Der Weg der Europäische Union in die Zukunft: Von der Konvergenz zur Harmonisierung?

IW – 06/2017

Mit der Vorlage des Weißbuchs zur Zukunft der Europäischen Union möchte die Europäische Kommission den Bürgerinnen und Bürgern zeigen, dass auch sie selbst sich Gedanken macht, wie es mit der europäischen Einigung weiter gehen soll. Denn nicht nur Großbritannien muss sich nach dem Brexit neu aufstellen, auch die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten müssen entscheiden welchen Weg die Europäische Union künftig einschlagen soll.  

 

Das an das Weißbuch anknüpfende Reflexionspapier zur sozialen Dimension geht noch einen Schritt weiter. Hier legt die Brüsseler Behörde den Schwerpunkt auf die soziale Dimension Europas bis zum Jahr 2025. Es soll zur Diskussion über die zukünftige Ausgestaltung der Europäischen Union insbesondere im Gesundheits- und Sozialbereich beitragen.  

 

Für den weiteren Weg werden drei Szenarien vorgestellt.  

Weniger Europa

In ihrem ersten Vorschlag stellt die Europäische Kommission die Möglichkeit eines „Weniger an Europa“ vor. Konkrete gemeinsame Regelungen wären dabei auf den Binnenmarkt beschränkt. In dem Reflexionspapier wird diese Option ausschließlich mit der Angst vor zu hohen Standards und ihren negativen Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit in Verbindung gebracht. 

 

Für den sozialen Bereich würde damit eine Begrenzung der sozialen Dimension auf den freien Personenverkehr einhergehen. Regeln über Sozialversicherungsrechte mobiler Bürger, die Entsendung von Arbeitnehmern, die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen im Ausland über die „Patientenrechterichtlinie“ sowie die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen wären Beispiele, von denen die EU-Bürgerinnen und Bürger in einem „weniger an Europa“ profitieren könnten. Auf der anderen Seite würden nach dieser Option Aufgabenbereiche wie der Arbeitsschutz auf europäischer Ebene nicht weiterentwickelt werden, vielmehr wäre eine Begrenzung auf die Ebene der Mitgliedstaaten die Folge. Die bislang erreichten Errungenschaften in Form von zahlreichen Richtlinien über den Schutz der Arbeitnehmer und ihrer Gesundheit und Sicherheit würden zudem beseitigt werden. Auch von einer Abschaffung des Erfahrungsaustausches im sozialen Sektor wird gesprochen. Nicht ganz eindeutig sind die Ausführungen zur Europäischen Gesundheitspolitik. Ausdrücklich genannt wird lediglich die Rückführung der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten und Resistenzbildung. Es ist jedoch davon auszugehen, dass auch auf anderen Feldern des Gesundheitssektors die Initiativen zurückgehen würden. 

 

Es ist nicht überraschend, dass von Seiten der Europäischen Kommission diese Option abgelehnt wird, Entscheidungen in den Bereichen Soziales und Beschäftigung wären zwar „bürgernäher“, es bestünde aber nach Auffassung der Brüsseler Behörde die Gefahr des „Wettlaufs nach unten“. 

Die Koalition der Willigen

Als eine Alternative zu einem „Mehr an Europa“ beschreibt die Europäische Kommission in ihrer zweiten Option eine intensivere Zusammenarbeit der „Willigen“ im sozialen Bereich. Nach dem Motto „Wer mehr im sozialen Bereich tun will, tut mehr“ wird eine auf die Euro-Zone konzentrierte Vertiefung der sozialen Dimension zur Diskussion gestellt. Begründet wird dies mit den Krisenjahren, die gezeigt hätten, dass die Euro-Länder im sozialen Bereich mehr gemeinsam tun müssten, um abrupte Anpassungen im Lebensstandard der Bürgerinnen und Bürger zu vermeiden. Dabei müssten nach Auffassung der Europäischen Kommission die Sozialmodelle und Wohlfahrtssysteme der Länder nicht unbedingt identisch werden. Sie müssten aber reibungslos funktionieren, damit sie bei der nächsten Krise widerstandsfähiger sind. 

 

Schaut man sich die aktuelle Kompetenzverteilung im Sozial- und Gesundheitsbereich an, wird schnell klar, dass hierfür offenbar der (primär-) rechtliche Rahmen angepasst werden müsste. Aber auch das Instrument der „verstärkten Zusammenarbeit“ könnte hier Möglichkeiten bieten.  

 

Als Gegenstand in Richtung mehr Europa und „gemeinsamer Standards“ werden Beispiele angeführt wie die Einführung einer einheitlichen europäischen Sozialversicherungsnummer, die den Behörden der „willigen Ländern“ die Erstattung oder Auszahlung von Leistungen erleichtern würden. Auch einheitliche Preise für Arzneimittel, eine gemeinsame Personalplanung im Gesundheitswesen oder eine Vereinheitlichung des Arbeitslosengeldes sind erste konkrete Vorschläge von Seiten der Europäischen Kommission. 

 

Im Gegensatz zu der Option eines „Weniger an Europa“ scheint die Europäische Kommission diese Option vorzuziehen, denn damit würde das Projekt „Europa“ zumindest unter denen, die es möchten, weiter voranschreiten. Gleichzeitig erkennt sie aber auch die damit einhergehende Gefahr, dass unterschiedliche soziale Standards in der EU einen Hindernis für den Binnenmarkt darstellen. 

Mehr Europa für alle – EU-27 vertieft soziale Dimension gemeinsam

Deswegen hat sich die Europäische Kommission eine weitere Option ausgedacht. Die von ihr erkennbar bevorzugte Variante der künftigen Gestaltung der Europäischen Union im sozialen Bereich ist der Weg zu einem „Mehr an Europa“, jedoch unter der Voraussetzung, dass alle 27 Mitgliedstaaten an einem Strick ziehen. Sie ähnelt der zweiten Variante geht jedoch noch ein Stück weiter, da nicht nur die Rede ist von gemeinsamen sozialen Mindeststandards in einigen ausgesuchten Bereichen. Es wird vielmehr auch die Möglichkeit einer vollständigen Harmonisierung der Bürgerrechte in der gesamten Union angesprochen. Damit würde eine weitere Übertragung von Kompetenzen der Mitgliedstaaten auf die EU einhergehen. Die EU-Kommission nennt hier verschiedene Beispiele, die angestrebt werden könnten, so etwa die Aufstellung gemeinsamer Regeln für den Status der Beschäftigten von digitalen Plattformen, Einführung einer einheitlichen europäischen Sozialversicherungsnummer, der Einführung eines einheitlichen Ruhestandsalters in ganz Europa verbunden mit der Anpassung an die Lebenserwartung, verbindliche Vorgaben für die Verbesserung der öffentlichen Gesundheitsvorsorge und die grenzüberschreitende elektronische Übermittlung von Krankenakten und Arzneimittelverschreibungen. 

Wie geht es weiter?

Bei der Frage, wer die künftigen Herausforderungen im Bereich der sozialen Sicherheit in Europa lösen soll, kann man sich nur schwerlich vorstellen, dass dies der EU alleine gelingen sollte. Es wäre allerdings an ein gemeinsames Handeln im Sinne eines Austausches zu denken. Denn auch die Mitgliedstaaten können von den Erfahrungen untereinander profitieren. Von daher wird es auf ein Miteinander ankommen, eine verbesserte Zusammenarbeit. Darin sollten auch die Mitgliedstaaten eine Chance sehen. Allerdings muss die Rollenverteilung klar geregelt sein. Ein gemeinsames Handeln muss auf gemeinsamen Vorstellungen beruhen, insoweit wird es für eine gemeinsame Sozialversicherungsnummer nur schwerlich oder ein gemeinsames Renteneintrittsalter überhaupt keinen Konsens geben. Insbesondere bei der Frage eines gemeinsamen Renteneintrittsalter stellt sich schnell die Frage der Finanzierbarkeit des Systems, und hier wird der EU in den Verträgen eine klare Grenze aufgezeigt. Von daher darf ein gemeinsames Handeln nicht die grundlegende Aufgabenverteilung der Europäischen Verträge in Frage stellen. 

 

Die Europäische Kommission wird die Debatte sowohl in Brüssel als auch in den einzelnen Mitgliedstaaten vorantreiben. Welchen Weg die Europäische Union dann schließlich einschlagen wird, ist aktuell noch offen. Feststehen dürfte jedoch, dass hier nur die Mitgliedstaaten gemeinsam über die Zukunft der Europäischen Union entscheiden können, wobei die Freiwilligkeit des gemeinsamen Voranschreitens nicht in Frage gestellt werden sollte.