Kompromiss
zwischen Europäischen Parlament und Rat erzielt
Der Rat der
Europäischen Union (EU) und das Europäische Parlament haben in der Nacht vom
14. auf den 15. März eine vorläufige Einigung zum Europäischen Gesundheitsdatenraum
(EHDS) erzielt. Damit kommt die gesundheitspolitische Leitinitiative in dieser
Legislaturperiode der Europäischen Kommission einen entscheidenden Schritt
voran.
Nach insgesamt fünf
Trilogsitzungen – die erste war am 14. Dezember des letzten Jahres - einer
Sondersitzung, 27 technischen Sitzungen und intensiven Verhandlungen auf
unterschiedlichen Ebenen hatte nicht jeder an eine Einigung geglaubt. Zuletzt
wurden insbesondere noch drei Bereiche kontrovers diskutiert: Die
Opt-Out-Regelungen, die Patientenaktensysteme (EHR-Systeme) und die
Umsetzungsfristen.
Angesichts der unterschiedlichen
Sensibilitäten in den Mitgliedstaaten in Bezug auf den Grad der Kontrolle der
Patientinnen und Patienten über ihre Gesundheitsdaten, sollen die
Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, ein Widerspruchsrecht gegen den Zugriff
durch alle Personen, außer dem für die Datenverarbeitung Verantwortlichen,
vorzusehen (Opt-Out für die Primärdatennutzung). Bei der Sekundärdatennutzung
soll eine leicht abgeschwächte Opt-Out Option vorgesehen werden. Die
Patientinnen und Patienten sollen die Bereitstellung ihrer personenbezogenen
elektronischen Gesundheitsdaten für die Sekundärnutzung ablehnen können (Opt-Out
für die Sekundärnutzung). Damit soll ein Gleichgewicht zwischen dem Bedarf der
Datennutzer an umfassenden und repräsentativen Datensätzen und der Autonomie
natürlicher Personen in Bezug auf ihre personenbezogenen Gesundheitsdaten hergestellt
werden. Für bestimmte Zwecke, die in engem Zusammenhang mit dem öffentlichen
Interesse stehen, sollen die Mitgliedstaaten Ausnahmen vom Opt-out-Mechanismus
vorsehen können. Zum Beispiel bei Maßnahmen zum Schutz vor schwerwiegenden
grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen oder der wissenschaftlichen
Forschung aus wichtigen Gründen.
Durch eine Selbstzertifizierung sollen elektronische
EHR-Systeme nachweisen können, dass sie die Anforderungen an Interoperabilität,
Sicherheit und Protokollierung für die Übermittlung personenbezogener
elektronischer Gesundheitsdaten erfüllen. Diese Anforderungen sind im
Austauschformat der EHR in zwei verpflichtenden Komponenten festgelegt – der
„European EHR systems exchanged interoperability component“ und der „European
logging component for EHR systems“. Diese sollen in Durchführungsrechtsakten
näher spezifiziert werden. Zudem soll eine digitale Testumgebung eingeführt
werden, in der vor dem Inverkehrbringen oder der Inbetriebnahme die EHR-Systeme
verpflichtend getestet werden müssen.
Einige Fristen wurden in der politischen
Einigung angepasst. Die Verordnung zum Aufbau des Europäischen
Gesundheitsdatenraumes soll zwei Jahre nach ihrem Inkrafttreten gelten. Es gibt
aber zahlreiche Ausnahmeregelungen; je nach Anwendungsfall und Art der Daten.
So soll zum Beispiel das Kapitel IV zur Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten
frühestens vier Jahre nach Inkrafttreten gelten.
Nach einer
sprachlichen und rechtlichen Prüfung müssen das Parlament und der Rat dem
vorläufigen Verhandlungsergebnis noch zustimmen. Am 9. April werden die
Ausschüsse ENVI und LIBE in einer voraussichtlich letzten gemeinsamen Sitzung
über das Verhandlungsergebnis abstimmen. Das Plenum des Europäischen Parlaments
wird am 22. April endgültig das Verhandlungsergebnis abstimmen.
Am 22. März hat
bereits der Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV) das Verhandlungsergebnis fachlich gebilligt, bevor im letzten Schritt der Rat
darüber abstimmen wird. Die Umsetzung des EHDS soll ab dem Jahr 2025 beginnen.
Es scheint, als würde der EHDS tatsächlich ab dem Jahr 2026 schrittweise in Kraft
treten. Dies wäre ein großer politischer Erfolg der EU.
In Deutschland
beginnt mit dem Gesetz zur verbesserten Nutzung von
Gesundheitsdaten (GDNG) und dem Gesetz zur Beschleunigung der
Digitalisierung des Gesundheitswesens (DigiG) nun die nationale parallele Umsetzung des EHDS.
Weg frei für die Abstimmung im Plenum
Die Abgeordneten des Ausschusses für Umweltfragen,
öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit des Europäischen Parlaments
(ENVI) haben am 19. März ihre Position zur Europäischen Arzneimittelreform
verabschiedet. Beide Berichte wurden mit großer Mehrheit angenommen. Der Bericht von Pernille Weiss (EVP, DK) zum Richtlinienentwurf wurde mit 66 Ja-Stimmen, 2
Nein-Stimmen und 9 Enthaltungen angenommen. Der Bericht von Tiemo Wölken (S&D, DE) zum Verordnungsentwurf erhielt die erforderliche
Mehrheit mit 67 Ja-Stimmen, 6 Nein-Stimmen und 7 Enthaltungen. Mit dem klaren
Votum hat der Gesundheitsausschuss nun seine Position zu den im Mai 2023
vorgelegten Kommissionsvorschlägen verabschiedet.
Vor der Abstimmung gab es intensive Verhandlungen auf Ebene
der Bericht- und Schattenberichterstatter des Europäischen Parlaments,
besonders zu den Schutzfristen von Arzneimitteln und zu den übertragbaren
Marktexklusivitätsgutscheinen („Vouchern“).
Um Innovationen zu belohnen, wollen die Abgeordneten einen
Mindestzeitraum von siebeneinhalb Jahren für den regulatorischen
Unterlagenschutz sowie einen zweijährigen Marktschutz im Anschluss an eine
Zulassung einführen. Außerdem
wollen sie die Staffelung der Anreize anpassen. Arzneimittelhersteller hätten Anspruch auf zusätzliche Datenschutzfristen, wenn das betreffende
Produkt einen ungedeckten medizinischen Bedarf deckt (+12 Monate), wenn
vergleichende klinische Studien für das Produkt durchgeführt werden (+6 Monate)
und wenn ein erheblicher Teil der Forschung und Entwicklung des Produkts in der
EU und zumindest teilweise in Zusammenarbeit mit EU-Forschungseinrichtungen
erfolgt (+6 Monate). Eine
einmalige Verlängerung (+12 Monate) der zweijährigen Marktschutzfrist könnte
gewährt werden, wenn das Unternehmen eine Zulassung für eine zusätzliche
therapeutische Indikation erhält, die im Vergleich zu bestehenden Therapien
erhebliche klinische Vorteile bietet. Die im Kommissionsvorschlag vorgesehene Lieferpflicht innerhalb
der EU27 soll gestrichen werden.
Die Abgeordneten stimmen der Einführung eines Vouchers für
vorrangige antimikrobielle Mittel zu, der einen zusätzlichen Datenschutz von
maximal einem Jahr vorsieht. Der Kommissionsvorschlag wurde etwas abgeschwächt.
So könnte der Gutschein nicht für ein Produkt verwendet werden, für das bereits
der maximale gesetzliche Datenschutz gilt, und er würde nur einmal auf einen
anderen Zulassungsinhaber übertragen werden können.
Allein bei den Vouchern soll es aber nicht bleiben. So
unterstreichen die Abgeordneten die Notwendigkeit, die Forschung und
Entwicklung neuartiger antimikrobieller Mittel voranzutreiben. Zum Beispiel
durch Belohnungen für den Markteintritt oder durch finanzielle Unterstützungen in der Frühphase der
Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln. Auf freiwilliger Basis können von
den Mitgliedstaaten auch gemeinsame Beschaffungsmechanismen genutzt werden.
Die DSV hatte ihre Position zur Arzneimittelreform nachdrücklich in vielen Positionspapieren und Statements
auf europäischer Ebene eingebracht. Zuletzt hatte die DSV die erheblichen Mehrkosten errechnet, die dem deutschen Gesundheitssystem entstehen würden, wenn ein
zusätzliches Jahr des regulatorischen Unterlagenschutzes für Arzneimittel (RDP
– regulatory data protection) gewährt würde. Jedes zusätzliche Jahr, um das
sich der Beginn des Generikawettbewerbs verzögert, kostet die gesetzliche
Krankenversicherung in Deutschland etwas mehr als eine Milliarde Euro. EU-weit
belaufen sich die Mehrkosten für jedes zusätzliche Jahr des regulatorischen
Unterlagenschutzes auf etwas mehr als drei Milliarden Euro. Diese Zahlen
verdeutlichen die Notwendigkeit einer ausgewogenen Position des Europäischen
Parlaments zur Länge der Schutzfristen, um die Bezahlbarkeit und langfristige
Tragfähigkeit der Gesundheitssysteme zu sichern. Die nun verabschiedete
Position wirkt auf den ersten Blick ausbalanciert.
Das Plenum des Europäischen Parlaments plant, am 10. April
offiziell die beiden Berichte zu verabschieden und damit seinen Standpunkt zur
Arzneimittelreform anzunehmen.
Mehr
Effizienz bei der Bewertung von Stoffen
Im Dezember
2023 hat die Europäische Kommission das Reformpaket „Ein Stoff, eine Bewertung“
vorgestellt. Dieses Maßnahmenpaket zielt darauf ab, die Komplexität der
Bewertung von Chemikalien zu reduzieren und Prozesse zu optimieren. Des
Weiteren wird eine Datenplattform errichtet. Diese soll den Zugang zu sowie die
gemeinsame Nutzung und die Weiterverwendung von Informationen über Chemikalien
erleichtern.
Eine
Neuregelung ist nötig, da je nach Rechtsvorschrift momentan verschiedenen
EU-Agenturen, wissenschaftliche Ausschüsse, Expertengruppen oder
Kommissionsdienststellen die Beurteilung von Chemikalien in unterschiedlichen
Bereichen durchführen. Nach der Reform sollen Bewertungen koordiniert,
transparent und weitestmöglich synchronisiert erfolgen. Zugleich sollen den Besonderheiten
der einzelnen Sektoren Rechnung getragen werden. Die Europäische
Chemikalienagentur (ECHA) wird neue Aufgaben erhalten.
In einer
Stellungnahme hat die DSV die Bestrebungen der Europäischen Kommission zum
Aufbau einer einheitlichen Plattform für Chemikalien und zur Neuzuweisung
bestehender und neuer Aufgaben an die EU-Agenturen begrüßt. Durch die
Neuregelung können Mehrfacharbeit vermieden und eine effiziente Arbeitsweise im
Bereich der Bewertung von Chemikalien erreicht werden. Zusätzlich ermögliche
der Aufbau einer einheitlichen Plattform für Chemikalien, die Daten für die
interessierten Kreise auffindbar, zugänglich, interoperabel und
wiederverwendbar zu machen.
Die Rechtsetzungsvorschläge
der Europäischen Kommission setzten den Einbezug entsprechender Experten und
Sachverständige mit Fachwissen aus verschiedenen Bereichen voraus. Dieser kann
jedoch momentan nicht durch die ECHA gewährleistet werden, da vor allem
Expertise auf dem Gebiet der Elektro- und Elektronikgeräte fehlt. Für eine
erfolgreiche Umsetzung ist daher zusätzliches Personal von Nöten. Nur so ist
die ECHA den neuen wissenschaftlichen und technischen Aufgaben des Reformpakets
gewachsen.
Neben der Frage
des Fachpersonals müsse auch die zeitliche Implementierung der Veränderungen
besser adressiert werden. Einerseits gibt es eine großzügige Frist von zehn
Jahren für die Zurverfügungstellung aller relevanten Daten über die gemeinsame
Datenplattform bis 2035. Andrerseits soll die ECHA schon bis 2025 bzw. 2026 in
der Lage sein, Bewertungen auf dem Gebiet der Elektro- und Elektronikgeräte,
der Medizinprodukte und den persistenten organischen Schadstoffen durchzuführen.
Da die Daten der Bewertungen in die Plattform einfließen, sollten die Fristen
für die Aufnahme der verschiedenen wissenschaftlichen Arbeiten angepasst und
entsprechend großzügiger gestaffelt werden.
Die Verwaltung
der Datenplattform sieht die Errichtung eines Lenkungsausschusses vor, der sich
zu gleichen Teilen aus je fünf Vertreterinnen beziehungsweise Vertretern von EU-Agenturen
und der Europäischen Kommission zusammensetzt. Eine Beratung, beispielsweise zu
verwendeten Standarddatenformaten und wissenschaftlichem Vokabular, kann nach
Ansicht der DSV am besten durch diejenigen geschehen, die die Informationen der
Datenplattform tatsächlich in der Praxis nutzen. Folglich sollte der Anteil von
Vertreterinnen und Vertretern der Agenturen und damit aus dem fachlichen
Bereich überwiegen.
Mithilfe der
gemeinsamen Datenplattform werden die Daten über Chemikalien auf EU-Ebene in
einer zentral zugänglichen IT-Infrastruktur konzentriert und konsolidiert. Deren
Nutzung sollte in gleicher Weise wie Behörden auch wissenschaftlichen Gremien
wie der ständigen Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher
Arbeitsstoffe der Deutschen Forschungsgemeinschaft (MAK-Kommission) sowie gesetzlichen
Versicherungen gestattet sein.
Ist
Europa bei Arbeitsplatzrisiken auf dem richtigen Weg?
Der
„Strategischen Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2021
– 2027“ (siehe Bericht 7/2021) strebt neben der Aktualisierung der Empfehlung
der Europäischen Kommission zu Berufskrankheiten unter anderem die Einführung
des „Vision Zero“-Konzepts für arbeitsbedingte Unfälle und Berufskrankheiten an.
Die „Vision Zero“ fokussiert auf eine Welt ohne Arbeitsunfälle und
arbeitsbedingte Erkrankungen, in der die Vermeidung tödlicher und schwerer
Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten höchste Priorität haben.
Drei
Jahre nach der Einführung des Strategischen Rahmens haben Mitglieder des
Europäischen Parlaments ein tragisches Ereignis in der Baubranche sowie die
Exposition von Feuerwehrleuten zum Anlass genommen, um die umfassende
Präventionskultur in der Europäischen Union zu erörtern.
Mitte
Februar ereignete sich ein Arbeitsunfall auf einer Baustelle in Florenz. Die
Aufarbeitung scheint schwierig, da die verstorbenen und schwer verletzten
Bauarbeiter durch ein Geflecht von Unteraufträgen angestellt waren. Die Häufigkeit
von Unfällen bei der Vergabe von Unteraufträgen ist ein Phänomen, das nicht auf
Italien beschränkt ist. Diese Praxis führt vor allem zu Problemen bei der
Einhaltung der Arbeitsschutzvorschriften, einschließlich der Vorschriften für
Sicherheitsausrüstung. Deswegen sprachen
sich die Abgeordneten dafür aus, sich intensiver mit Fragen zur Sicherheit
am Arbeitsplatz zu befassen.
Die
für Energie zuständige Kommissarin Kadri Simson hob in der Debatte im
Europäischen Parlament am 28. Februar 2024 hervor, dass die Europäische Agentur
für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) bei der
Bereitstellung praktischer Instrumente und Informationen eine größere Rolle
spielen muss. Die Diskussion berührte auch Gesetzesreformen. Gefordert wurde von
den Abgeordneten vor allem eine kritische Überprüfung, inwieweit die Richtlinie
über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des
Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit (Richtlinie 89/391/EWG) in
die Praxis umgesetzt wurde und welche Auswirkungen sie tatsächlich hat.
Ein
anderes Arbeitsschutzthema, dass Abgeordnete aus Italien beschäftigt,
fokussiert sich auf Feuerwehrleute. Während ihrer Arbeit sind sie der Gefahr
einer Kontamination durch Asbest oder Ewigkeitschemikalien ausgesetzt. Vor
allem, wenn sie in Gebäuden und Einrichtungen arbeiten, in denen diese Stoffe
verbaut wurden. Auch Schaummittel, die bei der Brandbekämpfung genutzt werden,
stellen eine weitere potenzielle Gefahrenquelle dar.
Trotz
der Arbeit, die Feuerwehrleute erbringen, haben sie nicht in allen Mitgliedsstaaten
Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit und anderen Schutzmaßnahmen im
Falle von Arbeitsunfähigkeit. Dies sollte schnellstmöglich geändert werden, so
die italienischen Abgeordneten in einer Anfrage an die Europäische Kommission. Kommissar
Nicolas Schmit, der sich hierzu schriftlich äußerte, unterstrich, dass es zwar
eine Empfehlung zu Berufskrankheiten gebe, Fragen im Zusammenhang mit der
Anerkennung von Berufskrankheiten und Entschädigungen jedoch in die
Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen.
Die
Stimmen aus dem Europäischen Parlament zeigen, dass es bis zum Jahr 2027 noch einiges
zu tun gibt. Es bleibt daher abzuwarten, ob die Prioritäten der Europäischen
Kommission für 2024 bis 2029, wie von einigen Mitgliedern des Europäischen
Parlaments gefordert, die weitere Verbesserung von Gesundheit und Sicherheit am
Arbeitsplatz beinhalten werden.
Im Rat stellt sich Deutschland hinter die Sozialversicherung.
Gute Nachrichten aus Deutschland. Die Bundesregierung hat
sich am 7. März im Rat für Wettbewerbsfähigkeit (COMPET) hinter die
Sozialversicherung gestellt. In einem Austausch zum Fortgang der Verhandlungen
zum Dossier
zum Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr unterstrich Staatssekretär Sven
Giegold die Notwendigkeit, dass starre Vorgaben nicht sachgerecht und an
verschiedenen Stellen zu Kollisionen führen würden. Unter anderem müsse
sichergestellt werden, dass die Sozialversicherung ausreichend Zeit hat, ihre
Zahlungen zu prüfen.
Damit hat sich die Bundesregierung den Appell
der DSV aufgegriffen, die besondere Situation der Sozialversicherungsträger
in den Blick zu nehmen. Renten-, Unfall- und Krankenversicherungsträger haben
mit den Vertretungen ihrer Dienstleister eine Vielzahl von Verträgen
geschlossen, die sich nicht immer mit einer starren Zahlungsfrist von 30 Tagen
decken, wie sie der Europäischen Kommission vorschwebt. Insbesondere dann, wenn
die Rechnung oder die erbrachte Leistung Fragen aufwirft. In der geltenden
Zahlungsverzugsrichtlinie hatte eine Ausnahmeregelung im Gesundheitsbereich die
notwendigen zeitlichen Spielräume für sachgerechte Vertragslösungen geboten.
Eine besondere Situation besteht in der Krankenversicherung,
wo die Abrechnungen von Ärzten, Zahnärzten, Apotheken und Krankenhäusern nach
der Zahlung über zum Teil lange Zeiträume geprüft und gegebenenfalls korrigiert
werden. Hier erfüllt die Krankenversicherung Prüfaufgaben aus dem
Sozialgesetzbuch. Diese dürfen nicht sanktioniert werden. Im Rat ist diese
Botschaft angekommen.
Für Binnenmarktkommissar Thierry Breton war die Sitzung am
7. März nicht erfreulich. Die weit überwiegende Mehrzahl der Mitgliedstaaten
plädiert für mehr Vertragsfreiheit und hegt große Skepsis an der Notwendigkeit
einer Verordnung. Zumal sich eine Richtlinie einfacher ins nationale Zivilrecht
einfügen ließe. Auf breiten Widerstand stößt auch die Einrichtung neuer
Bürokratie, die im Zweifel mit der Zuständigkeit der Gerichte kollidiert. Last
but not least: Neben Deutschland forderten auch weitere Länder wie Italien, Malta
und Slowenien Ausnahmen für den Gesundheitssektor. Gespannt darf man nun
auf das Europäische Parlament blicken, wo die Kontroversen zum Vorschlag der
Europäischen Kommission ebenfalls Gräben – zum Teil auch innerhalb der
Fraktionen - aufgeworfen haben. Wegen des hohen Klärungsbedarfs wird der
Bericht von Róża Thun und Hohenstein (Renew, PL) erst am 21. März erwartet.
Die Beratungsverläufe in Parlament wie Rat lassen erwarten,
dass der Entwurf der Europäischen Kommission massive Änderungen erfahren wird.
Ob am Ende eine Verordnung verabschiedet wird oder es überhaupt zu einer
Einigung kommt, ist höchst ungewiss.
Nach der Pandemie erholt sich die Mobilität von
Beschäftigten innerhalb der EU und den EFTA-Staaten.
Der Jahresbericht
2023 der Europäischen Kommission über die Arbeitsmobilität innerhalb der
Europäischen Union (EU) und der EFTA-Länder – also Island, Norwegen, der Schweiz und
Lichtenstein - zeichnet einen leicht positiven
Trend nach Beendigung der Corona-Pandemie. Basierend auf Daten der Jahre 2021
und 2022 werden folgende Entwicklungen aufgezeigt.
In der Gruppe der EU-Bürgerinnen und Bürger im
erwerbsfähigen Alter (20-64 Jahre) ist die Zahl der Wanderer relativ konstant
geblieben und lag bei etwa 9,9 Millionen. 58 Prozent waren jung und männlich, die
maßgeblichen Herkunftsländer unverändert Rumänien, Polen und Italien. Jeder
Dritte geht nach Deutschland. Die Mobilität in dieser Gruppe hat aber noch
nicht ganz das Niveau von 2019 und damit vor der Pandemie erreicht.
Etwas anders zeigt sich die Situation bei den Grenzgängern:
In der EU und den EFTA-Ländern sind im Jahr 2022 rund 1,8 Millionen Grenzgänger gemeldet
worden und damit acht Prozent mehr als 2021. Deutlich gestiegen ist die Zahl
der Entsendungen. Die Gesamtzahl der ausgestellten portablen Dokumente PD A1 -
diese weisen nach, dass eine entsendete Person im Sozialversicherungssystem des
Landes versichert ist, aus dem die Entsendung erfolgt - belief sich auf 4,6
Millionen und damit 27 Prozent mehr als im Vorjahr. Auch hier geht der größte
Teil des Anstiegs auf Deutschland zurück.
Mit einem Anstieg von 22 Prozent im Vergleich zu 2020 ist
auch die Zahl der Selbständigen wieder auf das Niveau vor der Pandemie
zurückgekehrt. Rückläufig ist der Anteil der EU-Bürgerinnen und Bürger mit
Teilzeitverträgen oder befristeten Verträgen. Hatten 2017 noch 20 Prozent aller
EU-Migrantinnen und Migranten einen befristeten Arbeitsvertrag, waren es 2022
nur noch 15 Prozent. Im gleichen Zeitraum ist auch das Bildungsniveau der
Umzügler leicht gestiegen. Ein Drittel (32 Prozent) hatte ein eher hohes
Bildungsniveau; gegenüber 29 Prozent fünf Jahre zuvor.
Interessant ist auch der Blick auf die Renten. Der Export
von Renten ist sowohl Bedingung für Arbeitsmobilität als auch dessen Folge.
Dennoch spielt der Export von Renten, so der Bericht, eine Schlüsselrolle, um
faire Arbeitsmobilität zu gewährleisten. Ihre Zahl ist von 2018 bis 2021 von
4,6 auf 5,4 Millionen gestiegen und umfasst ein Volumen von über 22 Milliarden
Euro. Deutschland ist gleichzeitig größter Exporteur als auch größter
Importeur von Renten. Ähnliches gilt für Frankreich.
Was der Bericht auch zeigt: Es gibt viel weniger Senioren
außerhalb ihres Heimatlandes als Bürger im erwerbsfähigen Alter. Die
exportierten Renten gehen hauptsächlich an mobile Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die in ihrem Heimatland in Rente gegangen sind.
EuGH
entscheidet über Zugänglichkeit von harmonisierten europäischen Normen.
Der
Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 5. März 2024 entschieden, dass harmonisierte
europäische Normen aufgrund ihrer Rechtswirkungen Teil des Unionsrechts sind, und daher frei zugänglich sein müssen.
Im Jahr
2018 hatte die Europäische Kommission den Antrag zweier gemeinnütziger
Organisationen, der Public.Resource.Org Inc. und der Right to Know CLG, die
sich für die freie Zugänglichkeit von Recht einsetzen, auf Zugang zu mehreren technischen
Normen im Bereich von Spielzeug abgelehnt. Das daraufhin angerufene Gericht der
Europäischen Union (Gericht) erklärte im Jahr 2021 das Handeln der Europäischen
Kommission für rechtmäßig.
Gegen
dieses Urteil legten die beiden Organisationen Rechtsmittel ein und waren nun
erfolgreich. Der EuGH hob das Urteil des Gerichts auf und erklärte, dass die Europäische
Kommission den Klägern Zugang zu den harmonisierten Normen hätte gewähren
müssen. Die angeforderten Normen seien Teil des Unionsrechts, daher bestünde ein
überwiegendes öffentliches Interesse an ihrer Verbreitung.
Harmonisierte
europäische Normen sind Leitlinien für die technischen Spezifikationen von Produkten,
Dienstleistungen oder Verfahren. Sie spielen eine wichtige Rolle im Binnenmarkt
der Europäischen Union (EU). Im Bereich der Produktsicherheit schreibt die
europäische Gesetzgebung in der Regel nur grundlegende Anforderungen für das
sichere Inverkehrbringen von Produkten in der EU vor. Diese Anforderungen
werden dann im Auftrag der Europäischen Kommission von den (privatrechtlichen) europäischen
Normungsorganisationen CEN, CENELEC und ETSI durch harmonisierte technische Normen
konkretisiert. Die Erarbeitung der Normen selbst wird durch die nationalen
Normungsorganisationen, wie dem DIN in Deutschland, kanalisiert. Diese finanzieren
sich unter anderem aus dem Verkauf der Normen an Hersteller und Unternehmen. Im
Amtsblatt der EU werden lediglich die Fundstellen der harmonisierten Normen
veröffentlicht.
Die Einhaltung
harmonisierter Normen ist grundsätzlich freiwillig und nicht gesetzlich
vorgeschrieben. Allerdings hat sie für Hersteller und Unternehmen verschiedene
Vorteile. Wenn Produkte eine standardisierte Qualität aufweisen, sind sie
kompatibel und vergleichbar. Dies erleichtert den Marktzugang. Hält ein Produkt
die Vorgaben einer entsprechenden Norm ein, so wird außerdem vermutet, dass
dieses auch konform mit den der Norm zugrundeliegenden gesetzlichen (Sicherheits-)Anforderungen
ist. Deshalb sind Normen auch für den Arbeitsschutz von Relevanz.
Über
die Folgen des Urteils herrscht derzeit noch große Unsicherheit, da die
Entscheidung viele mit der Zugänglichkeit zusammenhängende Gesichtspunkte offenlässt.
Eine mögliche Verpflichtung, harmonisierte europäische Normen zukünftig frei
und kostenlos zur Verfügung zu stellen, könnte die derzeitige Funktionsweise
des europäischen Normungssystems stark verändern.
Die Grenzen
zwischen Selbstständigkeit und abhängiger Beschäftigung verschwimmen.
Die Europäische Stiftung zur Verbesserung der
Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofound)
hat am 30. Januar
die Studie “Self-employment in the EU: Job quality and
developments in social protection” vorgestellt. Danach bestehen weiterhin große Lücken beim
Sozialschutz von Selbstständigen. So verfügen von den 28 Millionen
Selbstständigen in Europa 16,8 Millionen über keine Absicherung im Fall von
Arbeitslosigkeit. Aber auch bei Krankheit und im Zusammenhang mit
Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sind 5,3 Millionen beziehungsweise 4,2
Millionen Selbstständige nicht abgesichert. Lücken bei der sozialen Absicherung
bestehen vor allem bei Selbstständigen, deren Beschäftigungssituation der von
Arbeitnehmern ähnelt.
Viele
Selbstständige, insbesondere diejenigen, die von einem oder einer begrenzten
Anzahl von Kunden abhängig sind und deren Autonomie und Fähigkeit zur
Preisgestaltung eingeschränkt ist, befinden sich in einer Situation, die einer abhängigen
Beschäftigung ähnelt. Anders als diese verfügen sie jedoch nicht über einen
ausreichenden Arbeits- und Sozialschutz. Ein Trend, der durch die Zunahme der
Plattformbeschäftigung noch verstärkt wird. Um die soziale Absicherung dieser
Beschäftigten sicherzustellen, ist es aus Sicht der Autorinnen und Autoren des
Berichts notwendig, einheitliche Kriterien für die Bestimmung des
Beschäftigungsstatus zu vereinbaren.
Die Analysen der für die Erforschung von Lebens- und Arbeitsbedingungen beauftragte EU-Agentur Eurofound zeigen, dass die Systeme der
sozialen Sicherheit primär auf abhängig Beschäftigte ausgerichtet sind. In der
Gruppe der Selbstständigen bestehen hingegen große Unterschiede beim Zugang und
Umfang der sozialen Absicherung. Besonders deutlich wurde dies in der
Covid-19-Pandemie. Selbstständige waren hier am stärksten von
Einkommensverlusten betroffen. Dabei haben die Mitgliedstaaten im Verlauf der
Pandemie mit vielfältigen, meist befristeten Initiativen, deren Einkommen
gestützt und den Zugang zum Sozialschutz ausgeweitet. Diese Anstrengung belegen,
dass sich die Mitgliedsstaaten der Lücken im Sozialschutz für Selbstständige bewusst
sind. Nach Ansicht der Autorinnen und Autoren des Berichts gelte es deshalb, die
gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Pandemie zu nutzen.
In der Europäischen
Säule sozialer Rechte wird im Grundsatz 12 das Ziel formuliert, dass
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und unter vergleichbaren Bedingungen
Selbstständige unabhängig von der Art und Dauer ihres
Beschäftigungsverhältnisses Anspruch auf angemessenen Sozialschutz haben. Um die
diesbezüglichen Lücken zu schließen, hat der Rat der Europäischen Union 2019
eine Empfehlung über den Zugang zum Sozialschutz für Arbeitnehmer und Selbstständige
angenommen. Im Dezember 2021 hat die Europäische Kommission einen Richtlinienvorschlag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit vorgelegt, der
darauf abzielt, den Beschäftigungsstatus von Plattformarbeitern zu klären und deren
Arbeits- und Sozialschutz zu verbessern. Im Trilog haben die
Verhandlungsführerinnen und -führer von Europäischen Parlament und Rat am 8.
Februar hierzu eine vorläufige Einigung erzielt, über die nun entschieden
werden muss. Darüber hinaus hat die Europäische Kommission im September 2022 Leitlinien zur Anwendung des EU-Wettbewerbsrechts zu Tarifverträgen über die
Arbeitsbedingungen von Selbstständigen verabschiedet.
Die
belgische Ratspräsidentschaft hat den Zugang zum Sozialschutz zu einem
Schwerpunkt ihrer aktuellen Ratspräsidentschaft gemacht und strebt eine
Verstetigung der in der Ratsempfehlung vorgesehenen Überwachung der
Fortschritte bei der Verwirklichung des Zugangs zum Sozialschutz an. Dabei soll
der entwickelte Monitoringrahmen weiterentwickelt werden und den tatsächlichen Zugang zum Sozialschutz abbilden.
Belgien
gelingt Zustimmung ohne die Stimmen von Frankreich und Deutschland.
Der Ministerrat „Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit
und Verbraucherschutz“ (EPSCO) hat am 11. März nach mehreren gescheiterten
Anläufen die im Trilog erzielte vorläufige
Einigung zum Richtlinienvorschlag
zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit bestätigt. Damit
kann das Dossier noch in dieser Legislaturperiode abgeschlossen werden. Der
Gesetzentwurf soll dazu beitragen, dass der Beschäftigungsstatus von
Plattformbeschäftigten korrekt eingestuft wird. Grundlage hierfür ist das tatsächliche
Beschäftigungsverhältnis. Auch enthält die Richtlinie erstmalig EU-Vorschriften
über das algorithmische Management und den Einsatz von künstlicher Intelligenz
(KI) am Arbeitsplatz.
Seit der
Vorstellung des Kommissionsentwurfs drehte sich die Diskussion um die Ausgestaltung der Feststellung des
Beschäftigungsstatus von Plattformbeschäftigten. Im Fokus standen dabei
insbesondere die Kriterien, anhand derer der tatsächliche Beschäftigungsstatus
für die widerlegbare Vermutung geprüft wird. Der Kommissionsentwurf sah fünf
Kriterien vor. Danach sollte die Vermutung ausgelöst werden, wenn zwei der fünf
Kriterien erfüllt sind. Der Rat erhöhte den Schwellenwert auf drei von sieben
Kriterien, während sich das Parlament gegen EU-weit verbindliche Kriterien
ausgesprochen hat. Ein für beide Seiten zustimmungsfähiger Kompromiss konnte in
der Folge nicht gefunden werden.
In der
am 8. Februar zwischen den Verhandlungsführerinnen und -führer des Europäischen
Parlaments und des Rats erzielten vorläufigen Einigung wurde daher ein neuer
Ansatz gewählt. Auf harmonisierte Bedingungen für die Auslösung der
widerlegbaren Beschäftigungsvermutung wird verzichtet. Stattdessen werden die
Mitgliedstaaten verpflichtet, einen wirksamen Mechanismus für die widerlegbare
Beschäftigungsvermutung aufzustellen, ohne auf Einzelheiten ihrer Anwendung
einzugehen. Neu eingeführt wurde der Begriff „Tatsachen“. Die Feststellung des
Beschäftigungsstatus soll auf Tatsachen basieren, die auf eine Kontrolle und
Leitung hinweisen. Grundlage hierfür sind die in den Mitgliedstaaten geltenden
nationalen Rechtsvorschriften unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des
Gerichtshofs.
Die Mitgliedstaaten
werden zu effektiven Verfahrenserleichterungen für Plattformbeschäftigte
gegenüber dem jeweiligen Status quo verpflichtet. Dies gilt insbesondere für
das Auslösen einer Statusfeststellung durch Plattformbeschäftigte oder ihre
Vertreterinnen und Vertreter sowie den damit verbundenen Nachweispflichten. Im
Fall, dass die gesetzliche Vermutung ausgelöst wird, können die digitalen
Arbeitsplattformen die Einstufung anfechten. Die Beweislast, dass kein
Arbeitsverhältnis vorliegt, liegt jedoch bei den digitalen Arbeitsplattformen.
Die im
ursprünglichen Kommissionsentwurf vorgesehene Regelung, wonach im Fall eines
Widerspruchs die Statuseinstufung bis zur endgültigen Entscheidung gilt, ist im
Gesetzentwurf nicht mehr enthalten.
Mit
dem Gesetzentwurf werden erstmals verbindliche Regeln für algorithmisches
Management und den Einsatz künstlicher Intelligenz am Arbeitsplatz festgelegt.
Damit findet das Gesetz zur künstlichen Intelligenz Eingang in das Arbeitsrecht
und wird dem durch digitale Prozesse geprägten Beschäftigungsverhältnis von
digitalen Arbeitsplattformen und Plattformbeschäftigten Rechnung getragen.
So
wird digitalen Arbeitsplattformen untersagt, Entscheidungen wie Entlassungen
oder die Sperrung eines Kontos ohne menschliche Aufsicht zu treffen. Auch
werden die digitalen Arbeitsplattformen verpflichtet, die Auswirkungen von
Entscheidungen auf Basis automatisierter Überwachungs- und
Entscheidungssystemen auf Arbeitsbedingungen, Gesundheit und Sicherheit sowie
Grundrechte zu bewerten.
Mit
den neuen Vorschriften werden auch Transparenzregelungen für die digitalen
Arbeitsplattformen eingeführt. Danach sind Informationen zur Funktionsweise der
Algorithmen und wie sich ihr Verhalten auf die von den automatisierten Systemen
getroffenen Entscheidungen auswirkt, den Plattformbeschäftigten und ihren
Vertretern zur Verfügung zu stellen.
Der
Gesetzentwurf wird am 22. April dem Plenum des Europäischen Parlaments zur
Billigung vorgelegt. Der Ministerrat wird im Anschluss das Gesetz formal
verabschieden.
Europäisches Parlament nimmt Entschließungsantrag
zu vertiefter Integration an.
Am 29. Februar 2024 hat das Europäische Parlament
einen Entschließungsantrag zur Vertiefung der
EU-Integration mit Blick auf eine künftige Erweiterung angenommen. Am 30. Januar hatten der Ausschuss für auswärtige
Angelegenheiten (AFET) und der Ausschuss für konstitutionelle Fragen (AFCO) gemeinsam
für den zugrundeliegenden Initiativbericht gestimmt. Grundsätzlich vertritt das
Europäische Parlament die Ansicht, dass aufgrund der Herausforderungen im
Zusammenhang mit einer größeren Europäischen Union (EU) eine verstärkte
Erweiterungspolitik erforderlich sei, die auf einer schrittweisen Integration
in gemeinsamen Politikbereichen beruht.
In der Entschließung stellen die Abgeordneten fest,
dass die Erweiterung zu einem der stärksten politischen und geopolitischen
Instrumente der EU geworden sei, und dass laut der Eurobarometer-Umfrage vom
Juni 2023 eine Mehrheit der EU-Bevölkerung die künftige Erweiterung der EU
befürworte. Gleichzeitig seien neue Impulse und eine neue Vision erforderlich,
um dem Erweiterungsprozess neuen Schwung zu verleihen. Durch das mangelnde
Engagement der vergangenen Jahre sei ein Vakuum entstanden, das Russland, China
und anderen externen Akteuren Handlungsräume eröffnet habe.
Das Europäische Parlament sei zweifellos das Organ
der EU, das die Erweiterung am stärksten unterstütze, seine Rolle sei jedoch
während des gesamten Erweiterungsprozesses äußerst begrenzt, so die
Abgeordneten. Sie betonen vor diesem Hintergrund, dass eine stärkere,
wirksamere und aussagekräftigere Beschlussfassung im Europäischen Parlament
sowie seine Kontrolle der Erweiterungspolitik der EU und ihrer Finanzierung
erforderlich sei, um die demokratische Legitimität und Rechenschaftspflicht zu
stärken. Entsprechend sei die Rolle des Europäischen Parlaments im gesamten
Beitrittsprozess und seinen einzelnen Zwischenschritten zu stärken. Dazu gehöre
auch eine umfassende Prüfung der Fortschritte der Bewerberländer in allen
Politikbereichen.
Darüber hinaus vertritt das Europäische Parlament in
der Entschließung die Ansicht, dass die Prozesse der Vorbereitung auf die
Erweiterung in der EU und in den Beitrittsländern parallel verlaufen sollten.
Es seien sowohl institutionelle als auch finanzielle Reformen erforderlich, um
die gegenwärtigen Herausforderungen bewältigen, neue Mitglieder aufnehmen und
ihre erfolgreiche Integration fördern zu können. Zu den geforderten Reformen
zählen die Überprüfung der Zusammensetzung und die Stärkung des Europäischen
Parlaments durch ein allgemeines und unmittelbares Recht auf gesetzgeberische
Initiative. Des Weiteren befürworten die Abgeordneten eine Beschlussfassung im
Rat der EU mit qualifizierter Mehrheit in Bereichen wie dem Schutz der
Demokratie, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit, dem mehrjährigen
Finanzrahmen, Sanktionen und anderen einschlägigen außenpolitischen
Beschlüssen, etwa dem Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen.
Konferenz
beleuchtet die Synergie zwischen KI und der Europäischen Säule sozialer Rechte.
Die
Anwendung von Künstlicher Intelligenz (KI) im Bereich der sozialen Sicherheit
und insbesondere bei der Beurteilung von Arbeitsfähigkeit stand
im Zentrum der Konferenz „Shaping Tomorrow: AI in Social Security and Work
Capacity Assessment“. Die Veranstaltung fand am 6. März statt und wurde von der
European Union of Medicine in Assurance and Social Security (EUMASS) in Zusammenarbeit
mit dem belgischen Sozialministerium organisiert und von der belgischen Ratspräsidentschaft
der Europäischen Union (EU) unterstützt.
Grundsätzlich
strebten die Veranstalter des Symposiums eine Verknüpfung des Themas KI mit der Europäischen Säule sozialer
Rechte (ESSR) an. So sollte die Synergie zwischen KI und den 20 Prinzipien der ESSR
aufgezeigt und durch einen interdisziplinären Dialog ein Beitrag geleistet
werden, die Möglichkeiten und Gefahren von KI in diesem Bereich auszuloten.
Die insgesamt vier Podiumsdiskussionen galten
verschiedenen Schwerpunkten. Nach einem Einführungspanel mit dem
belgischen Minister für Soziales und öffentliche Gesundheit Dr. Frank
Vandenbroucke widmete sich die zweite Podiumsdiskussion dem Thema (Gesundheits‑) Daten und KI in der sozialen
Sicherheit. Die dritte Podiumsdiskussion konzentrierte sich auf die Herausforderungen beim Einsatz von KI in der
sozialen Sicherheit und bei der Beurteilung von Arbeitsfähigkeit und die vierte nahm schließlich Vorteile
und künftige Potenziale von KI zur Beurteilung von Arbeitsfähigkeit in den
Blick.
Einigkeit herrschte in der Forderung des Zugangs zu
repräsentativen Daten. KI-Anwendungen seien nicht von Natur aus neutral oder
objektiv. Sie müssen anhand großer, für die Fragestellung relevanter Datenbasen
trainiert werden. Der Mehrwert von KI-Anwendungen liege in der sich stetig
verbessernden Auswertung großer Datenmengen. Hierfür seien umfangreiche,
aktuelle und vor allem repräsentative Daten notwendig. Sonst bestehe das
Risiko, dass KI-Anwendungen bestehende vorurteilsbehaftete Entscheidungen der
analogen Welt noch verstärken. In diesem Zusammenhang wurde auch die Bedeutung
der Richtlinie für einen europäischen Raum für
Gesundheitsdaten (EHDS) hervorgehoben. Um das
Potenzial von KI-Anwendungen zu steigern, brauche es neben dem Zugang zu
bestehenden Sozialdaten auch eine systematische, standardisierte Erfassung der
Ergebnisse von beispielsweise Maßnahmen der medizinischen oder beruflichen
Rehabilitation.
Die Konferenz gelangte grundsätzlich zu dem
Ergebnis, dass KI als transformatives Instrument im Gesundheitssektor zu
verstehen sei, das die Genauigkeit von Arbeitsfähigkeitsbeurteilungen
verbessern und bestehenden Ungleichheiten beim Zugang zu medizinischer und
beruflicher Rehabilitation entgegenwirken könne. Aufgrund der Anfälligkeit KI-basierter
Anwendungen für Falschentscheidungen aufgrund einer möglicherweise lückenhaften
oder verzerrten Datengrundlage waren sich alle Diskutantinnen und
Diskutanten einig, dass der Einsatz von KI-basierten Instrumenten
aufgeschlossen zu begleiten, aber stets kritisch zu hinterfragen sei.
Auf einige Aspekte kamen die Diskussionen im Laufe
der Konferenz immer wieder zurück, darunter das KI-Gesetz der EU und auf das Thema Transparenz. Dazu gebe es zwar Bestimmungen im
KI-Gesetz, aber gleichzeitig sei nicht immer klar, wie KI-basierte Anwendungen überhaupt
zu Entscheidungen kommen. Die Forderung nach Transparenz laufe deshalb Gefahr,
ins Leere zu laufen. Transparenz und Verantwortlichkeit seien unabdingbar für
das Vertrauen der Öffentlichkeit und damit die Akzeptanz von KI-Anwendungen. Nach
der Verabschiedung des KI-Gesetzes müssten deshalb die gesellschaftlichen Auswirkungen
genau beobachtet werden. Ferner seien Sozialpartnerschaften und der soziale
Dialog nicht aus dem Blick zu verlieren, um den Einsatz von und die Erwartungen
an KI zu diskutieren.
Finanz-
und Sozialminister diskutieren über soziale Investitionen
Eine
gut organisierte Sozialpolitik ist kein Kostenfaktor, sondern kann die
Produktivität und das Wirtschaftswachstum fördern. Mit dieser Botschaft hat der
belgische Ratsvorsitz der Europäischen Union (EU) am 12. März die erste gemeinsame
Sitzung der europäischen Finanz- und Sozialminister der Ministerräte für
„Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz“ (EPSCO) und
„Wirtschaft und Finanzen“ (ECOFIN) einberufen. Nach der Sitzung betonte die
belgische Ratspräsidentschaft, dass zwischen beiden Ministerräten Einvernehmen
bestehe, Wirtschafts- und Sozialpolitik aus einer integrierten Perspektive zu
betrachten und sie gemeinsam das Thema soziale Investitionen in den Blick
nehmen werden.
Am 26.
April hatte die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung mit dem Ziel vorgelegt, die
Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte zu stärken und durch die
Berücksichtigung von Investitionen zu fördern. Dabei stellte sich die Frage, inwieweit
hierbei auch soziale Investitionen zu berücksichtigen seien. Spanien und Belgien
haben in der Folge gemeinsam diese Frage aufgegriffen und zum Thema ihrer
Ratspräsidentschaften gemacht. Die überarbeitete wirtschaftspolitische
Steuerung folgte letztendlich nicht dem Kommissionsvorschlag. Ein Teil der
Mitgliedstaaten, hierunter auch Deutschland, hat sich grundsätzlich gegen die
Berücksichtigung von Investitionen ausgesprochen. Der Fokus liegt nun weiterhin
alleinig auf der Haushaltskonsolidierung. Investitionen werden nicht
berücksichtigt. Dies gilt entsprechend auch für soziale Investitionen.
Dennoch
werden die Arbeiten zu sozialen Investitionen weiterverfolgt. Jetzt sogar als
gemeinsames Thema von EPSCO und ECOFIN. Auf der gemeinsamen Sitzung der beiden
Ministerräte herrschte Einigkeit, dass gut funktionierende und integrative Sozialschutzsysteme
Schlüsselkomponenten einer sozial und wirtschaftlich widerstandsfähigen
Gesellschaft seien. Soziale Investitionen verbessern die Möglichkeiten und
Fähigkeiten der Menschen, heutige und zukünftige gesellschaftliche Risiken besser
zu bewältigen. So verfolgen Sozialinvestitionen die Ziele, sowohl die
Erwerbsbeteiligung als auch die Produktivität von Erwerbstätigen zu erhöhen.
Die
Einordnung sozialer Investitionen als einen wichtigen wachstumsfördernden
Beitrag ist somit ein wichtiger Baustein, um die Bedeutung des Sozialen und der
Sozialversicherung auf europäischer Ebene weiter zu stärken.
Gemeinsam
haben Belgien und Spanien im Zusammenhang mit ihrem Ratsvorsitz im Juli 2023 eine
informelle Arbeitsgruppe für Sozialinvestitionen (IWGSI) ins Leben gerufen.
Diese soll fundierte Argumente für den Mehrwert sozialer Investitionen und
Reformen bei der Förderung von sozialem Zusammenhalt, Wirtschaftswachstum und
fiskalischer Nachhaltigkeit zusammentragen. Denn es gilt, auf europäischer
Ebene wird nur berücksichtigt, was auch gemessen wird.
Am
Ende haben sich alle Mitgliedstaaten zusammen mit der Europäischen Kommission,
dem Europäischen Parlament sowie Delegierten der Ausschüsse des EPSCO und des
ECOFIN-Rates in dieser informellen Arbeitsgruppe engagiert. Auch die
Sozialpartner waren einbezogen. Dies belegt die Bedeutung, die diese Akteure
sozialen Investitionen beimessen.
Die informelle Arbeitsgruppe hat fünf Politikfelder für
soziale Investitionen identifiziert, für die sich ein positiver Zusammenhang zu
Wirtschaftswachstum und fiskalischer Nachhaltigkeit empirisch nachweisen lässt.
Hierbei handelt es sich um
(1) lebenslanges Lernen und Weiterbildung,
(2) Bildung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf,
(3) Arbeitsschutzmaßnahmen und Rehabilitation,
(4) aktive Arbeitsmarktpolitiken sowie
(5) Verringerung
Arbeitsmarktsegmentierung und Grenzsteuerbelastung.
Die technischen
Arbeitsgruppen der EU sollen den Auftrag erhalten, Vorschläge zu entwickeln,
wie die Wirkung sozialer Investitionen auf die Produktivität, das Wirtschaftswachstum
und die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen gemessen werden können.
Die Konferenz
in La Hulpe wirft ihren Schatten voraus.
Am 15.
und 16. April veranstaltet die belgische Ratspräsidentschaft in La Hulpe eine hochrangige
Konferenz zur Weiterentwicklung der europäischen
Säule sozialer Rechte (ESSR). Ziel ist, die zentralen sozialpolitischen
Prioritäten für die nächste Legislaturperiode der EU zu formulieren. Die
Arbeits- und Sozialminister haben im Vorfeld der Konferenz ihre Prioritäten für die Weiterentwicklung der ESSR formuliert.
Seit
ihrer Proklamation im Jahr 2017 treibt die ESSR – die „Säule“ - die
Fortentwicklung des Sozialen Europas voran. Sie ist die Grundlage vieler
konkreter arbeitsmarkt-, sozial- und gesundheitspolitischen Vorhaben auf
europäischer Ebene. Ihre 20 Grundsätze und Rechte reichen vom Recht auf
Chancengleichheit und einem gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, über
faire Arbeitsbedingungen bis hin zum Sozialschutz und zur Inklusion. Diese
bilden die Richtschnur für ein starkes soziales Europa. Dabei ist die soziale
Konvergenz nach oben als grundlegendes Ziel in der Säule verankert.
Die
ESSR ist im Laufe der Zeit schrittweise weiterentwickelt worden. Heute werden
Fortschritte in den gemeinsamen Grundsätzen durch ein Social Scoreboard
abgebildet. Auf dem Sozialgipfel in Porto haben die Staats- und Regierungschefs
im Mai 2021 ihr Bekenntnis zur Säule erneuert und konkrete
sozialpolitische Ziele für die EU und Ihre Mitgliedstaaten bis 2030
beschlossen. Die Fortschritte bei der Zielerreichung, aber auch über alle
Politikbereiche der Säule, werden im europäischen Semester überwacht. Grundlage
hierfür ist der jährliche gemeinsame Beschäftigungsbericht.
Seitdem
es die Säule gibt, sind auch die sozialen Sicherungssysteme in Europa vor
vielfältige neue Herausforderungen gestellt worden, so beispielsweise durch die
Covid-19-Pandemie und die Folgen des russischen Angriffskriegs. Damit ist deren
Resilienz, also ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber nicht vorhersehbaren
externen Schocks, zu einem zentralen Thema geworden. Aber auch das
Zusammenspiel mit wichtigen europäischen Politikzielen wie des europäischen
Grünen Deals oder der Maßnahmen gegen den Klimawandel gilt es zu gestalten. Die Ratsempfehlung von 2022 zur Gewährleistung eines fairen Übergangs zur Klimaneutralität wird
dabei als gelungenes Beispiel angeführt, um die beschäftigungspolitischen und
sozialen Aspekte des grünen Übergangs anzugehen.
Die
Arbeits- und Sozialminister greifen diese Herausforderungen auf und benennen
ihre Prioritäten für die Weiterentwicklung der Säule. Ganz oben steht die
bessere Verzahnung zwischen finanzpolitischen und sozial- und
arbeitsmarktpolitischen Zielen. Dies gilt für das Europäische Semester, aber
auch die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene über die Ressortgrenzen hinweg. Ein
erster Schritt war die erste gemeinsame Sitzung der Ministerräte zu Finanzen
und zu Arbeit und Soziales am 12. März. Aber auch das Berichtswesen gilt es besser aufeinander abzustimmen.
Als Beispiel werden die in diesem Jahr erscheinenden Berichte zu angemessenen
Renten und Tragfähigkeit der Sozialschutzsysteme aufgeführt.
Ein
weiterer Fokus soll auf dem Lebenszyklus-Ansatz liegen, den die von der EU-Kommission
eingesetzte Expertengruppe zur Zukunft des Wohlfahrtstaates in ihrem Abschlussbericht vorgeschlagen hat. Dabei wird zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen in
unterschiedlichen Lebensphasen unterschieden. Dies ermöglicht zu definieren,
welche Kombination von Sozialdienstleistungen, Einkommensunterstützung und
unterstützenden Regelungen erforderlich ist, um einen wirksamen Sozialschutz
und Wohlstand über den gesamten Lebensverlauf zu erreichen.
Am 11.
März hat der EPSCO den diesjährigen gemeinsamen
Beschäftigungsbericht verabschiedet. Zur Unterstützung der Konvergenz nach
oben wird in diesem erstmals das Social
Convergence Framework umgesetzt. Dabei werden in einem ersten Schritt
Risiken für die Konvergenz nach oben für alle 27 Mitgliedstaaten identifiziert
sowie die Länder benannt, für die eine vertiefende Analyse notwendig ist. Bei
diesen handelt es sich um Bulgarien, Estland, Ungarn, Italien, Litauen,
Rumänien und Spanien. Für diese Länder werden nun länderspezifische
Konvergenzberichte erstellt.
Im
Rahmen der Konferenz von La Hulpe im April soll eine Erklärung über die Zukunft
des sozialen Europas angenommen werden. Diese soll von den EU-Institutionen
(Europäische Kommission, Europäisches Parlament und Rat der EU), den
Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft unterzeichnet werden. Ziel der
Erklärung ist es, die künftige Sozialagenda für den Zeitraum 2024-2029
vorzubereiten und die ESSR als sozialpolitischen Kompass der EU für die
kommenden Jahre zu bekräftigen.
Zwischen Hoffen und Bangen.
Die
Europawahlen stehen kurz vor der Tür. Die spürbaren Folgen des Klimawandels,
Lösungen für die Migrationsfrage, die langfristige Sicherung und
Weiterentwicklung des europäischen Sozialmodells sowie neue außenpolitische
Bedrohungen und Konflikte stellen alle in Europa vor großen Herausforderungen.
Gleichzeitig sehen sich die Europäische Union (EU) und die Mitgliedstaaten mit
einem starken Aufkommen populistischer und extremer Bewegungen im Inneren
konfrontiert. Nach aktuellen Umfragen werden vor allem rechtspopulistische
Kräfte gestärkt aus den Europawahlen im Juni hervorgehen. Auch in Deutschland
zeigen sich deshalb viele Politikerinnen und Politiker aus den verschiedenen
politischen Lagern besorgt. Woran liegt es, dass antieuropäische und
rechtspopulistische Parteien europaweit immer stärker werden? Wie wollen die
etablierten Parteien dem entgegentreten, um die Gunst der Wählerstimmen
zurückzugewinnen? Werden veränderte Kräfteverhältnisse in der EU die
europäische Sozialpolitik von morgen beeinflussen? Und heißt es an dieser
Stelle: Hoffen oder Bangen?
Diese Fragen wollen wir am 21. März in Berlin in einer gemeinsamen
Veranstaltung der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft (GVG) und der
Deutschen Sozialversicherung (DSV) mit Abgeordneten des deutschen Bundestages diskutieren.
Die vergangene Legislaturperiode war von der gemeinsamen
Bewältigung der Covid-19-Pandemie sowie dem Umgang mit dem russischen Angriffskrieg
gegen die Ukraine und dem damit einhergehenden sprunghaften Anstieg der
Inflation geprägt. Gleichzeitig hat die EU wichtige Weichen für die Zukunft
Europas gestellt: Das europäische Sozialmodell mit der europäischen Säule
sozialer Rechte hat weiter Gestalt angenommen. Mit dem europäischen Grünen Deal
und der digitalen Dekade ist der Rahmen für ein zukunftsfähiges Europa
geschaffen worden. Wird die EU in der Lage sein, diesen Weg fortzuführen und
diese drei wichtigen Politikfelder zusammenzuführen?
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben viele vermeintliche Gewissheiten
erschüttert. Es scheint, als hätten viele Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen
in die Zukunftsfähigkeit Europas verloren. Eine Reaktion auf die zunehmend
komplexer werdenden Herausforderungen und die damit einhergehenden schwierigen
Entscheidungsfindungen auf europäischer Ebene ist der Glaube an vermeintlich
einfache Lösungen auf nationaler Ebene.
Nach aktuellen Umfragen werden populistische, extreme und
antieuropäische Kräfte im Europäischen Parlament einen deutlichen Wählerzuwachs
verzeichnen, während die etablierten Parteien Sitze verlieren. Auch die aktuellen
Umfragen für die anstehenden nationalen Wahlen - beispielsweise in Belgien,
Österreich oder Rumänien - sehen ein Erstarken der antieuropäischen Kräfte. Gemeinsame
politische Lösungen im Rat und im Europäischen Parlament werden dadurch
erschwert.
Wie können die EU und seine Institutionen das Vertrauen der
Bürgerinnen und Bürger in eine gemeinsame europäische Zukunft (zurück)gewinnen?
Am 21. März laden die GVG und die DSV mit Blick auf die
anstehenden Herausforderungen zu einer hochkarätig besetzten Veranstaltung in
Berlin ein: „Zwischen Hoffen und Bangen: Die Europawahl, Rechtsruck und die
Sozialpolitik von morgen.“
Auf dem Podium werden der Bundestagsabgeordnete und ehemalige
Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Ralph Brinkhaus; die
stellvertretende Sprecherin der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales der SPD,
Angelika Glöckner; der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für die
Angelegenheiten der Europäischen Union, Dr. Anton Hofreiter (Bündnis 90/Die
Grünen); und die Obfrau der FDP-Fraktion im Bundestagsausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union, Dr. Ann-Veruschka Jurisch, ihre
Vorstellungen und Ideen für ein zukunftsfähiges Europa diskutieren. Zur
Anmeldung für die Veranstaltung geht es hier.
Die Reform des Koordinierungsrechts wird in dieser
Legislaturperiode nicht abgeschlossen.
Mit der Reform des Rechts zur Koordinierung der Systeme der sozialen
Sicherheit – der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und ihrer Durchführungsverordnung
(EG) 987/2009 – wird es vorerst nichts. Der belgische Vizepremier und
Gesundheitsminister Frank Vandenbrouke hat am 14. Februar im Ausschuss für
Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (EMPL) offiziell gemacht, was seit
dem gescheiterten Kompromissvorschlag von Ende Januar im Grunde klar war: Das
Dossier wird von der belgischen Ratspräsidentschaft nicht weiterverfolgt. Damit
ist es auch in der zweiten Legislaturperiode nicht gelungen, den Vorschlag
der Europäischen Kommission vom 13. Dezember 2016 für eine Revision des
Koordinierungsrechts erfolgreich auszuhandeln.
Die
belgische Ratspräsidentschaft hatte vorgeschlagen, die verbliebenen strittigen
Punkte gesondert zu verhandeln. Hierbei handelt es sich um den Mechanismus zur
Feststellung der Sozialversicherungspflicht von Beschäftigten im EU-Ausland über
die A1-Bescheinigung und um das Arbeitslosengeld für grenzüberschreitende Arbeitskräfte.
Dies war mit dem zuständigen EMPL-Ausschuss nicht zu machen. Damit war der Weg
für das Aus in der sich ohnehin auf ihr Ende zubewegenden Legislaturperiode
vorgezeichnet.
Die Berichterstatterin für das Gesetzesverfahren, Gabriele
Bischoff (S&D, DE) ließ zu der Ratsentscheidung wissen, das Europäische
Parlament bleibe weiter am Ball. Man sei weiterhin offen für einen Kompromiss,
ob in dieser oder in der nächsten Legislaturperiode. In einer Presseerklärung
vom 15. Februar der EMPL-Verhandler heißt es: „Die mangelnde Bereitschaft
des belgischen Ratsvorsitzes, die Bemühungen des spanischen Ratsvorsitzes um
einen Gesamtkompromiss fortzusetzen, ist enttäuschend.“ Aber eine Aufspaltung
der Themen sei nicht zu akzeptieren. Nur Teile der Reform abzuschließen, würde bedeuten,
auf wesentliche Punkte seiner Position auf unbestimmte Zeit zu verzichten. Man
sei an einem ausgewogenen Paket interessiert. Im Übrigen ließe sich das
Parlament nicht in Geiselhaft nehmen, weil die Mitgliedstaaten Schwierigkeiten
haben, einen gemeinsamen Standpunkt zu finden.
In der Tat ist es in der Vergangenheit zweimal gelungen,
eine vorläufige Einigung zwischen Parlament und Rat zu erzielen – im Frühjahr 2019
und im Dezember 2021. Beide Male wurde der Kompromiss von den Mitgliedstaaten
abgelehnt. Das Dossier wird wohl nun in der nächsten Legislaturperiode wieder
aufgenommen. Ob Gabriele Bischoff dann weiterhin die Fäden für die
Verhandlungen auf Parlamentsseite in den Händen halten wird, ist nicht
gesichert, aber wahrscheinlich. Mit ihrem Listenplatz 1 auf der Berliner
Landesliste der SPD für die Europawahl stehen ihre Chancen sehr gut, am 1. Juli
ins neu besetzte Parlament einzuziehen. Vieles spricht dafür, dass sie ihre
Expertise zum Koordinierungsrecht in die Waagschale werfen wird, wenn die
Zuständigkeiten für die Gesetzesverfahren neu verteilt werden.
Auch
die zweite vorläufige Einigung erhält keine ausreichende Unterstützung im Rat.
Der
belgische Ratsvorsitz konnte am 16. Februar nicht die nötige Unterstützung der
Mitgliedstaaten für die im Trilog gefundene vorläufige Einigung zur
Plattformarbeit finden. Die Formulierung zur widerlegbaren
Beschäftigungsvermutung, die der Statusfeststellung von Plattformbeschäftigten
zugrunde liegen soll, blieb bis zuletzt umstritten und war im Rat nicht
konsensfähig. Nach der Ablehnung der noch unter spanischer Ratspräsidentschaft
erzielten Einigung am 22. Dezember 2023, ist dies bereits das zweite Mal, dass die von den Unterhändlern des EU-Parlaments und des Rates erzielte vorläufige Einigung im Ausschuss der Ständigen Vertreter
(AStV) keine qualifizierte Mehrheit gefunden hat. Damit besteht kaum noch
Hoffnung, dass das Dossier rechtzeitig vor dem Ende der parlamentarischen
Arbeit und dem Beginn des EU-Wahlkampfes erfolgreich abgeschlossen werden kann.
Am 8.
Februar hatten die Verhandlungsführerinnen und -führer des Europäischen
Parlaments und des Rats in ihrer vorläufigen Einigung abgesprochen, das Kapitel
über „Algorithmisches Management am Arbeitsplatz“ der vorläufigen Einigung vom
Dezember unverändert zu übernehmen. Der Abschnitt zur Feststellung des
Beschäftigungsstatus ist jedoch stark verändert worden. So ist auf
harmonisierte Bedingungen für die Auslösung der widerlegbaren
Beschäftigungsvermutung verzichtet worden. Stattdessen wurde ein Verweis auf
„Tatsachen“ aufgenommen, der auf eine Kontrolle und Leitung gemäß der in den
Mitgliedstaaten geltenden nationalen Rechtsvorschriften unter Berücksichtigung
der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) verweist. Gleichzeit verpflichtete der Text
die Mitgliedsstaaten, eine widerlegbare Beschäftigungsvermutung in ihren
nationalen Systemen zu schaffen - ohne auf die Einzelheiten ihrer Anwendung
einzugehen.
Der
von Frankreich geforderte Zusatz in den Erwägungsgründen, wonach ein Indikator
der widerlegbaren Beschäftigungsvermutung nicht als erfüllt gilt, wenn dies
Folge nationalen Rechts oder gewerkschaftlicher Vereinbarungen ist, hatte
hingegen nicht Eingang in die Einigung gefunden. Die Parlamentarier
kritisierten, dass dadurch digitale Arbeitsplattformen die Statusfeststellungen
aushebeln könnten, indem sie Vereinbarungen mit nicht repräsentativen oder auch
selbst gegründeten Gewerkschaften treffen.
Für
die Billigung des Gesetzentwurfes wird im Rat eine qualifizierte Mehrheit
benötigt. Hierfür müssen mindestens 55 Prozent der Mitgliedstaaten, die
mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der Europäischen Union (EU)
vertreten, dafür stimmen. Enthaltungen werden somit wie Gegenstimmen gewertet. In
der Abstimmung haben sich Estland, Griechenland, Deutschland und Frankreich
enthalten. Damit haben zwar mehr als die erforderlichen 15 Mitgliedstaaten
zugestimmt. Diese 23 Mitgliedstaaten repräsentieren jedoch nur 63,66 Prozent
der Bevölkerung der EU. Damit wird das zweite Kriterium für eine qualifizierte
Mehrheit nicht erfüllt.
Die
belgische Ratspräsidentschaft versucht weiterhin eine qualifizierte Mehrheit zu
organisieren und will das Dossier auf dem Rat „Beschäftigung, Sozialpolitik,
Gesundheit und Verbraucherschutz“ (EPSCO) auf Ministerebene diskutieren. Sehr
wahrscheinlich ist dies die letzte Möglichkeit, das Dossier in dieser
Legislaturperiode abzuschließen.
Das Europäische Parlament legt seine Verhandlungsposition
fest.
Wenn das Europäische
Parlament am 27. Februar in Straßburg zusammenkommt, wird es auch zu den
meisten Dossiers im Gesetzespaket zum Schutz des geistigen Eigentums seinen
Standpunkt beschließen. Darunter befinden sich auch die beiden Dossiers zu
Schutzzertifikaten für Arzneimittel. Vorlage für die Entscheidung im Plenum
werden die Berichte von Tiemo Wölken (S&D, DE) zum einheitlichen
ergänzenden Zertifikat und zur Neufassung
der Verordnung zum ergänzenden Schutzzertifikat für Arzneimittel sein, die
am 24. Januar im zuständigen Rechtsausschuss (JURI) des Europäischen Parlaments
abgestimmt worden sind.
Auch wenn grundsätzlich weitere Änderungen im Plenum möglich
sind, die Berichte des Rechtsausschusses (JURI) zeigen, mit welchen Verhandlungsschwerpunkten die
Unterhändler des Parlaments in den Trilog ziehen werden. Handlungsleitend war
für die Abgeordneten im Ausschuss, dass es bei den Schutzzertifikaten – wie bei
der Reform des Arzneimittelrechts - entscheidend darauf ankommt, eine gesunde Balance
zwischen dem rechtzeitigen Eintritt von Generika und Biosimilars und damit dem
Wettbewerb auf der einen Seite und dem Erhalt der Innovations- und
Wettbewerbsfähigkeit der europäischen pharmazeutischen Hersteller auf der
anderen Seite zu wahren.
Schutzzertifikate wirken wie Patente und schützen ein
Originalpräparat vor Konkurrenz. Sie haben zum Zweck, den Hersteller über
zusätzliche Schutzzeiten von bis zu fünf Jahren für die zum Teil langen und
aufwendigen Verfahren zu kompensieren, die notwendig sind, um ein Produkt zur
Marktzulassung zu bringen. Die Abgeordneten möchten mit der Einführung eines
einheitlichen europäischen Schutzzertifikats die Chance nutzen, dieses zu einem
Instrument auszubauen, das dabei hilft, dass neue Arzneimittel auf möglichst
vielen Märkten erhältlich sind. Dazu soll der Inhaber des Zertifikats die
Rechte aus diesem per Lizenz vergeben können, wenn er selbst kein Interesse an
einer Vermarktung hat.
Um europäische Hersteller vor Wettbewerbsnachteilen zu
schützen, sollen die Rechte aus Schutzzertifikaten aber auch eingeschränkt
werden können. Nämlich dann, wenn die Herstellung des Arzneimittels
ausschließlich zum Zweck der Ausfuhr in Drittländer erfolgen soll. Schließlich würden
die Schutzrechte auch nicht für die Konkurrenten aus den Drittländern gelten.
In diesen Fällen soll die Herstellung des Arzneimittels auch ohne Zustimmung
des Zertifikatsinhabers erfolgen können.
Im JURI ist man auch der Meinung, dass es in bestimmten
Fällen erforderlich sein könnte, Entscheidungen über die Vergabe von ergänzenden
Schutzzertifikaten schneller herbeizuführen. Dafür soll ein beschleunigtes
Prüfungsverfahren eingerichtet werden. Der Verfahrenseffizienz soll dienen, dass
alle Antrags-, Stellungnahme-, Beschwerde- und sonstige Verwaltungsprozesse verpflichtend
elektronisch erfolgen. Den zuständigen Ämtern – im Falle des einheitlichen
europäischen Zertifikats das Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO)
mit Sitz in Alicante und im Falle national zu vergebender ergänzender
Schutzzertifikate die nationalen Patentämter – sollen verpflichtet werden,
innerhalb von sechs Monaten, beziehungsweise vier Monaten in einem
beschleunigten Verfahren, über die Anträge zu entscheiden. Die Fristen waren
für die Abgeordneten offenbar so wichtig, dass sie deren Festlegung nicht den Durchführungsrechtsakten
durch die Europäische Kommission überlassen wollten.
Schon in den Verordnungsentwürfen der Europäischen
Kommission fanden sich Vorgaben zur Einrichtung von Registern - sowohl für die
Einheitsbescheinigung als auch für die national zu vergebenden Zertifikate. In
diesen sollen neben den Grundangaben zum Antrag auch Laufzeiten der Zertifikate
und Verfahrensinformationen zusammengeführt werden. Der JURI drängt darauf,
dass diese Register öffentlich zugänglich gemacht werden und diese auch Angaben
zur direkten finanziellen öffentlichen Unterstützung der Entwicklung des
Produkts aufzunehmen. Sein Vorschlag geht aber nicht so weit wie jener der Grünen bei
der Arzneimittelreform. Die grünen Schattenberichterstatterinnen hatten vorgeschlagen, die Daten des Auslaufens von
Patentschutz und regulatorischem Schutz gemeinsam transparent zu machen. Eine
Forderung, die den Generikawettbewerb unterstützen soll und welche die DSV
uneingeschränkt teilt. Vielleicht könnte dieser Gedanke im Trilog zur Reform
des Schutzes des geistigen Eigentums aufgegriffen werden?
Das Europäische Parlament bestätigt neue Grenzwerte für
die Exposition am Arbeitsplatz.
Am 7. Februar 2024 hat das Europäische
Parlament der vorläufigen Trilogeinigung zur Änderung
der Richtlinie hinsichtlich der Expositionsgrenzwerte für Blei und
seine anorganischen Verbindungen und Diisocyanate mit hoher Mehrheit im Plenum zugestimmt.
Der Abstimmung war eine Parlamentsdebatte vorausgegangen,
in welcher die Abgeordneten die Bedeutung der neuen Vorschriften für die
Gesundheit und Sicherheit der Beschäftigten betont haben. In
der Europäischen Union (EU) sind jedes Jahr etwa 50.000 bis 150.000 Beschäftigte
Blei sowie 4,2 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Diisocyanaten ausgesetzt.
Beide Stoffe finden Verwendung in Batterien und Dachmaterial, wie auch bei der
Herstellung von Windturbinen und Elektrofahrzeugen.
Die Richtlinie wird nun zum ersten Mal seit 1982 den Grenzwert
für die berufsbedingte Exposition gegenüber Blei aktualisieren und auf 0,03
mg/m3 senken. Der biologische Grenzwert für Blei wird ab dem 1.
Januar 2029 auf 15 µg/100 ml herabgesetzt, bis dahin gilt übergangsweise ein
Grenzwert von 30 µg/100 ml. Laut der Europäischen Chemikalienagentur kann die Exposition gegenüber Blei zu
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nierenerkrankungen, Bluthochdruck oder
Fruchtbarkeitsstörungen führen. Für Frauen im gebärfähigen Alter sowie
Beschäftigte, die bereits längerer Zeit Blei ausgesetzt waren, werden daher weitere
Gesundheitsüberwachungsmaßnahmen eingeführt.
Bei Diisocyanaten handelt es sich um chemische
Arbeitsstoffe, die bei berufsbedingter Exposition Auswirkungen auf die
Gesundheit der Atemwege und der Haut haben können. Die Richtlinie legt nun erstmalig
auch hierfür einen Expositionsgrenzwert fest. Als maximale Konzentration, der
ein Arbeitnehmer während eines achtstündigen Arbeitstages ausgesetzt sein darf,
wird 6 µg NCO/m3 festgelegt. Für die kurzzeitige Exposition von 15
Minuten ist ein Grenzwert von 12 µg NCO/m3 vorgesehen.
Der Rat wird am 26. Februar 2024 über die Verabschiedung
des Gesetzgebungsakts formell abstimmen. Sofern der Rat die neuen Vorschriften ebenfalls bestätigt,
wird die Richtlinie im Amtsblatt der EU veröffentlicht und tritt 20 Tage später
in Kraft.
Die Europäische Kommission legt Vorschlag für
Ratsempfehlungen zur Krebsbekämpfung durch Impfungen vor.
Die Europäische Kommission hat am 31. Januar einen Vorschlag
für Ratsempfehlungen zu durch Impfung verhütbare Krebsarten veröffentlicht. Im
Mittelpunkt des Vorschlags steht, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union
(EU) bei der Prävention und Verringerung des Krebsrisikos durch humane
Papillomaviren (HPV) und Hepatitis-B-Viren (HBV) zu unterstützen. Dazu sollen
die Durchimpfungsraten erhöht und die Impfraten besser überwacht werden. Die
Initiative geht auf den Europäischen
Plan zur Krebsbekämpfung zurück, der das Ziel verfolgt, bis 2030 eine
HPV-Impfrate von 90 Prozent bei Mädchen und jungen Frauen zu erreichen und
deutlich mehr Jungen zu impfen. Auch die HBV-Impfrate soll erhöht werden.
HPV sind Viren, die Zellen der Haut und der Schleimhäute
befallen. Sie sind die Hauptursache für Gebärmutterhalskrebs. Jedes Jahr
erkranken im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) etwa 28.600 Menschen an
Gebärmutterhalskrebs, 13.700 sterben daran.
HBV sind Viren, die eine Infektion der Leber verursachen
können, die akut oder chronisch verlaufen kann und das Risiko für Leberzirrhose
und Leberkrebs erhöht. Im Jahr 2021 meldeten 30 EU- und EWR-Länder 16.187 neu
diagnostizierte HBV-Infektionen, von denen ein großer Teil (43 Prozent) als
chronisch eingestuft wurde.
Innerhalb der EU gibt es große Unterschiede, insbesondere
bei den Durchimpfungsraten gegen HPV. In einigen EU-Mitgliedstaaten liegt die
HPV-Durchimpfungsrate bei Mädchen bei 90 Prozent, in anderen bei unter 50 Prozent.
Für Jungen und junge Erwachsene liegen derzeit nur begrenzte Daten über die
Durchimpfungsraten vor. Die Daten einer kürzlich von der OECD veröffentlichten Cancer
Inequality Study zeigen, dass mehr als 90 % der Mädchen in Island,
Portugal und Norwegen die empfohlenen Dosen des HPV-Impfstoffs zur Vorbeugung
von Gebärmutterhalskrebs erhalten - mehr als doppelt so viele wie in Bulgarien,
Frankreich, Luxemburg, Slowenien und Lettland. Sozioökonomische Ungleichheiten
sind bei den meisten Risikofaktoren zu beobachten, und zwar zum Nachteil von
Menschen mit niedrigerem Bildungsstand oder Einkommen.
Die Europäische Kommission schlägt in ihrem Entwurf 16
Maßnahmen vor, wie Infektionen mit den krebserregenden HPV und HBV besser
verhindert werden können. Im Mittelpunkt steht dabei die Einführung oder
Verstärkung nationaler Impfprogramme, unter anderem durch die Bereitstellung
kostenloser Impfungen und/oder die vollständige Erstattung der Impfkosten für
Personen, für die eine Impfung empfohlen wird. Daneben soll der Zugang für
besonders gefährdete und gegebenenfalls benachteiligte Gruppen verbessert
werden. In diesem Zusammenhang spielen Impfprogramme in Schulen und
Bildungseinrichtungen eine wichtige Rolle.
Zur besseren Überwachung werden die Mitgliedstaaten
aufgefordert, die HPV- und HBV-Impfung stärker in die nationalen
Krebspräventionsprogramme zu integrieren und für eine bessere Verknüpfung von
Impf- und Krebsregistern zu sorgen. Ein weiterer Schwerpunkt soll auf einer verstärkten
Aufklärungsarbeit liegen, insbesondere durch die Betonung der Vorteile von
Impfungen bei Eltern, Jugendlichen und Zielgruppen sowie die Bekämpfung von
Falsch- und Fehlinformationen.
Von den vorgeschlagenen Maßnahmen kann auch Deutschland
profitieren. In Deutschland liegen die HPV-Impfquoten für eine vollständige
Impfserie bei 15-jährigen Mädchen derzeit bei 54 Prozent und bei Jungen bei 27
Prozent. Die Deutsche Sozialversicherung (DSV) begrüßt deshalb die Initiative der
Europäischen Kommission. Die deutschen Sozialversicherungsträger unterstützen
und finanzieren im Rahmen ihrer Zuständigkeit die Durchführung aller von der
Ständigen Impfkommission (STIKO) empfohlenen Impfungen bei ihren Versicherten
und informieren darüber. Im Falle der HPV-Impfung gehen die Krankenkassen in
vielen Fällen sogar über die STIKO-Empfehlungen hinaus. Im Rahmen des
Präventionsengagements der Sozialversicherungsträger werden zudem zahlreiche
Projekte unterstützt, die insbesondere in Schule und Arbeitswelt aufklären und
auf Schutzmöglichkeiten hinweisen. Bereits im Februar 2023 hatte sich die DSV
in einem Feedback dazu positioniert.
Der Vorschlag für die Ratsempfehlungen wird nun an den Rat
überführt. Der Rat plant, die nicht bindenden Ratsempfehlungen im EPSCO (Rat
für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz) am 21. Juni
formell anzunehmen.
EU und Sozialpartner verpflichten sich zur
Stärkung des sozialen Dialogs.
Am
31. Januar 2024 haben die Europäische Kommission, der belgische Ratsvorsitz und
die europäischen Sozialpartner auf einem Sozialpartnergipfel in Val Duchesse
eine „Dreigliedrige Erklärung für
einen dynamischen europäischen sozialen Dialog“
unterzeichnet. Die Erklärung versteht sich als ein erneutes Bekenntnis zur
Stärkung des sozialen Dialogs auf Ebene der Europäischen Union (EU) und zur
gemeinsamen Bewältigung der Herausforderungen, mit denen Volkswirtschaften und
Arbeitsmärkte in der EU konfrontiert sind. Das Ziel ist, florierende
Unternehmen, hochwertige Arbeitsplätze und Dienstleistungen sowie verbesserte
Arbeitsbedingungen zu schaffen.
Im Rahmen der Erklärung verpflichten sich die Europäische Kommission,
der Rat und die europäischen Sozialpartner zu einer Reihe von Maßnahmen.
Arbeitskräftemangel und Qualifikationsdefizite sind
von entscheidender Bedeutung für nachhaltiges Wachstum und die
Wettbewerbsfähigkeit der EU. Vor diesem Hintergrund verpflichten sich die Unterzeichner
in der Erklärung, ihren Teil dazu beizutragen, mehr Menschen auf den
Arbeitsmarkt zu bringen, Arbeitsbedingungen zu verbessern, die Anerkennung von
Qualifikationen zu erleichtern und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem
Ausland besser zu integrieren. Darüber hinaus will die Europäische Kommission
in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern bis Frühjahr 2024 einen Aktionsplan
zur Bekämpfung von Arbeitskräftemangel und Qualifikationsdefiziten vorlegen.
Der soziale Dialog ist ein Prozess, der in den
Artikeln 151 bis 156 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) hinsichtlich
der Teilnehmer, Befugnisse und Verfahren genau geregelt ist. Seine Rolle als
wesentlicher Bestandteil des europäischen Sozialmodells und der europäischen
Demokratie unterscheidet sich von anderen Formen der Konsultation, wie zum
Beispiel dem Dialog mit der Zivilgesellschaft, dessen Funktionsweise nicht in
den Verträgen verankert ist. Die Europäische Kommission, der Rat und die
europäischen Sozialpartner bekräftigen deshalb ihre Verpflichtung, die Rolle
der Sozialpartner und den Sozialdialog zu fördern.
Um die Rolle des sozialen Dialogs auf europäischer
und nationaler Ebene zu fördern und zu stärken, soll ein Beauftragter oder eine
Beauftragte für den europäischen sozialen Dialog eingesetzt werden. Der oder
die unparteiische Beauftragte soll die Umsetzung der Mitteilung der Europäischen Kommission über die
Stärkung des sozialen Dialogs in der EU unterstützen und koordinieren sowie die Anlaufstelle in der Europäischen
Kommission für die Sozialpartner sein.
Laut der Erklärung soll eine Reihe von Treffen mit
den europäischen Sozialpartnern stattfinden, um Möglichkeiten zur weiteren Stärkung
des europäischen sozialen Dialogs zu erarbeiten. Diese sollen unter anderem die
institutionelle und finanzielle Unterstützung des europäischen sozialen Dialogs
auf allen Ebenen umfassen sowie den Kapazitätsaufbau der Sozialpartner, auch in
den EU-Beitrittskandidatenländern. Dies soll bis Anfang 2025 in einen „Pakt für
den europäischen sozialen Dialog“ münden.
Wie lässt sich die Rentenlücke schließen?
Am 8.Februar fand die High Level Conference der belgischen Ratspräsidentschaft zum Thema „Gender Pension Gap“ in Brüssel statt. Die geschlechtsspezifische Rentenlücke - auch Gender Pension Gap - beschreibt die Unterschiede in den Alterssicherungseinkommen von Frauen gegenüber Männern. Über die Frage, wie sich diese Rentenlücke zukünftig verringern lässt, diskutierten hochrangige Politikerinnen und Politiker mit den Fachexpertinnen und Fachexperten von Europäischer Kommission und den Mitgliedstaaten; darunter die belgische Ministerin für Renten und soziale Integration, Karine Lalieux, der belgische Minister für Mittelstand und Selbstständige, David Clarinval, sowie der deutsche Staatssekretär des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Dr. Rolf Schmachtenberg.
Der Gender Pension Gap gibt die Unterschiede in den Erwerbsbiografien von Männern und Frauen wieder. Dazu zählt zum Beispiel die ungleiche Verteilung zwischen bezahlter Erwerbsarbeit sowie die ungleiche Verteilung der unbezahlten Sorgearbeit zwischen Männern und Frauen, also Kinderbetreuung oder Altenpflege, aber auch familiäre Unterstützung, häusliche Pflege oder Hilfe unter Freunden. Zudem arbeiten Frauen häufiger in Teilzeit als Männer und unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit aus familiären Gründen häufiger und länger. Außerdem liegen die Verdienste von Frauen weiterhin deutlich unter denen von Männern (Gender Pay Gap).
Der Gender Pension Gap ist jedoch nicht als Ausdruck einer prekären Einkommenssituation von Frauen im Alter zu deuten. Die Einkommenssituation von Frauen im Alter hängt von der Einkommenssituation des Haushaltes ab, in dem sie leben. Einbezogen werden auch weitere Einkommensquellen wie beispielsweise Kapitaleinkommen, Einkommen aus Verpachtung und Vermietung oder aus Erwerbstätigkeit weiterer Haushaltsmitglieder. Die geschlechtsspezifische Rentenlücke betrachtet also nicht nur das eigenständige Alterseinkommen von Frauen, sondern auch deren ökonomische Abhängigkeit.
Die Rentenlücke bezieht sich maßgeblich auf Frauen, die heute in Rente sind, das heißt, deren Erwerbsleben überwiegend vor 1970 begann. Zu dieser Zeit waren traditionellere Partnerschaftsmodelle, in denen zum Beispiel nur der Mann erwerbstätig war, noch wesentlich verbreiteter als heute. Rollenverständnisse und Lebensentwürfe haben sich jedoch stark verändert. Dies zeigt sich auch im stetigen Anstieg der Erwerbsbeteiligung von Frauen, die seit dem Jahr 2002 in der Europäischen Union (EU) um knapp zwölf Prozent und in Deutschland um gut 14 Prozent gestiegen ist.
Neben der Erwerbsbiografie hat aber auch die Ausgestaltung der Rentensysteme einen direkten Einfluss auf den Gender Pension Gap und damit auf dessen Reduzierung. Im Rahmen der Konferenz der belgischen Ratspräsidentschaft wurde dies exemplarisch anhand von Best Practise-Beispielen verdeutlicht.
So stellte Susan Kuivalainen vom „Finish Center for Pensions“ einen einfach zugänglichen Rentenrechner vor, der es finnischen Versicherten ermöglicht, die Folgen einer Reduzierung ihrer Erwerbstätigkeit auf ihr zukünftiges Alterseinkommen abzufragen. Dina Frommert von der Deutschen Rentenversicherung erläuterte das Rentensplitting, das während der Ehe erworbenen Alterssicherungsansprüche im Falle einer Scheidung aufteilt. Giselda Curvers und Dries van der Bosch erklärten zudem die positive Wirkung der Grundrente auf Frauen in Belgien. Drei unterschiedliche Maßnahmen, die Frauen zugutekommen und die den Gender Pension Gap reduzieren können.
Im Zuge der Veranstaltung wurde darüber hinaus deutlich, dass sich die Reduzierung der geschlechtsspezifischen Rentenlücke nur durch einen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt und zum Sozialschutz erzielen lässt. Gleiches gilt für eine gleichberechtigte Verteilung von Erwerbsarbeit und unbezahlter Sorgearbeit zwischen Männern und Frauen. Zudem müsse der Zugang zur betrieblichen und privaten Altersvorsorge stärker berücksichtigt werden. So liegt der Gender Pension Gap bei der Betriebsrente deutlich über dem der gesetzlichen Rentenversicherung.
Analog zum Europäischen „Minimum Income Network“ zur Evaluierung der Mindesteinkommen in Europa, schlugen Lalieux und Schmachtenberg die Gründung eines „Gender Pension Gap Network“ vor. Der Europäische Statistik-Amt Eurostat und die Indikatorengruppe des Sozialschutzausschusses der Europäischen Union hätten umfangreiche Statistiken und Analysetools geschaffen. Diese gelte es systematisch zu nutzen, um schrittweise die Rentenlücke zu schließen.
Die Europäische Kommission schlägt mehr als nur
Fristverlängerungen für In-vitro-Diagnostika vor
Die Europäische Kommission hat am 23. Januar einen Verordnungsvorschlag zur Anpassung der In-vitro-Diagnostika-Verordnung (IVDR) und der Medizinprodukte-Verordnung
(MDR) vorgelegt.
Ähnlich wie bei der Anpassung der MDR (siehe News
12/2022) soll die IVDR angepasst werden, um den Herstellern für die
Zertifizierung von In-vitro-Diagnostika (IVD) mehr Zeit einzuräumen. IVD sind Tests, bei denen anhand
biologischer Proben der Gesundheitszustand einer Person bestimmt wird, beispielsweise HIV-Tests, Schwangerschaftstests oder Blutzuckermessgeräte.
Die vorgeschlagenen verlängerten Übergangsfristen hängen von
der Art des Produkts ab, insbesondere von der Risikoklasse des IVD. Für IVDs
mit hohem Risiko sollen die Übergangsfristen um zweieinhalb Jahre vom 26. Mai
2025 auf den 31. Dezember 2027 verlängert werden. Für IVDs mit mittlerem und
geringem Risiko soll die Zertifizierung bis zum 31. Dezember 2028 beziehungsweise
31. Dezember 2029 gelten.
Die Europäische Kommission begründet die Anpassung mit
drohenden Engpässen, insbesondere bei In-vitro-Diagnostika mit hohem Risiko
(Klasse D). Die Verlängerung der Konformitätsbewertungsverfahren für IVD soll
laut Europäischer Kommission „die Verfügbarkeit sicherer Produkte
gewährleisten, die für die Gesundheitssysteme unerlässlich sind und die
Patientenversorgung schützen.“
Der lange Titel des Verordnungsvorschlags verrät es bereits:
Es handelt sich nicht um eine reine Fristverlängerung der IVD. Neben der
Verlängerung der Übergangsfristen schlägt die Europäische Kommission zwei
grundlegende Anpassungen vor, die auch die MDR betreffen. So soll eine
Meldepflicht für Hersteller von Medizinprodukten und IVD eingeführt werden,
wenn sie „kritische“ Produkte vom Markt nehmen. Eine Meldepflicht soll immer
dann bestehen, wenn die Rücknahme schwerwiegende Auswirkungen auf die Gesundheit
der Patientinnen und Patienten oder die öffentliche Gesundheit hat oder haben
kann.
Darüber hinaus soll die Einführung der Europäischen
Medizinprodukte-Datenbank (EUDAMED) beschleunigt werden. Nach den derzeitigen
Bestimmungen wird die Nutzung von EUDAMED erst dann verpflichtend, wenn alle
Module ordnungsgemäß funktionieren. Dies soll nach dem Vorschlag der
Europäischen Kommission geändert werden. Bereits voll funktionsfähige Module
sollen ab Ende 2025 verpflichtend genutzt werden.
Die befristete risikobasierte Verlängerung der
Übergangsfristen für IVD ist sinnvoll, um Versorgungsengpässen bei diesen
Produkten entgegenzuwirken. Auch die Einführung einer Meldepflicht für
Hersteller, wenn „kritische“ Produkte vom Markt genommen werden, wird begrüßt.
Es ist wichtig zu wissen, bei welchen Produkten ein ernsthaftes Risiko für
Marktrücknahmen besteht und warum genau sie vom Markt genommen werden. Aus
Sicht der DSV fehlt jedoch eine präzisere Formulierung. Es ist unklar, unter
welchen Voraussetzungen von einer „schwerwiegenden Schädigung oder der Gefahr
einer schwerwiegenden Schädigung der Patienten oder der öffentlichen Gesundheit
in einem oder mehreren Mitgliedstaaten“ auszugehen ist. Die DSV hat hierzu in
ihrer Stellungnahme entsprechende Vorschläge unterbreitet.
Der Kommissionsvorschlag wird nun im Rat und im Parlament diskutiert
und soll in einem sogenannten Dringlichkeitsverfahren – wie auch im vergangenen
Jahr bei der Fristverlängerung der MDR – behandelt werden.
Ein funktionierender Wettbewerb hilft, Arzneimittelinnovationen
bezahlbar zu halten.
Der Marktwettbewerb ist neben der staatlichen Regulierung
das wichtigste Instrument, um die Versorgung der Bürgerinnen und Bürger mit Arzneimitteln
zu erschwinglichen Preisen sicherzustellen. Die aktive Durchsetzung der
europäischen Kartell- und Fusionskontrollvorschriften trägt dazu bei, dass die
Märkte funktionsfähig gehalten werden und die Menschen in Europa Zugang zu
bezahlbaren und innovativen Arzneimitteln haben. Zu diesem Schluss kommt ein Bericht
der Europäischen Kommission vom 26. Januar 2024. Der Bericht nimmt die
Jahre 2018 bis 2022 in den Blick. Er ist der zweite seiner Art und Ergebnis der
Zusammenarbeit von Europäischer Kommission und den Wettbewerbsbehörden der
EU-Mitgliedstaaten im Europäischen Wettbewerbsnetz (ECN). Im Vergleich zum
vorhergehenden Bericht ist im Untersuchungszeitraum die Anzahl der
kartellrechtlichen Beschlüsse von durchschnittlich drei auf fünf Beschlüsse pro
Jahr gestiegen.
In dem Bericht wird zum einen auf die Anwendung der
kartellrechtlichen Vorschriften zu wettbewerbswidrigen Vereinbarungen und
Praktiken verwiesen. Diese umfassen Maßnahmen gegen Verhaltensweisen, die den
Markteintritt von Generika verhindern oder verzögern sowie Maßnahmen gegen
Preishöhenmissbrauch von Arzneimitteln aufgrund einer marktbeherrschenden
Stellung („unangemessene Preise“), Angebotsabsprachen bei Ausschreibungen von
Krankenhäusern, Marktaufteilungsabsprachen zwischen Apotheken, Beschränkungen
des Parallelimports, bei dem Preisdifferenzen von Medikamenten in der
Europäischen Union (EU) ausgenutzt werden, und anderes mehr. Rund 100 Fälle,
die Arzneimittel betrafen, wurden untersucht. In 28 Fällen ergingen
kartellrechtliche Beschlüsse durch die Wettbewerbsbehörden, 30 Fälle sind noch
nicht abgeschlossen.
Zum
anderen standen 30 Zusammenschlüsse im Arzneimittelsektor zur Prüfung an, um
einen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung zu verhindern. Die größere
Marktmacht fusionierter Unternehmen kann dazu führen, dass der Wettbewerbsdruck
aufgehoben wird und in deren Folge höhere Preise und Nachteile für Patientinnen
und Patienten sowie die Gesundheitssysteme entstehen. In fünf Fällen wurden
Bedenken angemeldet. Davon wurden vier Zusammenschlüsse genehmigt, nachdem die
Unternehmen zu Änderungen an ihren Plänen bereit waren.
Die Quintessenz des Berichts ist: Die Überwachung und
Klärung der wettbewerbs- und kartellrechtlichen Auslegung durch die
Wettbewerbsbehörden ist notwendig, damit der Preis- und Innovationswettbewerb unterstützt
wird, die Arzneimittelmärkte funktionieren und der Zugang zu erschwinglichen
und innovativen Arzneimitteln verbessert wird.
Nicht im Bericht steht: Die staatliche Regulierung ist für
faire Arzneimittelpreise mindestens ebenso wichtig. In Deutschland helfen
regulatorische Instrumente wie die frühe Nutzenbewertung, die Erstattungspreis- und Festbetragsregelungen, die Importquote oder
auch die Möglichkeit, Rabattverträge abschließen zu können, dass an Ausgaben für Arzneimittel jedes Jahr ein zweistelliger Milliardenbetrag eingespart werden kann. Und dies ohne Versorgungseinbußen.