem die
institutionelle und finanzielle Unterstützung des europäischen sozialen Dialogs
auf allen Ebenen umfassen sowie den Kapazitätsaufbau der Sozialpartner, auch in
den EU-Beitrittskandidatenländern. Dies soll bis Anfang 2025 in einen „Pakt für
den europäischen sozialen Dialog“ münden.
Wie lässt sich die Rentenlücke schließen?
Am 8.Februar fand die High Level Conference der belgischen Ratspräsidentschaft zum Thema „Gender Pension Gap“ in Brüssel statt. Die geschlechtsspezifische Rentenlücke - auch Gender Pension Gap - beschreibt die Unterschiede in den Alterssicherungseinkommen von Frauen gegenüber Männern. Über die Frage, wie sich diese Rentenlücke zukünftig verringern lässt, diskutierten hochrangige Politikerinnen und Politiker mit den Fachexpertinnen und Fachexperten von Europäischer Kommission und den Mitgliedstaaten; darunter die belgische Ministerin für Renten und soziale Integration, Karine Lalieux, der belgische Minister für Mittelstand und Selbstständige, David Clarinval, sowie der deutsche Staatssekretär des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Dr. Rolf Schmachtenberg.
Der Gender Pension Gap gibt die Unterschiede in den Erwerbsbiografien von Männern und Frauen wieder. Dazu zählt zum Beispiel die ungleiche Verteilung zwischen bezahlter Erwerbsarbeit sowie die ungleiche Verteilung der unbezahlten Sorgearbeit zwischen Männern und Frauen, also Kinderbetreuung oder Altenpflege, aber auch familiäre Unterstützung, häusliche Pflege oder Hilfe unter Freunden. Zudem arbeiten Frauen häufiger in Teilzeit als Männer und unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit aus familiären Gründen häufiger und länger. Außerdem liegen die Verdienste von Frauen weiterhin deutlich unter denen von Männern (Gender Pay Gap).
Der Gender Pension Gap ist jedoch nicht als Ausdruck einer prekären Einkommenssituation von Frauen im Alter zu deuten. Die Einkommenssituation von Frauen im Alter hängt von der Einkommenssituation des Haushaltes ab, in dem sie leben. Einbezogen werden auch weitere Einkommensquellen wie beispielsweise Kapitaleinkommen, Einkommen aus Verpachtung und Vermietung oder aus Erwerbstätigkeit weiterer Haushaltsmitglieder. Die geschlechtsspezifische Rentenlücke betrachtet also nicht nur das eigenständige Alterseinkommen von Frauen, sondern auch deren ökonomische Abhängigkeit.
Die Rentenlücke bezieht sich maßgeblich auf Frauen, die heute in Rente sind, das heißt, deren Erwerbsleben überwiegend vor 1970 begann. Zu dieser Zeit waren traditionellere Partnerschaftsmodelle, in denen zum Beispiel nur der Mann erwerbstätig war, noch wesentlich verbreiteter als heute. Rollenverständnisse und Lebensentwürfe haben sich jedoch stark verändert. Dies zeigt sich auch im stetigen Anstieg der Erwerbsbeteiligung von Frauen, die seit dem Jahr 2002 in der Europäischen Union (EU) um knapp zwölf Prozent und in Deutschland um gut 14 Prozent gestiegen ist.
Neben der Erwerbsbiografie hat aber auch die Ausgestaltung der Rentensysteme einen direkten Einfluss auf den Gender Pension Gap und damit auf dessen Reduzierung. Im Rahmen der Konferenz der belgischen Ratspräsidentschaft wurde dies exemplarisch anhand von Best Practise-Beispielen verdeutlicht.
So stellte Susan Kuivalainen vom „Finish Center for Pensions“ einen einfach zugänglichen Rentenrechner vor, der es finnischen Versicherten ermöglicht, die Folgen einer Reduzierung ihrer Erwerbstätigkeit auf ihr zukünftiges Alterseinkommen abzufragen. Dina Frommert von der Deutschen Rentenversicherung erläuterte das Rentensplitting, das während der Ehe erworbenen Alterssicherungsansprüche im Falle einer Scheidung aufteilt. Giselda Curvers und Dries van der Bosch erklärten zudem die positive Wirkung der Grundrente auf Frauen in Belgien. Drei unterschiedliche Maßnahmen, die Frauen zugutekommen und die den Gender Pension Gap reduzieren können.
Im Zuge der Veranstaltung wurde darüber hinaus deutlich, dass sich die Reduzierung der geschlechtsspezifischen Rentenlücke nur durch einen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt und zum Sozialschutz erzielen lässt. Gleiches gilt für eine gleichberechtigte Verteilung von Erwerbsarbeit und unbezahlter Sorgearbeit zwischen Männern und Frauen. Zudem müsse der Zugang zur betrieblichen und privaten Altersvorsorge stärker berücksichtigt werden. So liegt der Gender Pension Gap bei der Betriebsrente deutlich über dem der gesetzlichen Rentenversicherung.
Analog zum Europäischen „Minimum Income Network“ zur Evaluierung der Mindesteinkommen in Europa, schlugen Lalieux und Schmachtenberg die Gründung eines „Gender Pension Gap Network“ vor. Der Europäische Statistik-Amt Eurostat und die Indikatorengruppe des Sozialschutzausschusses der Europäischen Union hätten umfangreiche Statistiken und Analysetools geschaffen. Diese gelte es systematisch zu nutzen, um schrittweise die Rentenlücke zu schließen.
Die Europäische Kommission schlägt mehr als nur
Fristverlängerungen für In-vitro-Diagnostika vor
Die Europäische Kommission hat am 23. Januar einen Verordnungsvorschlag zur Anpassung der In-vitro-Diagnostika-Verordnung (IVDR) und der Medizinprodukte-Verordnung
(MDR) vorgelegt.
Ähnlich wie bei der Anpassung der MDR (siehe News
12/2022) soll die IVDR angepasst werden, um den Herstellern für die
Zertifizierung von In-vitro-Diagnostika (IVD) mehr Zeit einzuräumen. IVD sind Tests, bei denen anhand
biologischer Proben der Gesundheitszustand einer Person bestimmt wird, beispielsweise HIV-Tests, Schwangerschaftstests oder Blutzuckermessgeräte.
Die vorgeschlagenen verlängerten Übergangsfristen hängen von
der Art des Produkts ab, insbesondere von der Risikoklasse des IVD. Für IVDs
mit hohem Risiko sollen die Übergangsfristen um zweieinhalb Jahre vom 26. Mai
2025 auf den 31. Dezember 2027 verlängert werden. Für IVDs mit mittlerem und
geringem Risiko soll die Zertifizierung bis zum 31. Dezember 2028 beziehungsweise
31. Dezember 2029 gelten.
Die Europäische Kommission begründet die Anpassung mit
drohenden Engpässen, insbesondere bei In-vitro-Diagnostika mit hohem Risiko
(Klasse D). Die Verlängerung der Konformitätsbewertungsverfahren für IVD soll
laut Europäischer Kommission „die Verfügbarkeit sicherer Produkte
gewährleisten, die für die Gesundheitssysteme unerlässlich sind und die
Patientenversorgung schützen.“
Der lange Titel des Verordnungsvorschlags verrät es bereits:
Es handelt sich nicht um eine reine Fristverlängerung der IVD. Neben der
Verlängerung der Übergangsfristen schlägt die Europäische Kommission zwei
grundlegende Anpassungen vor, die auch die MDR betreffen. So soll eine
Meldepflicht für Hersteller von Medizinprodukten und IVD eingeführt werden,
wenn sie „kritische“ Produkte vom Markt nehmen. Eine Meldepflicht soll immer
dann bestehen, wenn die Rücknahme schwerwiegende Auswirkungen auf die Gesundheit
der Patientinnen und Patienten oder die öffentliche Gesundheit hat oder haben
kann.
Darüber hinaus soll die Einführung der Europäischen
Medizinprodukte-Datenbank (EUDAMED) beschleunigt werden. Nach den derzeitigen
Bestimmungen wird die Nutzung von EUDAMED erst dann verpflichtend, wenn alle
Module ordnungsgemäß funktionieren. Dies soll nach dem Vorschlag der
Europäischen Kommission geändert werden. Bereits voll funktionsfähige Module
sollen ab Ende 2025 verpflichtend genutzt werden.
Die befristete risikobasierte Verlängerung der
Übergangsfristen für IVD ist sinnvoll, um Versorgungsengpässen bei diesen
Produkten entgegenzuwirken. Auch die Einführung einer Meldepflicht für
Hersteller, wenn „kritische“ Produkte vom Markt genommen werden, wird begrüßt.
Es ist wichtig zu wissen, bei welchen Produkten ein ernsthaftes Risiko für
Marktrücknahmen besteht und warum genau sie vom Markt genommen werden. Aus
Sicht der DSV fehlt jedoch eine präzisere Formulierung. Es ist unklar, unter
welchen Voraussetzungen von einer „schwerwiegenden Schädigung oder der Gefahr
einer schwerwiegenden Schädigung der Patienten oder der öffentlichen Gesundheit
in einem oder mehreren Mitgliedstaaten“ auszugehen ist. Die DSV hat hierzu in
ihrer Stellungnahme entsprechende Vorschläge unterbreitet.
Der Kommissionsvorschlag wird nun im Rat und im Parlament diskutiert
und soll in einem sogenannten Dringlichkeitsverfahren – wie auch im vergangenen
Jahr bei der Fristverlängerung der MDR – behandelt werden.
Ein funktionierender Wettbewerb hilft, Arzneimittelinnovationen
bezahlbar zu halten.
Der Marktwettbewerb ist neben der staatlichen Regulierung
das wichtigste Instrument, um die Versorgung der Bürgerinnen und Bürger mit Arzneimitteln
zu erschwinglichen Preisen sicherzustellen. Die aktive Durchsetzung der
europäischen Kartell- und Fusionskontrollvorschriften trägt dazu bei, dass die
Märkte funktionsfähig gehalten werden und die Menschen in Europa Zugang zu
bezahlbaren und innovativen Arzneimitteln haben. Zu diesem Schluss kommt ein Bericht
der Europäischen Kommission vom 26. Januar 2024. Der Bericht nimmt die
Jahre 2018 bis 2022 in den Blick. Er ist der zweite seiner Art und Ergebnis der
Zusammenarbeit von Europäischer Kommission und den Wettbewerbsbehörden der
EU-Mitgliedstaaten im Europäischen Wettbewerbsnetz (ECN). Im Vergleich zum
vorhergehenden Bericht ist im Untersuchungszeitraum die Anzahl der
kartellrechtlichen Beschlüsse von durchschnittlich drei auf fünf Beschlüsse pro
Jahr gestiegen.
In dem Bericht wird zum einen auf die Anwendung der
kartellrechtlichen Vorschriften zu wettbewerbswidrigen Vereinbarungen und
Praktiken verwiesen. Diese umfassen Maßnahmen gegen Verhaltensweisen, die den
Markteintritt von Generika verhindern oder verzögern sowie Maßnahmen gegen
Preishöhenmissbrauch von Arzneimitteln aufgrund einer marktbeherrschenden
Stellung („unangemessene Preise“), Angebotsabsprachen bei Ausschreibungen von
Krankenhäusern, Marktaufteilungsabsprachen zwischen Apotheken, Beschränkungen
des Parallelimports, bei dem Preisdifferenzen von Medikamenten in der
Europäischen Union (EU) ausgenutzt werden, und anderes mehr. Rund 100 Fälle,
die Arzneimittel betrafen, wurden untersucht. In 28 Fällen ergingen
kartellrechtliche Beschlüsse durch die Wettbewerbsbehörden, 30 Fälle sind noch
nicht abgeschlossen.
Zum
anderen standen 30 Zusammenschlüsse im Arzneimittelsektor zur Prüfung an, um
einen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung zu verhindern. Die größere
Marktmacht fusionierter Unternehmen kann dazu führen, dass der Wettbewerbsdruck
aufgehoben wird und in deren Folge höhere Preise und Nachteile für Patientinnen
und Patienten sowie die Gesundheitssysteme entstehen. In fünf Fällen wurden
Bedenken angemeldet. Davon wurden vier Zusammenschlüsse genehmigt, nachdem die
Unternehmen zu Änderungen an ihren Plänen bereit waren.
Die Quintessenz des Berichts ist: Die Überwachung und
Klärung der wettbewerbs- und kartellrechtlichen Auslegung durch die
Wettbewerbsbehörden ist notwendig, damit der Preis- und Innovationswettbewerb unterstützt
wird, die Arzneimittelmärkte funktionieren und der Zugang zu erschwinglichen
und innovativen Arzneimitteln verbessert wird.
Nicht im Bericht steht: Die staatliche Regulierung ist für
faire Arzneimittelpreise mindestens ebenso wichtig. In Deutschland helfen
regulatorische Instrumente wie die frühe Nutzenbewertung, die Erstattungspreis- und Festbetragsregelungen, die Importquote oder
auch die Möglichkeit, Rabattverträge abschließen zu können, dass an Ausgaben für Arzneimittel jedes Jahr ein zweistelliger Milliardenbetrag eingespart werden kann. Und dies ohne Versorgungseinbußen.
Potenzial zur Durchsetzung von Arbeits- und Sozialversicherungsrechten nutzen.
Die im Auftrag des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (EMPL) des Europäischen Parlaments erstellte Studie „The European Social Security Pass“ (ESSPASS) untersucht das Potenzial des Europäischen Sozialversicherungspasses zur Durchsetzung von Arbeits- und Sozialversicherungsrechten in Europa. Ihr Tenor: Der Mehrwert des ESSPASS liegt vor allem im Bereich der Entsendung von Beschäftigten. Der europäische Sozialversicherungspass kann wesentlich dazu beitragen, betrügerische Praktiken zu unterbinden und das Bewusstsein der entsandten Beschäftigten für deren Arbeits- und Sozialschutzrechte zu stärken sowie die Mobilität zu erleichtern. Gleichzeitig kann er helfen, den Verwaltungsaufwand von Sozialversicherungsträgern, Arbeitgebern und Prüfbehörden erheblich zu senken.
Zentraler Baustein der ESSPASS-Initiative ist die Einführung von digitalen Nachweisen (Digital Credentials), die sich der EU-DI-Wallet (European Digital Identity Wallet) bedienen. Diese aus der eIDAS 2.0-Verordnung resultierende Initiative soll in den kommenden Jahren die Mobilität innerhalb der Europäischen Union (EU) weiter erleichtern und perspektivisch zwei Verwaltungsverfahren aus dem Bereich der Sozialversicherung digital zugänglich machen: Das Portable Dokument "A1" für entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die europäische Krankenversicherungskarte (EKVK) für die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung.
Aktuell wird durch das Konsortium DC4EU ein Pilotverfahren auf europäischer Ebene durchgeführt. Im Bereich der Sozialversicherung hat die Deutsche Rentenversicherung Bund zusammen mit Partnerinstitutionen aus Österreich und Dänemark die Federführung bei der Entwicklung der digitalen A1-Entsendebescheinigung inne. Die Deutsche Verbindungsstelle Krankenversicherung - Ausland (DVKA) ist an der Entwicklung Europäischen Krankenversicherungskarte beteiligt. Die Pilotprojekte sollen bis April 2025 abgeschlossen sein.
In der Studie wird gefordert, das Potenzial des ESSPASS umfassend zu nutzen und über den derzeit geplanten Anwendungsbereich hinauszugehen. So wird empfohlen, die Dokumentation der arbeitsrechtlichen Ansprüche von entsandten Beschäftigten möglichst noch in der Pilotphase mit in den ESSPASS aufzunehmen. Dies gilt insbesondere für die Entsendemeldung, die die Mitgliedstaaten im Rahmen der Durchsetzungsrichtlinie verlangen. Die Studie verweist hierbei auf die von der Kommission in ihrem Arbeitsprogramm 2024 angekündigten Schritte zur Digitalisierung und Standardisierung der Entsendemeldung. Dies würde eine Einbeziehung erleichtern.
Eine Einbeziehung nationaler Arbeitskarten oder Sozialausweise wird hingegen als schwieriger eingeschätzt. Deren Anwendungsbereiche divergieren und beinhalten viele unterschiedliche Informationen. Auch wird die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, sich auf eine Standardisierung dieser nationalen Praktiken einzulassen, skeptisch bewertet. Trotz dieser Schwierigkeiten wird in der Studie empfohlen, zu prüfen, inwieweit diese Nachweise in den ESSPASS aufgenommen werden können. Dies gilt insbesondere für den Bausektor, der stark von der Entsendung betroffen ist.
EU-Entscheidungsträger diskutieren über psychische
Gesundheit am Arbeitsplatz.
Laut der Europäischen Agentur für Sicherheit und
Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) gehören
psychosoziale Risiken zu den größten Herausforderungen für die Sicherheit und
Gesundheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Seit der Covid-19-Pandemie
scheinen diese noch zugenommen zu haben. Im Rahmen einer Umfrage der
EU-OSHA aus dem Jahr 2022 berichteten 27 Prozent der europäischen Beschäftigten,
in den vorangegangenen zwölf Monaten unter arbeitsbedingtem Stress,
Depressionen oder Angstzuständen gelitten zu haben. Dies kann auch Konsequenzen
für die physische Gesundheit haben. Es besteht das Risiko von Herz-Kreislauf-,
Muskel- oder Skelett-Erkrankungen.
Die belgische Ratspräsidentschaft widmete dem Thema der
mentalen Gesundheit am Arbeitsplatz eine eigenständige High-Level-Konferenz, die am 30. und 31. Januar stattfand. Die Europäische
Kommission und Vertreterinnen und Vertreter der Mitgliedstaaten kamen dort
zusammen, um mit den europäischen Sozialpartnern sowie Expertinnen und Experten
für Sicherheit und Gesundheitsschutz Präventionsmaßnahmen zur Förderung der
psychischen Gesundheit von Beschäftigten zu erörtern.
Bereits im Juni 2023 hatte die Europäische Kommission
eine Erklärung zu ihrem
ganzheitlichen Ansatz in Sachen psychische Gesundheit veröffentlicht, welche
auch Initiativen und Kampagnen zum Umgang mit psychosozialen Risiken am
Arbeitsplatz umfasst. Der Rat hat im Oktober 2023 eigene Schlussfolgerungen zum
Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit und Beschäftigung veröffentlicht.
Schwerpunkt war insbesondere die Bekämpfung von prekären Arbeitsverhältnissen
als Mittel zur Prävention von psychosozialen Risiken (siehe auch News
11/2023). Beim Europäischen Parlament steht die psychische
Gesundheit, auch am Arbeitsplatz, schon länger auf der Agenda.
Im Rahmen der High-Level Konferenz äußerten sich EU-Entscheidungs-
und Interessenträger auch zu einem möglichen regulatorischen Ansatz, um
psychosozialen Risiken am Arbeitsplatz zu begegnen. Aus Sicht von Nicolas
Schmit, EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, könnte sich ein europäisches
Instrument oder eine Richtlinie als nützlich erweisen, um das Thema psychische
Gesundheit aufzuwerten und zu verbessern. Als Spitzenkandidat der
S&D-Fraktion ist Nicolas Schmit auch im Rennen um den Posten als nächster Kommissionspräsident.
Es scheint also nicht ausgeschlossen, dass eine neue Kommission der psychischen
Gesundheit nicht nur einen hohen Stellenwert einräumt, sondern auch eine legislative
Maßnahme ins Auge fasst.
Strategie zum Aufbau von Kapazitäten auf den Weg
gebracht.
Im
Januar 2024 hat die Umsetzung der Strategie zum Aufbau von
Kapazitäten 2024–2030 der Europäischen Arbeitsbehörde (ELA) begonnen. Der
Kapazitätsaufbau der ELA leitet sich aus ihrer Gründungsverordnung ab und hat
zum Ziel, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) zu unterstützen sowie
die Zusammenarbeit, den Wissensaustausch und das Voneinander lernen zwischen
den Mitgliedstaaten zu verbessern. Ziel dabei ist es, die konsistente Anwendung und die
Durchsetzung von EU-Rechtsvorschriften zur Arbeitskräftemobilität zu fördern.
Der Aufbau von Kapazitäten meint den Prozess der Verbesserung von
Kenntnissen, Fähigkeiten und Kompetenzen von Personen, Organisationen oder
Systemen, damit diese ihre Aufgaben wirksam erfüllen können. Die in der Strategie
vorgestellte Vision der ELA ist, die Bemühungen um den Kapazitätsaufbau in den
Mitgliedstaaten bis 2025 koordinierend zu unterstützen und zu beaufsichtigen.
Bis 2030, dem Enddatum der Strategie, soll sich die ELA als Referenzpunkt und
wichtiger Partner bezüglich des Kapazitätsaufbaus im Kontext der
Arbeitskräftemobilität in Europa etabliert haben.
Die flexible Unterstützung durch verschiedene
Maßnahmen, die die ELA im Rahmen der Strategie plant, basiert auf den drei
Prinzipien Wissen, Vernetzung und technischer Fokus. Erstens wird die ELA Informationen
über die Anwendung und Durchsetzung des EU-Rechts zur Arbeitskräftemobilität
sammeln und weitergeben. Zweitens werden Netzwerke zwischen den Mitgliedstaaten
und an der Arbeitskräftemobilität beteiligten Akteuren gefördert. Drittens wird
der Schwerpunkt auf fortschrittlichen Instrumenten und Technologien für den
elektronischen Informationsaustausch zwischen nationalen Einrichtungen liegen. Adressiert
wird hier auch der elektronische Austausch von Sozialversicherungsdaten
(EESSI). Hier möchte sich die ELA in die laufenden Arbeiten einbringen und
diese unterstützen.
Der Kapazitätsaufbau der ELA nimmt alle an
Arbeitsmobilität beteiligten Akteure in den Blick, darunter Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter nationaler Institutionen, Behörden und Agenturen, etwa in Arbeits‑,
Sozialversicherungs-, Steuer- und Verkehrsbehörden. Auch die Sozialpartner,
besonders Arbeitgeber, die in Sektoren mit hoher
Arbeitsmarktmobilität tätig sind, werden sowohl als Zielgruppe als auch als
Kooperationspartner identifiziert. Davon ausgehend sollen die Schulungsbedarfe
der Zielgruppen den Ausgangspunkt für die Konzeption spezifischer Maßnahmen zum
Kapazitätsaufbau bilden. Eine Pilotstudie zum Schulungsbedarf wurde bereits zwischen
Dezember 2022 und Februar 2023 durchgeführt.
Die
Angebote zum Kapazitätsaufbau der ELA sollen individuell an die spezifischen
Bedürfnisse und Zielgruppen angepasst werden. Entsprechend umfasst die
Strategie verschiedene sektorale und sektorübergreifende Aktivitäten mit dem
Ziel, Verständnis und beidseitiges Lernen zu fördern, darunter verschiedene
Arten von Schulungsprogrammen, Studienbesuche und Austauschprogramme, den
Austausch von Wissen und bewährten Praktiken sowie Workshops. Ferner soll es
eine Online-Plattform geben, auf der interaktive Module, E-Learning-Kurse,
Webinare und andere Bildungsmaterialien zugänglich sind.
Die Strategie soll schrittweise bis 2030 umgesetzt, laufend sowohl
qualitativ als auch quantitativ evaluiert und gegebenenfalls angepasst werden.
Die im Laufe eines Jahres geplanten Maßnahmen werden in jährlichen
Aktivitätsplänen dargestellt.
Sichere und bezahlbare Arzneimittelversorgung für Europa
sichern
Die Arzneimittelreform der Europäischen Union (EU) nimmt im Europäischen
Parlament Fahrt auf, nachdem Abgeordnete des Gesundheitsausschusses ihre
zahlreichen Änderungsanträge zu den Berichtsentwürfen der beiden
Berichterstatter Tiemo Wölken (S&D, DE) und Pernille Weiss (EVP, DK)
eingebracht haben. Insgesamt liegen 3563 Änderungsanträge zum Berichtsentwurf
zum Verordnungsvorschlag und zum Richtlinienvorschlag vor. Grundsätzlich sind die Anzahl und inhaltliche Bandbreite der eingereichten
Änderungsanträge sehr groß. Während die Fraktionen links der Mitte, also S&D,
Grüne und Linke eher einen industriekritischen Blick auf die Berichtsentwürfe
haben, sind die Änderungsanträge von EVP, der liberalen Renew, EKR und ID eher
industriefreundlich.
Die DSV verfolgt die politischen Diskussionen im Parlament und
weist in ihrem Statement nochmals auf wesentliche Punkte zur EU-Arzneimittelreform hin:
Erfreulicherweise sprechen sich viele Abgeordnete für mehr
Transparenz bei der Finanzierung von Arzneimittelinnovationen aus. Demnach
sollen die Arzneimittelhersteller künftig nicht nur in Datenbanken offenlegen,
ob und wie viel finanzielle Unterstützung sie von öffentlichen Stellen erhalten
haben, sondern darüber hinaus deutlich machen, wie viel Geld sie für die
Erforschung und Entwicklung neuer Arzneimittel aufwenden. Dies ist entscheidend
für Preisfestsetzungs- und Erstattungsverfahren.
Die politischen Differenzen zwischen den Fraktionen zeigen
sich insbesondere bei den Änderungsanträgen zur Länge und der Staffelung von
Schutzfristen sowie bei den zur Diskussion stehenden Anreizen zur Herstellung
von Arzneimitteln. Angesichts dessen warnt die DSV vor längeren
Exklusivitätszeiten für neue Arzneimittel. Die zum Teil vorgeschlagenen
Verlängerungen werden massive Auswirkungen auf die Arzneimittelpreise haben, da
sie die Monopole für Blockbuster-Arzneimittel weit über den derzeitigen
Rechtsrahmen hinaus ausdehnen und erhebliche Auswirkungen auf die
Kostenbelastung der Gesundheitssysteme haben – und damit zulasten einer
bezahlbaren Versorgung der Bürgerinnen und Bürger gehen.
Der Erhöhung der Transparenz über den Ablauf von
Schutzfristen wird von den Abgeordneten unterschiedlicher Wert beigemessen.
Während die liberal-konservativen Fraktionen mehr Transparenz über Markt- und
Datenschutz ermöglichen wollen, gehen zum Beispiel die Grünen darüber hinaus
und fordern Transparenz auch über Patenschutzfristen. Die DSV teilt diese
Forderung. Es ist sinnvoll, dass die Schutzfristen von regulatorischem Schutz,
aber auch vom Patentschutz öffentlich einsehbar sein sollten, um den Wettbewerb
von Generika und Biosimilars zu fördern.
Die Gesundheitsabgeordneten sind sich grundsätzlich einig
über die Notwendigkeit einer verbesserten Überwachung von
Arzneimittelengpässen. Hier fordern alle Fraktionen eine stärkere Überwachung,
zum Beispiel über das European Medicine Verification System (EMVS). Die DSV
unterstützt die Vorschläge, das EMVS für ein umfassendes Arzneimittelmonitoring
zu nutzen, um Liefer- und Versorgungsengpässe frühzeitig zu erkennen. Zudem
sollten die Arzneimittelhersteller verstärkt dazu verpflichtet werden, Engpässe
bei Arzneimitteln zu melden. In Bezug auf die Regelungstiefe gibt es in den
eingegangenen Änderungsanträgen unterschiedliche Forderungen zwischen den
links-grünen und liberal-konservativen Fraktionen.
Das gesamte Statement der DSV ist hier abrufbar.
Die Berichterstatter und Schattenberichterstatter der
jeweiligen Fraktionen im Europäischen Parlament verhandeln nun über inhaltliche
Kompromisse. Am 7. März sollen die Berichtsentwürfe dem Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI) zur
Abstimmung vorgelegt werden. Das Plenum wird voraussichtlich am 10. April über
die beiden Berichtsentwürfe abstimmen. Dieser Zeitplan kann sich jederzeit
ändern und es ist weiterhin unklar, ob sich das Europäische Parlament noch in
dieser Legislatur auf eine gemeinsame Position einigen kann. Angesichts der
Vielfalt der Meinungen scheint dies eine Herausforderung zu sein. Im Rat haben
die inhaltlichen Beratungen in der Ratsarbeitsgruppe Gesundheit erst kürzlich begonnen.
Die EU-Abgeordneten legen ihr Verhandlungsmandat fest.
Die Europäische Kommission hat am 14. Juli mit dem
Verordnungsvorschlag zur Überarbeitung der EU-Quecksilberverordnung das Ziel
formuliert, Dentalamalgam ab 2025 in der Europäischen Union (EU) zu verbieten. Das
Europäische Parlament (EP) weicht von dieser Forderung nicht ab und
verabschiedete am 17. Januar offiziell seine Position zum geplanten EU-Quecksilberverbot. Die Abgeordneten nahmen den Bericht von
Berichterstatterin Marlene Mortler (EVP, DE) mit großer Mehrheit an: 550
Ja-Stimmen, 14 Nein-Stimmen und 64 Enthaltungen.
Politische Differenzen über den Zeitpunkt des Verwendungs-,
Herstellungs- und Exportverbot von Dentalamalgam gab es bis zuletzt auch noch
in der Abstimmung des Plenums. So versuchte die konservative EVP mit zwei
Änderungsanträgen im Plenum noch ein Verbot von Dentalamalgam ab dem 31.12.2026
durchzusetzen. Doch mit dieser Forderung fand die Fraktion keine Mehrheit. Auch
vorab im Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und
Lebensmittelsicherheit (ENVI) war es ihr nicht gelungen, ein späteres Verbot
durchzusetzen. Die Europaabgeordneten sprechen sich demnach für ein
Dentalamalgam-Verbot ab dem 1.1.2025 aus. Viel Zeit bleibt nicht. Im Rat wird
das Dossier in der Ratsarbeitsgruppe für Umwelt behandelt. Dort wurde am 18.
Januar ein Kompromisstext vorgelegt.
Die DSV hatte sich mit einer Stellungnahme zur Überarbeitung der
EU-Quecksilberverordnung positioniert. Grundsätzlich begrüßt die DSV das Ziel,
den Umwelt- und Gesundheitsschutz zu verbessern. Um eine reibungslose Umsetzung
des Verbots von Dentalamalgam zu gewährleisten, sollte aus Sicht der DSV der
Zeitplan überdacht werden und erst im Jahr 2030 erfolgen. Schließlich hat das
Verbot in einigen Mitgliedstaaten vertrags- und versorgungspolitische
Implikationen. In Deutschland verursacht es eine gesundheitspolitische
Grundsatzdiskussion um zuzahlungsfreie Füllstoffe in der Versorgung. Sie sind
Teil des Leistungskatalogs der GKV, der auch weiterhin erhalten bleiben muss.
Dentalamalgam – ein Füllungsmaterial aus
Quecksilberlegierungen – wird für zahnmedizinische Behandlungen verwendet und
ist eines der letzten noch verbleibenden Form von Quecksilber in der EU. In
Deutschland wurden im Jahr 2021 rund 47 Millionen Zahnfüllungen bei den
gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet. Davon waren 1,4 Millionen
Amalgamfüllungen – ein Anteil von rund 3,2 Prozent. Der Verwendung von
Dentalamalgam ist in der gesamten EU, sowie in Deutschland stark rückläufig.
Dies liegt vor allem an der Umsetzung eines völkerrechtlichen Vertrages - dem
Minamata-Übereinkommen. Das Minamata-Übereinkommen ist am 16. August 2017 in
Kraft getreten und wurde bisher von der EU und 143 Ländern, darunter alle
EU-Mitgliedstaaten, ratifiziert. Es wird seit dem 1. Januar 2018 durch die
Quecksilber-Verordnung (EU) 2017/852 umgesetzt. Seitdem gilt in der EU ein
Dentalamalgam-Verbot bei Milchzähnen, Kindern unter 15 Jahren sowie schwangeren
und stillenden Patientinnen.
Für stabile Lieferketten und eine starke europäische
Pharmaindustrie.
Die Europäische Kommission hat am 16. Januar zu einer Allianz
für kritische Arzneimittel aufgerufen. Erbaut werden soll „die neue
industrielle Säule der Europäischen Gesundheitsunion“. Für die Ewigkeit gebaut
wird sie nicht. Das Projekt - gemeint ist ein Netzwerk von Europäischer
Kommission, nationalen Regierungen und Gebietskörperschaften, der Industrie und
der Zivilgesellschaft – ist zunächst auf fünf Jahre angelegt. Bis zum 24.
Februar haben Interessierte – besonders angesprochen sind Interessengruppen aus
Pharmaindustrie und öffentlichem Gesundheitswesen – die Möglichkeit, über die Webseite der Allianz beizutreten. Spätere Beitritte sind nicht ausgeschlossen.
Die Allianz kommt nicht überraschend. Angekündigt wurde sie im
Oktober des vergangenen Jahres in der Mitteilung
der Europäischen Kommission zur Bekämpfung von Arzneimittelengpässen in der EU als mittel- und langfristige Maßnahme, um die Sicherheit des Arzneimittelangebots zu stärken und die Medikamentenknappheit zu bekämpfen. Im
Fokus stehen für die Versorgung besonders wichtige – kritische – Medikamente.
Dazu hatte die Europäische Kommission am 12. Dezember des letzten Jahres eine
Liste veröffentlicht (siehe auch DSV-News
12/2023). Im neuen Netzwerk sollen vornehmlich zielgerichtete
Konsultationen der Mitglieder untereinander und damit geeignete Problemlösungen
ermöglicht werden. Dazu müssen die bestehenden Probleme identifiziert und die
geeigneten Maßnahmen bestimmt werden. Die relevanten Ansprechpartnerinnen und
-partner sitzen dazu in der Allianz „an einem Tisch“. Erwartet werden von ihnen
Empfehlungen und Ratschläge für schnellere Fertigungs-, Vertrags- oder
Finanzierungslösungen, die letztlich auch zu einer größeren strategischen
Autonomie der Europäischen Union (EU) beitragen.
Ein erstes Treffen der Allianz für kritische Arzneimittel
ist für Ende April geplant. Hier soll ein Arbeitsplan verabschiedet werden.
Dann geht es in die Arbeitsgruppen. Als inhaltlicher Impuls wird derzeit von
der Europäischen Kommission eine Analyse der kritischen Arzneimittel mit den
größten Schwachstellen in der Lieferkette erarbeitet.
Mit der Allianz für kritische Arzneimittel wird der Europäischen
Gesundheitsunion, die im November 2020 begrifflich mit einem Paket aus drei
Legislativvorschlägen zum Ausbau des EU-Rahmens für Gesundheitssicherheit ins
Leben gerufen worden und seitdem kontinuierlich erweitert worden ist, nun ein
weiterer, industriell ausgerichteter Baustein hinzugefügt. Denn neben der
Vermeidung von Engpässen und mehr Versorgungssicherheit geht es bei der neuen
Initiative auch darum, die EU-Arzneimittelbranche zu stärken.
Belgische
Ratspräsidentschaft sucht neuen Kompromiss
In der
letzten Sitzung des Ausschusses der Ständigen Vertreter (AStV) unter spanischer
Ratspräsidentschaft am 22. Dezember 2023 hat die im
Trilog gefundene vorläufige
Einigung der Verhandlungsführerinnen und -führer des Europäischen Parlaments
und Rats über ein europäisches Gesetz zur Plattformarbeit keine ausreichende
Unterstützung erhalten. In der Sitzung hat sich insbesondere Frankreich gegen den
Kompromiss ausgesprochen. Die Formulierung zur widerlegbaren
Beschäftigungsvermutung, die der Statusfeststellung von Plattformbeschäftigten
zugrunde liegen soll, weiche danach zu weit von der Position des Rates ab und werde zu einer pauschalen Neueinstufung führen, auch von „echten"
Selbstständigen. Frankreich erfährt hierbei Unterstützung von den baltischen
Staaten, Italien, der Tschechischen Republik und Ungarn.
Der
ursprüngliche Kommissionsentwurf sah
vor, dass der tatsächliche Beschäftigungsstatus für die widerlegbare Vermutung
anhand von fünf Kriterien geprüft wird. Danach sollte die Vermutung ausgelöst
werden, wenn zwei der fünf Kriterien erfüllt sind. Der Rat erhöhte den
Schwellenwert auf drei von sieben Kriterien, während die ursprüngliche Haltung
des Parlaments darin bestand, die Kriterien ganz zu streichen und sich auf die
tatsächlichen Arbeitsbedingungen zu konzentrieren. In der vorläufigen Einigung
wird nicht mehr von Kriterien gesprochen, sondern von fünf Indikatoren, die
sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs orientieren sollen.
Die widerlegbare Vermutung soll dann ausgelöst werden, wenn mindestens zwei
Indikatoren vorliegen.
Die
Mitgliedstaaten um Frankreich kritisieren die Formulierungen der einzelnen
Kriterien in der vorläufigen Einigung als zu weit gefasst, sodass einige von
ihnen systematisch erfüllt würden. Des Weiteren betont Frankreich, dass die in
der vorläufigen Einigung vorgesehene Rolle der zuständigen nationalen Behörden
bei der Vorlage von Beweisen und der Auslösung der widerlegbaren Vermutung nicht
die nationalen administrativen und rechtlichen Gegebenheiten berücksichtige. So
kann in Frankreich nur die Justiz eine Person als Arbeitnehmer neu einstufen.
Die
Verhandlungsführerin des Europäischen Parlaments, Elisabetta Gualmini (S&D, IT),
betont die Ausgeglichenheit des zunächst gefundenen Kompromisses und hebt die Bedeutung
der Richtlinie zur Plattformbeschäftigung für viele Erwerbstätige hervor. Dabei
ist weiterhin das Ziel des Parlaments, die Richtlinie in dieser
Legislaturperiode zu verabschieden. Das Europäische Parlament werde sich daher bis
zur letzten Minute dafür einsetzen, sich mit dem Rat zu einigen. Grundlage
aller weiteren Verhandlungen müsse jedoch die vorläufige politische Einigung
sein. Die französische Seite fordert hingegen, die Diskussionen über eine
Arbeitsversion wieder aufzunehmen, die der allgemeinen Ausrichtung des Rates so
nahe wie möglich kommt.
Für
die belgische Ratspräsidentschaft hat der Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens
vor der Europawahl höchste Priorität. Aufgrund der hierfür knappen Zeit müsse der
vorläufige Text, obwohl er in seiner Gesamtheit für die Mehrheit der
Mitgliedstaaten nicht akzeptabel ist, als Grundlage für weitere Verhandlungen
dienen. Die belgische Ratspräsidentschaft hat die Mitgliedstaaten gebeten, zu strittigen
Bereichen Stellung zu nehmen. Diese betreffen die Indikatoren für die Auslösung
der widerlegbaren Vermutung, Ausnahmeregelungen, der Ermessensspielraum der
nationalen Behörden im Falle einer fehlerhaften Einstufung, die Auswirkungen
von Neueinstufungsentscheidungen, die Folgen einer fehlenden oder erfolglosen
Widerlegung und der präskriptive Charakter von Begleitmaßnahmen.
Gleichzeitig
hat Belgien einen ersten Vorschlag für die Neuformulierung der Indikatoren
unterbreitet, die der gesetzlichen Vermutung zugrunde liegen. Unverändert gegenüber
der vorläufigen Einigung bleiben darin die ersten beiden Kriterien zur Festlegung
der Vergütung und der Überwachung der Arbeitsleistung. Die nächsten drei
Kriterien sollen jedoch enger gefasst werden und sich auf die Frage
konzentrieren, ob eine digitale Arbeitsplattform die Freiheit des
Plattformbeschäftigten einschränkt, die eigene Arbeit zu organisieren. Dies
umfasst die Annahme und Ablehnung von Aufgaben, die Arbeitszeit und die
Möglichkeit eigene Beschäftigte oder Subunternehmen einzusetzen. Auch soll in
den Erwägungsgründen aufgeführt werden, dass die Indikatoren nicht für
Situationen gelten, in denen die Personen, die Plattformarbeit leisten, echte
Selbständige sind.
Um den Gesetzgebungsprozess
noch in dieser Legislaturperiode abschließen zu können, müssen sich Rat und
Parlament bis Ende Februar einigen.
Die neue Richtlinie erzwingt auch in Deutschland
Anpassungen.
Am 14. Dezember haben der Rat und das Europäische Parlament
eine politische Einigung zum Gesetzgebungsvorhaben über die Haftung für
fehlerhafte Produkte erzielt. Damit wird das geltende Recht hinsichtlich der
zivilrechtlichen Haftung aktualisiert. Dies war notwendig, um der Tatsache
Rechnung zu tragen, dass heute viele Produkte digitale oder KI-Funktionen
haben. Dem entsprach das geltende Recht nur unvollkommen. Freie und quelloffene
Software ist aber vom Anwendungsbereich ausgenommen.
Darüber hinaus reagiert die Europäische Union (EU) auch auf
die Zunahme des Online-Einkaufs. Künftig können auch Online-Plattformen haftbar
gemacht werden, wenn sie den Verkauf des Produkts – auch aus Drittländern - ermöglicht
haben. Die EU ebnet auch den Weg für einen Übergang zu einer mehr
kreislauforientierten Wirtschaft, indem zum Beispiel auch Unternehmen und
Personen, die ein Produkt repariert oder nachgerüstet haben, in die Haftung für
Schäden genommen werden können.
Der neue Rechtsrahmen stellt sicher, dass es immer ein in
der EU ansässiges Unternehmen gibt – ob Hersteller, Importeur oder
Bevollmächtigter – der für ein schadhaftes Produkt haftbar gemacht werden kann.
Dabei muss es sich nicht nur um materielle Schäden handeln. Auch medizinisch
anerkannte Schäden an der psychischen Gesundheit können
Entschädigungsleistungen auslösen. Zu diesem Zweck ist auch die Haftungsfrist
in besonderen Ausnahmefällen auf 25 Jahre verlängert worden. Eine solche
Ausnahme soll zum Beispiel dann gegeben sein, wenn die Schadenssymptome nur
langsam auftreten.
Auch nach Ansicht der DSV ist mit der Einigung auf einen
Kompromisstext ein wesentlicher Schritt gemacht worden, Verbraucherinnen und
Verbraucher in einer sich verändernden Welt besser zu schützen. Besonders
positiv zu bewerten sind jedoch die Regelungen, die den Zugang zu
Entschädigungen erleichtern. Künftig sollen die Gerichte die Unternehmen
anweisen können, die „notwendigen und verhältnismäßigen“ Beweise offenzulegen.
Die Mangelhaftigkeit eines Produktes kann dann vermutet werden, wenn der
geschädigte Verbraucher insbesondere wegen der Komplexität des Produkts mit
übermäßigen Schwierigkeiten konfrontiert wäre und das Produkt wahrscheinlich
fehlerhaft ist. Heute müsste er nachweisen, dass eine Fehlerhaftigkeit des
Produktes gegeben war und dass der erlittene Schaden durch diesen Fehler
verursacht worden ist.
Die formelle Verabschiedung der vorgeschlagenen neuen
Richtlinie durch Rat und Europäisches Parlament wird in Kürze erfolgen (die Endfassung des Textes liegt noch nicht vor). Die
neuen Regeln gelten dann für Produkte, die 24 Monate nach Inkrafttreten der
Richtlinie in Verkehr gebracht werden. Die Bundesregierung wird in der Folge
das deutsche Produkthaftungsrecht anzupassen haben. In manchen Punkten dürfte
dies unkompliziert sein, zum Beispiel bei der Umstellung der Verjährung des
Haftungsanspruchs auf neue Fristen. Deutlich schwieriger stellt sich dies bei
den Erleichterungen der Beweislast dar. Im deutschen Recht herrscht ein anderer
juristischer Sprachgebrauch, in den die Inhalte der neuen EU-Richtlinie gefasst
werden müssen.
Beiträge zur Sozialversicherung brauchen besonderen Schutz.
Die neunte Legislaturperiode neigt sich ihrem Ende zu.
Letzte Gesetzesvorschläge warten noch auf ihren Abschluss. Darunter auch der
Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie zur Harmonisierung bestimmter
Aspekte des Insolvenzrechts. Während im Rat in der zuständigen Arbeitsgruppe
derzeit Kompromisstexte erörtert werden, sieht man im Europäischen Parlament –
und nicht nur dort – dem Bericht von Pascal Arimont (BE, EVP) im zuständigen
Rechtsausschuss (JURI) entgegen. Dieser ist für Anfang März angekündigt. Man ist also im Zeitplan.
Mit dem Richtlinienvorschlag sollen unter anderem die
Bedingungen für das Rechtsinstrument der Anfechtungsklage vereinheitlicht
werden. Darüber hinaus sollen Vermögenswerte, zum Beispiel durch
Erleichterungen des Zugangs von Insolvenzverwaltern zu Bankkontoinformationen, leichter
aufgespürt werden können. Für Kleinstunternehmen soll ein vereinfachtes
Liquidationsverfahren eingeführt werden. Ein neues „Pre-Packverfahren“ soll zudem
ermöglichen, Insolvenzen schneller abzuwickeln, indem das betreffende Unternehmen
mit dem Ziel der Fortführung des Geschäfts an einen Bestbieter verkauft wird.
Die Deutsche Sozialversicherung hatte im Laufe der
politischen Beratungen darauf hingewiesen, dass die Beitragsmittel der
Sozialversicherungsträger in Insolvenzverfahren besonderen Schutz brauchen. Die
Beiträge müssten für die Versorgungsaufgaben der Sozialversicherung zur
Verfügung stehen und dürften nicht in Insolvenzmassen aufgehen, um dort anderen
Zwecken wie der Sanierung von Insolvenzschuldnern zu dienen. Zu prüfen wäre, ob
- in Anlehnung an den EuGH (Urteil vom 17. September 2020, Aktenzeichen C-212/19)
– sogar von unerlaubter Beihilfe ausgegangen werden müsse, da auf die Befreiung
von Soziallasten unter den Begriff der Beihilfe falle (siehe hierzu auch DSV-News
03/2023).
Diese Bedenken wurden auch vom mitberatenden Ausschuss für Wirtschaft
und Währung (ECON) des Europäischen Parlaments in seiner Stellungnahme vom 30. November 2023 aufgegriffen. Entscheidend für den Standpunkt, den das
Europäische Parlament plangemäß Ende April einnehmen wird, ist aber die
Auffassung des JURI als für das Dossier zuständigen Ausschuss. Auf den Entwurf des
Berichterstatters und die folgenden Ausschussberatungen wird gespannt
gewartet.
Per- und Polyfluoralkylsubstanzen sollen beschränkt werden
Bereits im Januar 2023 haben sich Deutschland, Dänemark, Norwegen, Schweden
und die Niederlande mit einem Vorschlag für ein umfassendes Verbot von Per- und
Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS) an die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) - der für die Verwaltung und Regulierung von Chemikalien zuständigen EU-Agentur - gewandt. Bei PFAS handelt es sich um eine Gruppe von tausenden synthetischen
Chemikalien, die aufgrund ihrer Langlebigkeit auch als „Ewigkeitschemikalien“
bezeichnet werden. Die in ihnen enthaltenen Kohlenstoff-Fluor-Bindungen zählen
zu den stärksten chemischen Bindungen in der organischen Chemie. Deshalb ist
ihr Abbau nicht nur sehr schwierig, sondern auch sehr kostenintensiv.
PFAS werden immer häufiger im Grundwasser, Oberflächenwasser und im Boden
festgestellt. Insbesondere ihre Verbreitung in der Umwelt ist ein großes
Problem. Eine internationale Journalisten-Kollaboration, das „Forever Pollution Project“, veröffentlichte im Jahr 2023, dass mehr als 17.000
Standorte in ganz Europa bereits durch PFAS kontaminiert sind, darunter 2.100,
bei welchen der Grad der Verschmutzung bereits gesundheitsgefährdend für die
exponierten Personen sei. Zudem gebe es weitere 21.000 Orte, bei denen eine
relevante Verschmutzung zu vermuten ist, die auf aktuelle oder industrielle
Aktivitäten zurückzuführen sei. Auch für die menschliche Gesundheit stellen
PFAS eine Gefahr dar. Sie werden mit Krebs, Diabetes und Übergewicht in
Verbindung gebracht. Eine Studie aus Januar 2024 zeigt außerdem, dass sich die Exposition gegenüber
PFAS bereits auf ungeborene Kinder auswirken kann.
Die Industrie hat schon mehrfach darauf hingewiesen, dass PFAS
Eigenschaften haben, die für sie schwer ersetzbar sind. So sind sie dafür
verantwortlich, dass Produkte wasser-, schmutz- oder fettabweisend sind. Auch
in der Gesellschaft sind Produkte, die PFAS enthalten, weit verbreitet. Sie
finden sich beispielsweise in Outdoor-Kleidung, Pfannen, Kosmetik, Verpackungen
für Fast Food oder auch Feuerlöschmitteln. Ein umfassendes Verbot aller PFAS
hätte daher weitreichende Auswirkungen auf industrielle Prozesse und die
Hersteller vieler Produkte.
In der Vergangenheit gab es bereits auf EU-Ebene mehrere Vorschläge,
verschiedene spezifische PFAS zu beschränken. Der Anfang 2023 eingereichte
Antrag ist jedoch der bisher weitreichendste. Die EU-Mitgliedstaaten und Norwegen
fordern eine pauschale Beschränkung der Herstellung, des Inverkehrbringens
sowie der Verwendung von PFAS. Seit dem 7. Dezember 2023 analysieren die
wissenschaftlichen ECHA-Ausschüsse den Vorschlag und die im Rahmen der
vorgesehenen Konsultation eingegangenen Kommentare. Ihre hierauf basierenden
Stellungnahmen bilden die Basis der anschließenden Diskussion der Kommission
mit den Mitgliedstaaten. Diese entscheiden dann gemeinsam über eine mögliche
rechtlich bindende Beschränkung. Um Alternativen zu PFAS zu etablieren, sieht
die geforderte Beschränkung dabei verschiedene Übergangsfristen vor.
Eine gesonderte Beschränkung von spezifischen PFAS in Feuerlöschschaum
hatte die ECHA bereits im Januar 2022 vorgeschlagen. Hierzu berät sich die
Kommission bereits mit den Mitgliedstaaten. Einen Grenzwert für
PFAS-Konzentrationen im Wasser legt zudem die im Jahr 2020 neugefasste Wasserqualitätsrichtlinie
(EU) 2020/2184 fest. Dieser gilt ab Januar 2026.
Das Europäische Parlament fordert eine Stärkung und
Erweiterung des Mandats.
Am 18.
Januar 2024 nahm das Europäische Parlament einen Entschließungsantrag zur Überarbeitung des Mandats der Europäischen Arbeitsbehörde (ELA) an.
In der Woche zuvor wurde der zugrunde liegende Bericht vom Ausschuss für
Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (EMPL) bereits gebilligt. Die ELA
wurde 2019 eingerichtet, um die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) und
die Europäische Kommission dabei zu unterstützen, die EU-Vorschriften über
Arbeitskräftemobilität und die Koordinierung der sozialen Sicherheit auf faire,
einfache und wirksame Weise durchzusetzen.
In der Entschließung fordern die Abgeordneten die Europäische
Kommission auf, im Zuge ihrer Bewertung des Mandats und der operativen
Kapazitäten der ELA einen Vorschlag für eine Überarbeitung der Gründungsverordnung der ELA – Verordnung (EU) 2019/1149 – vorzulegen, der die Befugnisse
und Kompetenzen der ELA und somit ihren Mehrwert für die nationalen Behörden
stärkt. So fordert das Europäische Parlament etwa, die ELA in die Lage zu
versetzen, in grenzüberschreitenden Fällen mutmaßliche Verstöße auch auf eigene
Initiative hin zu untersuchen sowie Kontrollen einleiten und durchführen zu
können.
Des Weiteren stellen die Abgeordneten fest, dass
der Zuständig- und Tätigkeitsbereich der ELA auf Beschäftigte aus Drittstaaten ausgeweitet werden sollte. So sei die Behörde häufig mit Problemen im
Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen von Drittstaatsangehörigen konfrontiert
und müsste deswegen auch Handlungsbefugnisse erhalten. Das Europäische
Parlament fordert darüber hinaus, die Mitgliedstaaten bei der Anwendung des
einschlägigen Unionsrechts besser zu unterstützen sowie sektorspezifische
Rechtsvorschriften zum Arbeitsrecht im Zusammenhang mit der
Arbeitskräftemobilität, etwa im Bereich Verkehr oder im Bauwesen, in das Mandat
aufzunehmen.
Um ihre Aufgaben wahrnehmen zu können, insbesondere
zur Durchführung von Kontrollen vor Ort zur Aufdeckung von Verstößen gegen das
Arbeitsrecht, benötige die ELA auch ausreichende Ressourcen, einschließlich
eigenen Personals, so die Entschließung weiter. Derzeit bestehe das Personal zu
einem großen Teil aus abgeordneten nationalen Sachverständigen (ANS), was
angesichts der zeitlichen Begrenzung mittel- bis langfristig zu einer
institutionellen Inkohärenz beitragen, die operative Kontinuität gefährden und
zu Schwierigkeiten bei der Erledigung der Kernaufgaben der ELA führen könne.
Eine ausreichende Zahl von ANS-Stellen müsse deshalb in Planstellen umgewandelt
werden.
Die Europäische Kommission ist nach Artikel 40 der
Gründungsverordnung der ELA verpflichtet, bis zum 1. August 2024 eine
Evaluation der Leistung der Agentur vorzulegen. Neben der Entschließung des
Europäischen Parlaments werden auch die Ergebnisse einer Konferenz der belgischen EU-Ratspräsidentschaft zur Rolle der ELA am 25. Januar
2024 in diese Bewertung einfließen.