Deutsche Nutzenbewertung auf europäischem Prüfstand.

MS – 04/2018

Nachdem die Europäische Kommission Ende Januar 2018 einen Gesetzesvorschlag über die Bewertung von Gesundheitstechnologien (Health Technology Assessment, HTA) vorgelegt hat, sind zahlreiche europäische und nationale Gesundheitsorganisationen in Alarmbereitschaft. Übergeordnetes Ziel des Vorschlages ist die Verstetigung der Zusammenarbeit der nationalen HTA-Agenturen, dabei ist eine vollständige Harmonisierung von HTA auf der Ebene klinischer Bewertungen für alle Arzneimittel, die dem zentralen Zulassungsverfahren unterliegen, sowie für bestimmte Medizinprodukte vorgesehen. Es kommt hinzu, dass die Mitarbeit an den gemeinsamen klinischen Bewertungen und die anschließende Verwendung der Berichte als Grundlage für nationale Entscheidungen über Preisbildung und Erstattung verpflichtend sein soll. Die Mitgliedstaaten dürfen dann keine eigenen Bewertungen mehr durchführen.  

 

Aktuell findet eine freiwillige Kooperation bei HTA im Rahmen des europäischen Netzwerks „EUnetHTA“ statt. Die strukturierte, aber unverbindliche Zusammenarbeit finanziert die Kommission seit Jahren in Form einer Projektförderung. Nicht zuletzt aufgrund der Vielfalt der Gesundheitssysteme blieb eine direkte Nutzbarkeit der EUnetHTA-Ergebnisse für die Bewertungen des IQWiG bzw. einem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) bisher aus. Laut Kommission liegt die Ursache hierfür aber in der Freiwilligkeit und Unverbindlichkeit der Projektgruppe. Nun soll sich das ändern. 

EU-Subsidiaritätsrügen verfehlen Quorum

Nach der Veröffentlichung des – mit Spannung und gleichzeitiger Sorge erwarteten – Gesetzesvorschlags hatten die Mitgliedstaaten bis Anfang April die Option, sogenannte „Subsidiaritätsrügen“ zu erteilen. Mit den Subsidiaritätsrügen können die nationalen Parlamente bei neuen Gesetzgebungsverfahren der EU darauf verweisen, dass das Subsidiaritätsprinzip nicht eingehalten wird bzw. nationale Kompetenzen verletzt werden. 

 

In Deutschland hat sich neben dem Bundestag auch der Bundesrat gegen den Verordnungsentwurf ausgesprochen. So sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt, da sich der Verordnungsvorschlag nicht mit den nationalen Besonderheiten wie etwa der Nutzenbewertung in Deutschland und ihrer unmittelbaren Einbindung in das nationale Krankenversicherungsrecht auseinandersetze. Die Bundesländer sehen jedoch von einer formalen Subsidiaritätsrüge ab, weil die gesamtstaatliche Arzneimittelversorgung Bundesangelegenheit ist. 

 

Frankreich und Tschechien haben ebenfalls eine Subsidiaritätsrüge erteilt und sehen einen erheblichen Eingriff in die Gesundheitspolitik, deren Verantwortung bei den Mitgliedstaaten liegt. Zwar wäre eine EU-weite Zusammenarbeit erstrebenswert, aber es müsse im Ermessen der Mitgliedstaaten liegen, über die Übernahme von HTA-Bewertungen zu entscheiden. Während Empfehlungen auf EU-Ebene als nützlich gesehen werden, übersteigen verbindliche Vorgaben den Kompetenzrahmen der Kommission. Auch Polen (in Form einer Entschließung) und Spanien sprechen sich gegen den Vorschlag aus. In Spanien ist eine offizielle Subsidiaritätsrüge aufgrund von Uneinigkeiten des Parlaments in der Begründung nicht zustande gekommen. 

 

Für eine erfolgreiche Subsidiaritätsrüge hat es in der EU schlussendlich aber nicht gereicht. So wäre die Kommission erst verpflichtet gewesen, die Vereinbarkeit ihres Gesetzentwurfs mit dem Subsidiaritätsprinzip zu überprüfen, wenn von den 28 Mitgliedstaaten mit rund 56 zugewiesenen Stimmen mindestens ein Drittel, d.h. 19 Stimmen, eine Rüge erteilt hätten; stattdessen sind letztendlich lediglich drei Stimmen zusammengekommen. 

Mitgliedstaaten sind geteilter Auffassung

Mitte April hatten die Mitgliedstaaten in der Ratsarbeitsgruppe Pharma Gelegenheit, den HTA-Vorschlag zu diskutieren. Im Fokus stand dabei die vorgeschlagene Rechtsverbindlichkeit EU-weiter wissenschaftlicher Bewertungen der relativen Wirksamkeit. Eine kritische Haltung nehmen die Länder Frankreich, Tschechien, Polen, Ungarn, Dänemark, Schweden, Spanien und Deutschland ein. Als Befürworter des Gesetzesvorschlages gelten Kroatien, Griechenland, Portugal und die Niederlande. Eine moderate Position nehmen Belgien, Malta, Lettland und Österreich ein. Österreich übernimmt ab dem 1. Juli 2018 die Ratspräsidentschaft. 

 

Wäre zum jetzigen Zeitpunkt eine Beschlussfassung im Rat, so könnte der Gesetzesvorschlag durch die Mitgliedstaaten in Form einer sogenannten „Sperrminorität“ verhindert werden. Der vorliegende Verordnungsentwurf müsste mit einer qualifizierten Mehrheit im Rat der EU angenommen werden. Das bedeutet wiederum, dass mindestens vier Mitgliedstaaten, die mehr als 35% der EU-Bevölkerung repräsentieren, den Vorschlag verhindern können. 

 

Die nächste Ratsarbeitsgruppe zu HTA tagt am 7. Mai 2018 in Brüssel. 

Sozialdemokraten übernehmen Berichterstattung im Europäischen Parlament

Im Europäischen Parlament wurde im zuständigen Gesundheitsausschuss (ENVI) die Abgeordnete Soledad Cabezón Ruiz (S&D-Fraktion, Spanien) zur Berichterstatterin ernannt. Schattenberichterstatterin aus Deutschland ist Gesine Meißner (ALDE-Fraktion) und aus Frankreich Françoise Grossetête (EVP-Fraktion). Eine erste Positionierung der spanischen Berichterstatterin wird mit Spannung bereits im Mai 2018 erwartet. Denn während das EU-Parlament in Gänze als Befürworter des Kommissionsvorschlages verstanden wird, nimmt das spanische Parlament eine kritische Haltung ein. 

Krankenkassen fordern Nachbesserungen beim Verordnungsvorschlag zu HTA

Die deutsche gesetzliche Krankenversicherung (GKV) verfolgt die Entwicklungen der europäischen Gesetzesinitiative sehr genau; sie begrüßt die Weiterführung der Zusammenarbeit der HTA-Agenturen auf EU-Ebene, durch die eine bessere und umfassendere Nutzung von HTA bei der Entscheidungsfindung in nationalen Gesundheitssystemen erreicht und weiterentwickelt werden kann. Dennoch geht der aktuelle Vorschlag der EU-Kommission über das notwendige Maß weit hinaus und greift in die bestehenden, nationalen Systeme ein. Die Umsetzung des Vorschlags in vorliegender Form wird daher abgelehnt. Die bestehende Kooperation kann sinnvoll fortgeführt und schrittweise ausgeweitet werden, allerdings sollte das leitende Prinzip der europäischen Zusammenarbeit eine starke Rolle der mitgliedstaatlichen HTA-Organisationen sein – mit einer administrativen Unterstützung durch die Europäische Kommission. 

 

Die Stellungnahme des GKV-Spitzenverbandes finden sie hier

 

Weitere Informationen zu HTA finden sie hier auf den Webseiten der Europäischen Kommission.