Maßvolle Umsetzung im Interesse der Patientensicherheit.

RB – 10/2019

Ende Mai 2017 ist nach langen und intensiven politischen Auseinandersetzungen die europäische Medizinprodukteverordnung in Kraft getreten. Kerninhalt dieser Verordnung ist es, das Inverkehrbringen von Medizinprodukten sicherer zu gestalten, die Anforderungen an die klinische Bewertung von Hochrisikoprodukten zu erhöhen, durch eine zentrale Datenbank Transparenz herzustellen und die Qualität der Benannten Stellen europaweit anzugleichen. 


Außerdem werden künftig durch die neue Verordnung bestimmte Medizinprodukte einer höheren Risikoklasse zugeordnet. Diese Neuerung ist notwendig, weil die vom Anfang der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts stammenden Klassifizierungsregeln der alten Richtlinien dem aktuellen Stand der Technik von Medizinprodukten angepasst werden mussten. Dies betrifft insbesondere Software, die beispielsweise in Form bestimmter Apps einen maßgeblichen Einfluss auf Therapieentscheidungen bei Herzinsuffizienz oder Depressionen nehmen kann. Fehlentscheidungen können hier zum Tode der betroffenen Patientinnen und Patienten führen. Nach den Regeln der neuen Verordnung wird solche Software in die Klasse IIb eingeordnet – und nicht, wie nach den alten Regeln, in die Klasse I.

Wichtiger und überfälliger Schritt zur Verbesserung der Patientensicherheit und der Versorgungsqualität

Aus Sicht des GKV-Spitzenverbandes ist die neue Verordnung ein wichtiger und überfälliger Schritt zur Verbesserung der Patientensicherheit und der Versorgungsqualität bei Medizinprodukten. 


Um den Übergang von den geltenden EU-Richtlinien für Medizinprodukte, aktive implantierbare medizinische Geräte und In-vitro-Diagnostika in das neue EU-Recht reibungslos zu gestalten, erfolgt der Geltungsbeginn der Medizinprodukteverordnung gestaffelt. Es gibt mehrere Fristen. Eine legt fest, dass Medizinprodukte grundsätzlich ab dem 26. Mai 2020 nach der neuen Verordnung in den Verkehr gebracht werden müssen. Die Benannten Stellen müssen dafür rechtzeitig gemäß dem neuen EU-Recht von den Mitgliedstaaten benannt worden sein, um die entsprechenden neuen Zertifikate für das Inverkehrbringen ausfertigen zu dürfen.


Es gibt jedoch eine Übergangsfrist für Zertifikate, die nach altem EU-Recht ausgestellt wurden und deren Gültigkeit über den 26. Mai 2020 hinausreicht. Medizinprodukte, für die solche Zertifikate ausgestellt wurden, dürfen nach altem EU-Recht weiterhin auf dem Markt verbleiben, bis sie ihre Verkehrsfähigkeit aufgrund des Ablaufs ihrer Zertifikate verlieren – längstens jedoch bis zum Mai 2025.


Hersteller von Medizinprodukten der Klasse I, deren Produkte durch die neuen Klassifizierungsregeln in eine höhere Risikoklasse eingestuft werden, müssen diese nach den Regularien der EU-Verordnung ab dem 26. Mai 2020 neu in den Verkehr bringen.

Forderungen von Industrie und Politik

Vertreter von Industrie und Politik kritisieren seit mehreren Monaten die Verordnung, indem sie behaupten, sie würde zu hohe Anforderungen an mittelständische Unternehmen stellen und die Versorgung mit Medizinprodukten gefährden. Insbesondere verweisen sie dabei auf Probleme mit der zeitlichen und inhaltlichen Umsetzung der Medizinprodukteverordnung.

Position des GKV-Spitzenverbands

Hauptzweck der neuen Medizinprodukteverordnung sind die Verbesserung der Medizinproduktesicherheit, die Sicherstellung einer europaweit einheitlichen Qualität der Benannten Stellen sowie die Verbesserung der Transparenz. Seit die Verordnung in Kraft getreten ist, arbeiten sowohl die Mitgliedsstaaten als auch die EU-Kommission an ihrer Umsetzung und schaffen derzeit die notwendigen strukturellen Rahmenbedingungen.


Die Qualität der Benannten Stellen zu vereinheitlichen und zu verbessern bedeutet auch, dass Unternehmen, die den neuen Qualitätsansprüchen nicht genügen, ihre Aufgaben nicht länger übernehmen können. Daher war immer absehbar, dass die Erfüllung der neuen Qualitätsanforderungen hinsichtlich Infrastruktur und Personal für viele Benannte Stellen mit Anstrengungen verbunden sein wird, und dass es daher auf absehbare Zeit vermutlich weniger Benannte Stellen geben wird als für die alten Medizinprodukterichtlinien.


Von den derzeit 59 Benannten Stellen haben bis Ende Mai 2019 insgesamt 47 ihre Neubenennung beantragt, 26 sind bereits im sogenannten „Joint Assessment“ geprüft worden, sieben weitere Prüfungen waren Ende Mai vereinbart[1]. Die EU-Kommission hat mehrfach festgestellt, dass sie damit rechnet, dass zum Jahresende etwa 20 Stellen benannt sein werden und ihre Arbeit aufnehmen können.


Versicherte der GKV haben Anspruch auf eine Versorgung mit verkehrsfähigen Medizinprodukten, die dem Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebot genügen. Die Versorgungssicherheit der GKV-Versicherten darf zu keinem Zeitpunkt gefährdet werden.


Sollte sich aufgrund konkreter und belastbarer Zahlen von direkt betroffenen Herstellern und Produkten abzeichnen, dass bezüglich der Übergangsfristen ein konkret benennbares Problem besteht, müssen gezielte Maßnahmen ergriffen werden, um das identifizierte Problem zu lösen.


In einem ministeriellen Schreiben an die EU-Kommission vom Juli 2019 verweist Bundesgesundheitsminister Spahn auf eine Umfrage unter den Behörden der Mitgliedsstaaten, wonach einer groben Schätzung zufolge etwa 150.000 Produkte von 4.000 Herstellern durch neue Klassifizierungsregeln erstmals einer Zertifizierung durch eine Benannte Stelle bedürfen. Dem GKV-Spitzenverband sind keine Details über die konkret betroffenen Produkte dieser Schätzung bekannt. Dennoch erscheint es angemessen, angesichts der zahlenmäßigen Dimension eine Ausnahmeregelung zu schaffen, mit der diese Produkte zeitlich befristet nach den alten EU-Richtlinien verkehrsfähig bleiben. Der Zeitraum soll es Herstellern und Benannten Stellen ermöglichen, die neuen Anforderungen in guter Qualität umzusetzen und mögliche Versorgungsengpässe zu vermeiden.


Der GKV-Spitzenverband warnt jedoch davor, den Geltungsbeginn der Verordnung insgesamt in Frage zu stellen oder zu verschieben. Es war und ist genug Zeit für Hersteller, Behörden und Benannte Stellen, sich auf den seit Jahren bekannten Geltungsbeginn der Verordnung vorzubereiten.


[1] Dr. Martin Renhardt, Sozialministerium Österreich; EUNetHTA-Workshop, Wien, 28.05.2019. https://www.eunethta.eu/wp-content/uploads/2019/06/WS2_Documentation_25.06.2019pdf.pdf, Seite 14. Zugriff am 08.08.2019.