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ed* Nr. 03/2017

Europäische Standardisierung von Gesundheits­dienstleistungen

ed* Nr. 03/2017 – Kapitel 3

Gesundheitsrelevante europäische Normen findet man noch am ehesten bei industriellen Medizinprodukten einschließlich digitaler Anwendungen – zusammengefasst unter der Überschrift „Medizintechnik“ – sowie im Bereich der IT-Systeme in der Kommunikation zwischen den verschiedenen beteiligten Stellen im ­Gesundheitssystem. Im Vergleich zu Gütern ist die europäische Standardisierung von Dienstleistungen bisher weniger weit vor­angeschritten. Dies gilt vor allem im Kernbereich des Gesundheitswesens – den Gesundheitsdienstleistungen einschließlich ihrer De­fini­tion, technischen Spezifikationen, Qualitätsstandards, kli­nischen Richtlinien und ihrer Umsetzung in die Praxis. Nicht von ungefähr waren die europäischen Institutionen hier in der Vergangenheit eher zurückhaltend. Gesundheits­politik ist nach den europäischen Verträgen im Wesentlichen die Domäne der Mitgliedstaaten, während die europäische Ebene ergänzend und koordinierend tätig wird.  

 

Inzwischen sind allerdings klar Tendenzen erkennbar, auch den Kern­bereich des Gesundheitswesens dem Markt der Standardsetzung zu öffnen. Die Europäische Kommission ­­be­­absichtigt zwar nach eigenen Aus­sagen nicht, das Europäische Standardisierungsinstitut mit der Normung von Gesundheitsdienstleistungen zu beauftragen. Sie unterstützt allerdings durchaus von anderer Seite initiierte einschlägige Normungsprojekte. Vor allem aber ist der „Verkauf“ von Normen und Standards an potenzielle Nutzer ein lukratives Geschäftsmodell, das sich die Normungsinstitutionen nur ungern entgehen lassen. Ganz nebenbei ließen sich über diesen Umweg mitgliedstaatliche Gesundheits­systeme im Ergebnis harmonisieren und damit dem globalen Wettbewerb öffnen. Einzelne Mitgliedsorganisationen von CEN begannen in den letzten Jahren – durchaus erfolgreich – verschiedene horizontale sowie sektorenbezogene Normungsinitiativen zu starten. Dies geschieht mit aktiver Unterstützung des hochrangigen CEN-Gremiums Advisory Board on Healthcare Services (ABHS). Die ersten Ergebnisse sind Normen im Bereich der Homöopathie und ästhetischen Chirurgie. Sie unterliegen nicht nur heftiger Kritik aus Fachkreisen, sondern ver­stoßen in einer Reihe von Einzelfragen auch gegen deutsches Recht. Weitere Normen sind in der Pipeline.  

 

Mit dem ausgehenden Jahr 2014 begann das europäische Normungsinstitut CEN unter Beteiligung europäischer „stake­holder“ mit der Entwicklung einer Strategie zur Normung von Gesundheitsdienstleistungen. Die Arbeiten endeten vorläufig Anfang 2016 mit der expliziten Feststellung, dass unter den Beteiligten kein Konsens hergestellt werden konnte. Dessen ungeachtet setzte CEN seine Arbeiten am Entwurf einer Strategie fort. Den Kritikern kam das Institut insoweit entgegen, als es klinische Leitlinien von der Standardisierung zunächst einmal ausschloss. Ende 2016 setzte das technische Büro von CEN eine neue Arbeitsgruppe ein, diesmal auch unter Beteiligung europäischer Dachorganisationen der Sozialversicherungsträger, allerdings nur mit Beobachterstatus. Beteiligt ist auch die European Social Insurance Platform, der unter anderem die deutsche Sozialversicherung angehört.  

Die folgenden Sitzungen der soge­­nannten CEN „Fokusgruppe Gesundheitsdienstleistungen“ ließen freilich wenig Raum für die Hoffnung auf einen „ergebnisoffenen Diskurs“. Die Interessen der geschäftsorientierten Standardisierungs- und Zertifizierungsindustrie stehen oft in scharfem Kontrast zu den Positionen der meisten anderen ein­geladenen Teilnehmer aus den Kreisen der Leistungsträger und Leistungs­erbringer. Diese hatten durch ihre je­­weiligen europäischen Dachverbände im Vorfeld der Sitzung der Fokusgruppe im März 2017 ein gemeinsames Schreiben an die Gruppe gerichtet, in dem vor allem folgende Punkte festgehalten wurden:  

 

1. Es besteht kein Raum für euro­päische Normungsinitiativen, wo bereits auf nationaler Ebene entsprechende gesetzliche oder untergesetzliche Regeln existieren, einschließlich der kollektiven Vereinbarungen zwischen Leistungserbringern und Sozial­versicherungsträgern. 

 

2. Normen sind nur dort sinnvoll, wo die betroffenen Interessengruppen und Wirtschaftsteilnehmer zuvor Einvernehmen erzielt haben („Marktrelevanz“). 

 

3. Europäische Normen dürfen nicht in die Kompetenz der ­Mitgliedstaaten eingreifen, um ihre öffentlichen Gesundheits­systeme zu definieren und zu gestalten. 

 

Zwar konnten die Beratungen entgegen den ursprünglichen Erwartungen bisher nicht abgeschlossen werden und werden bis tief in das Jahr 2018 hinein fortgesetzt. Allerdings lassen Vorsitz und Sekretariat der Fokusgruppe, die sich in den Händen der Standardisierungsindustrie befinden (hier: Norwegen und Österreich), keine Zweifel daran, dass sie nicht als neutrale Moderatoren agieren, sondern eindeutig als Partei im Interesse der Standardisierungsorganisationen. Daher haben die beteiligten europäischen Spitzenorganisationen der Leistungsträger und Leistungs­erbringer einen weiteren gemeinsamen Brief vorbereitet, mit dem sie eine breitere Öffentlichkeit erreichen wollen. Im Kern geht es darum, dass die nationalen politischen Entscheidungsträger ihre Kompetenzen bewahren, die die privaten Normengeber übernehmen wollen.