Die Europäische Kommission sucht Wege, um Europa aus der Krise zu führen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hofft, dass auch eine Stärkung der sozialen Dimension die Europäische Union attraktiver machen wird.

IW – 04/2017

Mit einer Stärkung der sozialen Dimension möchte Juncker der in den vergangenen Jahren zugenommenen Skepsis der EU-Bürgerinnen und Bürger begegnen und das Vertrauen in die Europäische Union zurückgewinnen. In seiner Erklärung zur Lage der Union hatte er deswegen bereits 2015 die Errichtung eines europäischen Sockels sozialer Rechte angekündigt. 

Nach umfangreichen Konsultationen wird die von der EU-Kommission überarbeitete Säule sozialer Rechte am 26. April 2017 erwartet und vielleicht Antworten auf die in den vergangenen Monaten diskutierten Fragen geben. Denn bislang ist immer noch nicht richtig deutlich geworden, was mit einer Europäischen Säule sozialer Rechte tatsächlich erreicht werden kann. 

 

Unabhängig davon, welchen Weg die Europäische Union einschlagen wird, hat die deutsche Sozialversicherung hierzu klare Vorstellungen: Definition, Ausgestaltung und Finanzierung der Systeme sozialer Sicherheit liegen in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Die europäische Ebene kann je nach Rechtsmaterie mehr (Arbeitsschutz) oder weniger (Renten, Gesundheit, Arbeitsmarkt) ergänzend tätig werden.  

Diese klare Kompetenzverteilung wird jedoch auf europäischer Ebene immer wieder hinterfragt. So haben die in den vergangenen Monaten geführten Diskussionen zur Europäischen Säule sozialer Rechte einen entsprechenden Kompetenzkonflikt angedeutet (vgl. hierzu die Meldung "Eu­ro­päi­sche Säu­le so­zia­ler Rech­te: Po­si­ti­on der deut­schen So­zi­al­ver­si­che­rung"). 

 

Aber auch das im März veröffentlichte Weißbuch zur Zukunft Europas wirft Fragen auf. Hier hat die Brüsseler Behörde in fünf Szenarien beschrieben, wie sich ein geeintes Europa der 27 Mitgliedstaaten bis 2025 entwickeln könnte (vgl. die Meldung Kom­mis­si­ons­prä­si­dent Juncker stellt Weiß­buch zur Zu­kunft der EU vor"). Aus Sicht der gesetzlichen Sozialversicherung dürfte insbesondere die fünfte Option besonders zu beobachten sein. Eine deutlich vertiefte Integration in allen Politikbereichen, einschließlich der Sozialpolitik, soll danach die Zukunft Europas prägen. Kompetenzen könnten damit auch im sozialen Bereich „geteilt“ werden, um Entscheidungen künftig gemeinsam zu treffen, eine Option, die die bewährte Aufgabenverteilung zwischen der mitgliedstaatlichen und europäischen Ebene in Frage stellen wird. Eine anderes Szenario bezieht sich dagegen auf eine Konzentration weniger Bereiche, die einen Mehrwert bieten könnten, wie zum Beispiel die Förderung technologischer Innovationen, Einwanderung oder Grenzschutz. Damit würde ein Rückzug aus den Bereichen Beschäftigung, Sozialpolitik und Gesundheit einhergehen.  

Die verschiedenen Szenarien werden in den kommenden Monaten intensiv diskutiert; den Beginn hat hier das Treffen der Staats- und Regierungschefs anlässlich des 60. Jahrestages der Europäischen Union in Rom gemacht. Es bleibt abzuwarten, welchen Weg die EU in den kommenden Monaten tatsächlich einschlagen wird. Eines dürfte jedoch klar sein. Nicht nur Großbritannien muss sich nach dem Brexit neu aufstellen, auch die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten müssen entscheiden, wie sie in Zukunft weitermachen möchten.  

Die gesetzliche Sozialversicherung wird den Prozess nach wie vor aufmerksam verfolgen und die weiteren anstehenden EU-Initiativen begleiten, wie zum Beispiel die angekündigte Initiative zum Zugang zum Sozialschutz. Es ist davon auszugehen, dass die EU-Kommission hier verschiedene Fragen erörtern möchte, wie etwa die Möglichkeit oder die Notwendigkeit einer Ausweitung des Sozialschutzes auf alle Erwerbstätigen. Daneben möchte die EU-Kommission, dass über eine Reform der Richtlinie über die Pflichten des Arbeitgebers zu Beginn eines Arbeitsverhältnisses nachgedacht wird. Nach den aktuellen Regelungen muss der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zu Beginn der Beschäftigung oder kurz danach schriftlich über wesentliche Aspekte seines Arbeitsverhältnisses unterrichten (Nachweisrichtlinie 91/533/EG). Hier könnte die EU-Kommission die Diskussion eröffnen, ob die EU-Richtlinie auf alle Formen der Beschäftigung ausgeweitet werden sollte, so zum Beispiel auch auf Plattformarbeitnehmer.