Der Schlüssel zur Umsetzung des Draghi-Berichtes.

AH – 12/2024

In einem kürzlich veröffentlichten Artikel haben sich die Autoren Anton Hemerijck und David Bokhorst näher mit dem Draghi-Bericht befasst. Im Rahmen ihrer Analyse fokussierten sie sich insbesondere auf die sozialen Investitionen und deren ungenutztes Potenzial zur Förderung des wirtschaftlichen Fortschritts und des sozialen Wohlergehens in der Europäischen Union (EU). Dabei setzten sie sich konkret mit zwei wesentlichen Ansätzen des Draghi-Berichts auseinander: Zum einen mit dem Zusammenhang zwischen den Sozialausgaben und dem Wirtschaftswachstum und zum anderen mit der Forderung nach einem neuen Koordinierungsrahmen für die Wettbewerbsfähigkeit.

Draghi-Bericht

Der im September 2024 veröffentlichte Bericht schlägt eine umfassende Agenda vor, um die Wettbewerbsfähigkeit der EU langfristig zu sichern. Der Bericht weist unter anderem auf eine große Investitionslücke hin, die die zukünftige wirtschaftliche Stärke der EU im globalen Wettbewerb gefährden könnte. Um diese Lücke schließen zu können, empfiehlt Draghi eine jährliche Investition von etwa 4 bis 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Staatengemeinschaft.

 

Des Weiteren ist er der Auffassung, dass sich das bisherige Europäische Semester als uneffektiv und bürokratisch erwiesen habe und fordert daher einen neuen europäischen Koordinierungsrahmen (Competitiveness Coordination Framework), der sich ausschließlich auf die Wettbewerbsfähigkeit konzentriert und das europäische Semester ersetzen soll.


Die Kernaussagen des Draghi-Berichts wurden zuletzt von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als neues europäisches Narrativ in die politischen Leitlinien der Kommission aufgenommen.

Sozialausgaben und Wettbewerbsfähigkeit

Entgegen den Aussagen des Draghi-Berichts, führen Hemerijck und Bokhorst in ihrem Artikel an, dass es keinen negativen Zusammenhang zwischen den Sozialausgaben und dem Wirtschaftswachstum sowie der Wettbewerbsfähigkeit gibt. Nicht die Sozialausgaben an sich seien entscheidend, sondern vielmehr die Struktur der Sozialausgaben. In ihrem Artikel zeigen sie am Beispiel Dänemarks und der Niederlande, dass durchaus ein positiver Zusammenhang zwischen Wettbewerbsfähigkeit und hohen Sozialausgaben bestehen kann. Beide Mitgliedstaaten haben weit überdurchschnittliche Sozialausgaben gemessen am Anteil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und sind im europäischen Vergleich besonders wettbewerbsstark. Die Sozialausgaben werden in diesen Ländern zu gleichen Teilen in die Bildung, aktivierende beschäftigungspolitische Maßnahmen, den Sozialschutz und die Integration von älteren Menschen investiert.

Soziale Investitionen

Beide Autoren zeigen in ihrem Artikel auf, dass Sozialschutz auch einen investiven Charakter besitzt. Bildung, aktive Arbeitsmarktpolitik sowie Prävention und Rehabilitation versetzen Menschen in die Lage, sich aktiv in das Erwerbsleben einzubringen und sich auf zukünftige Herausforderungen einzustellen. Hierzu verweisen sie auf den finalen Bericht der von der Kommission beauftragten Hochrangigen Gruppe (HLG) zur Zukunft des Sozialschutzes und des Wohlfahrtsstaates in der EU. Nach den Auffassungen beider Autoren hätte Draghi von den Ausführungen der HLG für seinen Bericht profitieren können.

Europäische Semester ist wichtig

Die Wissenschaftler widersprechen entschieden der Forderung Draghis, das Europäische Semester durch einen neuen Koordinierungsrahmen für Wettbewerbsfähigkeit zu ersetzen. Das Europäische Semester behandelt gleichwertig Fragen der finanz- und wirtschaftspolitischen Steuerung sowie arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Zielsetzungen. Die Mitgliedstaaten und die gesamte EU haben von den daraus resultierenden Reformen profitiert. Als Beispiel, dass sich das Europäische Semester erfolgreich mit zukünftigen Herausforderungen befasst hat, wird von den Autoren das erste gemeinsame Treffen des Rates „Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz“ (EPSCO) mit dem Rat für „Wirtschaft und Finanzen“(ECOFIN) angeführt. Dabei wurde beschlossen, den Analyserahmen für soziale Investitionen gemeinsam weiterzuentwickeln und diesen zum Bestandteil des Europäischen Semesters zu machen.