Anmerkungen und Anregungen zu den Änderungsvorschlägen der Europäischen Kommission

TH/HT – 05/2017

Am 13.12.2016 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag zur Überarbeitung der EU-Rechtsvorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vorgelegt. Ziel der EU-Kommission ist es, die komplexen Koordinierungsvorschriften fairer und anwendungsfreundlicher zu gestalten. Damit sollen sie leichter durchsetzbar sein und Betrug vermieden werden. Hierzu hat der GKV-Spitzenverband nunmehr Stellung genommen. 

 

Insgesamt sehen die Vorschläge Änderungen beim Zugang von nicht erwerbstätigen EU-Bürgerinnen und Bürgern zu den Sozialleistungssystemen der Mitgliedstaaten, bei den Vorschriften zur Entsendung von Erwerbstätigen, bei den Leistungen bei Pflegebedürftigkeit und Arbeitslosigkeit, bei Familienleistungen und bei technischen Vorschriften vor. Die Europavertretung berichtete bereits im Dezember 2016

Zielsetzung der Kommission und Initiative zur Modernisierung werden begrüßt

Der GKV-Spitzenverband begrüßt die Initiative zur Modernisierung des Koordinierungsrechts und die Zielsetzung der Europäischen Kommission ausdrücklich. Von Relevanz für die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen sind insbesondere die Koordinierung der Leistungen bei Pflegebedürftigkeit, die Vorschriften zur Entsendung und Mehrfacherwerbstätigkeit, verschiedene Verwaltungsvorschriften sowie einige technische Änderungen. 

Leistungen zur Pflegeversicherung: Änderungsbedarf

Die Europäische Kommission schlägt eigenständige Vorschriften zur Koordinierung der Leistungen bei Pflegebedürftigkeit vor; mit diesen soll die durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof (EuGH) entwickelte Koordinierung für diese Leistungen kodifiziert werden. Folgende Anpassungen sind vorgesehen:  

 

  • Die Aufnahme der Pflegebedürftigkeit als gesondertes, eigenständiges Risiko,  
  • die Aufnahme einer Definition, was unter einer Leistung bei Pflegebedürftigkeit zu verstehen ist, 
  • die Einführung eines eigenen Kapitels für die Koordinierung der Pflegeleistungen sowie  
  • eine detaillierte Auflistung der Leistungen bei Pflegebedürftigkeit in den Mitgliedstaaten. 

 

Die vorgeschlagenen Bestimmungen für die Koordinierung der Leistungen bei Pflegebedürftigkeit orientieren sich an den geltenden Regelungen für die Leistungen bei Krankheit. 

 

Der GKV-Spitzenverband begrüßt das Ziel, einen klareren Rechtsrahmen für die Leistungen bei Pflegebedürftigkeit zu schaffen, was etwa mit der Definition der Pflegeleistungen und der Liste der in den Mitgliedstaaten existierenden Pflegeleistungen realisiert wird. Die Einführung eines eigenen Kapitels für die Leistungen bei Pflegebedürftigkeit kann jedoch zu unerwünschten Abweichungen von der bisherigen Koordinierung führen. Dadurch können signifikante Erschwernisse für EU-Bürgerinnen und -Bürger bei der Ausübung ihrer Rechte und ungerechte Lastenverteilungen zwischen den Mitgliedstaaten entstehen. 

 

Durch die Einführung eines eigenen Kapitels für die Leistungen bei Pflegebedürftigkeit sind die Risikobereiche Krankheit und Pflege zukünftig strikt voneinander zu trennen. Voraussetzung für eine eigenständige Koordinierung der Leistungen bei Pflegebedürftigkeit losgelöst von den Leistungen bei Krankheit ist jedoch, dass in allen Mitgliedstaaten insbesondere Sachleistungen bei Pflegebedürftigkeit existieren, was bislang nicht der Fall ist. Der Vorschlag der Europäischen Kommission zur Einführung eines neuen Kapitels für die Leistungen bei Pflegebedürftigkeit beinhaltet daher in der vorgeschlagenen Form das Risiko, Erschwernisse für Versicherte, Zuständigkeitswechsel oder sogar den Verlust von Ansprüchen herbeizuführen. Dies benachteiligt die Versicherten im Vergleich zur derzeitigen Rechtslage und ist mit dem Ziel der Europäischen Kommission, den rechtlichen Status quo transparenter und anwendungsfreundlicher zu gestalten, nicht kompatibel. 

 

Das Risiko möglicher Zuständigkeitswechsel oder eines Anspruchsverlusts besteht insbesondere in Fallkonstellationen, in denen Renten aus mehreren Mitgliedstaaten bezogen werden und im Wohnstaat keine Sachleistungen bei Pflegebedürftigkeit existieren. Bisher ist dieses Risiko ausgeschlossen. Da die Leistungen bei Pflegebedürftigkeit nach der Rechtsprechung des EuGH als Leistungen bei Krankheit gelten, kann derzeit auf den Anspruch auf Sachleistung bei Krankheit als Anknüpfungspunkt zurückgegriffen werden, wenn ein Anspruch auf Sachleistungen bei Pflegebedürftigkeit fehlt. Damit ist sichergestellt, dass die Zuständigkeit für die Leistungen bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit nicht auseinanderfällt. Die betreffende Person unterliegt dem Grundprinzip der Sozialrechtskoordinierung entsprechend den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. 

 

Zielführend und weniger aufwendig wäre es hier, die Vorschriften zu den Leistungen bei Krankheit um spezifische Regelungen zu den Leistungen bei Pflegebedürftigkeit zu ergänzen. Durch entsprechende Anpassung der bestehenden Regelungen für die Leistungen bei Krankheit kann die Koordinierung der Leistungen bei Pflegebedürftigkeit für Versicherte verdeutlicht werden, ohne dass es zu Zuständigkeitsänderungen oder Verlust der Ansprüche kommt. 

Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit für entsandte Arbeitnehmer/innen (Entsendung)

Der Vorschlag der Europäischen Kommission sieht weiterhin vor, dass der Begriff der Entsendung in der Koordinierungsverordnung dem Entsendebegriff in der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (Richtlinie 96/71/EG) entsprechen soll. 

 

Diese Bezugnahme auf die Entsenderichtlinie hat unter sozialversicherungsrechtlichen Aspekten keinen erkennbaren Mehrwert. Die Regelungsbereiche der Koordinierungsverordnungen und der Entsenderichtlinie unterscheiden sich deutlich. So fordert Artikel 12 VO (EG) Nr. 883/2004 eine Befristung der Entsendung auf 24 Monate im Voraus, eine gewöhnliche Tätigkeit des entsendenden Unternehmens im Entsendestaat und verbietet eine Ablösung einer zuvor entsandten Person. Derartige Voraussetzungen kennt die Entsenderichtlinie nicht. Zur Vorbeugung gegen potentielle unlautere Praktiken und Fällen von Missbrauch im Rahmen der Koordinierungsverordnungen sieht der Vorschlag vor, dass ein von einem Träger ausgestelltes Dokument nur dann gültig ist, wenn alle verpflichtenden Angaben enthalten sind. Außerdem müssen die Träger bei Zweifeln an der Gültigkeit des Dokuments innerhalb einer bestimmten Frist reagieren. Die Vorschläge sind im Ansatz richtig, es fehlt aber an einer Sanktionsmöglichkeit, wenn der ausstellende Träger nicht auf das Ersuchen um Klarstellung oder Widerruf des Dokuments reagiert. 

 

Eine Garantie, dass die Informationen des Arbeitgebers, auf deren Grundlage die sogenannte A1-Bescheinigung ausgestellt wurde, richtig sind, kann der ausstellende Träger nicht geben. Dass er den relevanten Sachverhalt ordnungsgemäß bewertet, ist eine Selbstverständlichkeit.  

Fazit

Der GKV- Spitzenverband begrüßt die Initiative der EU-Kommission zur Modernisierung des Koordinierungsrechts ausdrücklich. Insbesondere der Vorschlag zur Aufnahme einer Definition der Leistungen bei Pflegebedürftigkeit trägt zu mehr Rechtsicherheit bei.  

 

Um Leistungen bei Pflegebedürftigkeit jedoch losgelöst von den Leistungen bei Krankheit in einem eigenen Kapitel koordinieren zu können, müssen in allen Mitgliedsstaaten zumindest vergleichbare Sachleistungen existieren, die dann gegenseitig zur Verfügung gestellt werden können. Dies ist bislang nicht der Fall. Daraus ergeben sich wesentliche Probleme, wie etwa mögliche Änderungen bei den Zuständigkeiten und Mehraufwände in der Kostenabrechnung. Schlimmstenfalls droht den Versicherten sogar der Verlust von Ansprüchen. Diese doch erheblichen Nachteile können vermieden werden, indem die Vorschriften zu den Leistungen bei Krankheit um spezifische Regelungen zu den Leistungen bei Pflegebedürftigkeit ergänzt werden. Eine Anpassung des Begriffs der Entsendung in der Koordinierungsverordnung an den Entsendebegriff in der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen ist nicht erforderlich. 

 

Zum Vorschlag der Kommission geht es hier