Ist in Europa ein Update für den Arbeitsschutz wegen neuer Formen der Arbeit notwendig?

MM – 07/2019

Bei verschiedenen Gelegenheiten wurde in den letzten Monaten in Brüssel die Frage nach dem Wert von Arbeitsschutz debattiert. Dabei ging es nicht nur um den zusätzlichen Gewinn an Gesundheitsschutz für Beschäftigte, sondern auch um ökonomische Folgen aus schwerwiegenderen Unfällen oder gar Todesfällen.


In diesem Rahmen hat der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) eine Anhörung zur Frage der „Zusammenfassung von Kosten und Nutzen von Investitionen in Arbeitsschutz und -gesundheit“ gehalten, in der er eine von der finnischen Ratspräsidentschaft angeforderte Positionierung des EWSA vorbereitet hat. Bei der Anhörung waren verschiedene Vertreterinnen und Vertreter von europäischen Institutionen sowie Gewerkschaften und Zivilorganisationen eingebunden.

Tenor war ganz eindeutig, dass gute Arbeitsschutzmaßnahmen Berufsunfällen, Berufskrankheiten und umfangreichen Fehlzeiten vorbeugen können. Gleichzeitig können Investitionen in Präventionsmaßnahmen gerade kleine und mittlere Unternehmen (KMU) erfolgreicher und nachhaltiger in ihrem Erfolg machen – zumindest dann, wenn sie angemessen bei der Umsetzung unterstützt werden.

Der Berichterstatter für die zuständige Arbeitsgruppe des EWSA stellte fest, dass Europa trotz aller positiven Entwicklungen noch Verbesserungspotential habe. So sei unter anderem Stress ein sich ausbreitender Faktor in der Arbeitswelt. Zudem würden jedes Jahr etwa 100.000 Menschen in Europa an berufsbedingten Krebserkrankungen sterben. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verdienten jedoch einen besseren Schutz. Dafür seien neben klassischen Schutzmaßnahmen die Schulung und Information der Beschäftigten die wichtigsten Präventionsmaßnahmen.

Arbeitsschutz in sich schnell ändernden Arbeitsumgebungen

Die sprunghaften Veränderungen in der Arbeitswelt durch schnelllebige technische und technologische Entwicklungen unterstreichen arbeitsbezogenen Stress zusätzlich. Gerade neue Formen der Arbeit wie Plattformarbeit, die durch den Einsatz verschiedener selbstlernender Programme unterstützt wird, bergen Flexibilität, aber auch große Unsicherheit für Beschäftigte. Denn oft werden Beschäftigte als Selbstständige betrachtet und genießen somit kaum bis keinen Schutz durch Unfallversicherungen.

Eine Vertreterin des Europäischen Jugendforums wies darauf hin, dass der Druck von Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie Kolleginnen und Kollegen zu einer ständigen Erreichbarkeit gerade gegenüber jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hoch sei. Diese Belastung würde verstärkt durch die Tatsache, dass es jungen Menschen, die es gewohnt seien, viel Zeit an ihren Smartphones zu verbringen, noch schwerer falle, sich gegen solche Erwartungen zu wehren, d.h. Berufs- und Privatleben zu trennen und tatsächlich und virtuell „abzuschalten“. Daher sollten in diesem Bereich Initiativen unterstützt werden. Zudem solle in ganz Europa die Möglichkeit der gewerkschaftlichen Organisation erleichtert werden.

Psychische Gesundheit ist am Arbeitsplatz wichtig

Besonders die angesprochenen Stressfaktoren bei der Arbeit verlangen einen prominenten Platz bei Gefährdungsbeurteilungen im Hinblick auf mögliche psychische Belastungen, aber auch auf dadurch ausgelöste Unfallrisiken.


Die Vertreterin der Organisation „Mental Health Europe“ drängte auf psychisch gesunde Arbeitsplätze mit konzentrierten Gefährdungsbeurteilungen und Schulungen nicht nur für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern besonders für Führungskräfte, um ein offenes und tolerantes Arbeitsklima zu ermöglichen.

Eine Gewerkschaftsvertreterin verlangte bessere Arbeitsbedingungen und ehrgeizige Ziele im Bereich der psychischen Gesundheit, da diese bisher im Arbeitsschutz vernachlässigt worden seien.


Ein Vertreter der finnischen Ratspräsidentschaft erläuterte das Ziel der nächsten sechs Monate – eine Ökonomie des Wohlbefindens, bei der wirtschaftliches und soziales Wachstum mit dem Wohlbefinden der EU-Bürgerinnen und -Bürger kombiniert, eine der drei Prioritäten der Präsidentschaft seien.

Sorgen und Wünsche der Unternehmerinnen und Unternehmer

Eine Vertreterin von KMU legte Wert darauf, dass bei politischen Regulierungen auch die Größe und Umsetzungsfähigkeit des Großteils der Unternehmen in Europa beachtet werden müsse. Dies seien nämlich zu 95% KMU, die teilweise erhebliche Schwierigkeiten mit der Umsetzung von Arbeitsschutzregelungen hätten. Besonders dürften keine neuen Bürokratiemonster entstehen. Denn gerade KMU würden überproportional durch bürokratische Regelungen belastet, weil sie die gleichen Normen umsetzen müssten wie Großunternehmen, nur mit einer wesentlich geringeren „Manpower“ in der Verwaltung. Daher seien auf für sie zugeschnittene Umsetzungshilfen und kostengünstige Mechanismen erforderlich.

Die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) wies auf einige gute Entwicklungen hin. Dabei wurde ein best-practice-Beispiel aus Deutschland vorgestellt, bei dem ein kleines Unternehmen umfangreiche, aber unkomplizierte gesundheitsfördernde Angebote wie z.B. Rückenkurse im Büro eingeführt hat, wodurch die Anzahl der Fehltage deutlich zurückgegangen sind.

Fazit der Anhörung

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hielten fest, dass die Einbeziehung von Sozialpartnerinnen und Sozialpartner in die Evaluierung und Implementation von Arbeitsschutzmaßnahmen aufgrund der Nähe zur Praxis sehr förderlich sei. Dadurch entstünden auch gegenseitiges Vertrauen und Dialog.

Studie zu wirtschaftlichen Kosten von Arbeitsunfällen

Die EU-OSHA hat im Rahmen einer Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen eine Studie zum Wert von Arbeitsschutz und den gesellschaftlichen Kosten von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten veröffentlicht.


Diese Studie versucht, die Kosten von beruflich bedingten Unfällen, Krankheiten und Todesfällen nicht nur anhand der Kosten des zuständigen Unfallversicherungsträgers, sondern gesamtgesellschaftlich zu erheben. Dies beinhaltet auch Folgekosten, wie zum Beispiel die Auswirkungen auf die ökonomische Produktivität von Angehörigen, Bürokratiekosten der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, gesunkene Produktivität von Kolleginnen und Kollegen etc.

Dabei vergleicht die Studie fünf europäische Länder – Finnland, Deutschland, die Niederlande, Italien und Polen und nutzt zwei verschiedenen Ansätze – ein Bottom-up-Modell und ein Top-down-Modell. Dabei wurden Länder mit beitragsfinanzierten sowie steuerfinanzierten Sozialversicherungssystemen herangezogen.


Aufgrund der schwierigen und teils sehr unterschiedlichen Datenlage in einigen Ländern ergeben sich jedoch bei den Ergebnissen erhebliche Differenzen. Daher sollte die Studie besonders gründlich gelesen und kritisch kommentiert werden.