Müssen betrügerisch erlangte Entsendebescheinigungen vom Aufnahmestaat bedingungslos anerkannt werden?

BG/AD – 11/2017

Das belgische Bauunternehmen Absa hat in der Zeit von 2008 bis 2012 sämtliche Arbeiten von bulgarischen Subunternehmen ausführen lassen. Die Mitarbeiter der Subunternehmen besaßen die Bescheinigungen E 101 (heute: A 1) aus Bulgarien. Die belgische Sozialinspektion kontrollierte 2012 das Unternehmen Absa und zweifelte das Bestehen der Subunternehmen in Bulgarien an. Daraufhin schrieb sie den bulgarischen Sozialversicherungsträger wegen Betrugverdachts an. Die Antwort schien der belgischen Behörde nicht genügend aussagekräftig und sie leitete deswegen im Jahr 2013 ein Strafverfahren bei dem in Belgien zuständigen Gericht ein. 

Zum Ausgangsverfahren

Am 27. Juni 2014 wurde das belgische Bauunternehmen mit der Begründung freigesprochen, die Beschäftigungen der bulgarischen Arbeitnehmer seien vollständig durch die regulär und rechtmäßig ausgestellten Bescheinigungen E 101 „gedeckt“. Dies ergebe sich auch aus der Antwort des bulgarischen Sozialversicherungsträgers, der trotz des von den belgischen Behörden angesprochenen Betrugsverdachts lediglich eine Kopie der bereits bekannten Bescheinigung E 101 zusandte.  

 

Die von der Staatsanwaltschaft eingelegte Berufung gegen das Urteil war erfolgreich. Das Gericht war der Auffassung, dass die Entsendebescheinigungen E 101 betrügerisch erwirkt worden seien. Die Subunternehmen hätten durch Vortäuschen falscher Tatsachen die Gemeinschaftsregelungen für die Entsendung umgangen, um Vorteile zu erlangen. 

 

Gegen das Berufungsurteil legte das Bauunternehmen Revision ein. Die Richter des Revisionsgerichts zweifelten daran, ob eine Bescheinigung E 101 von einem anderen Gericht als dem des Entsendemitgliedstaats für nichtig erklärt oder außer Acht gelassen werden kann. Dies vor allem dann, wenn die Bescheinigung betrügerisch erwirkt oder geltend gemacht wurde. Deswegen haben sie das Verfahren ausgesetzt und die Frage dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt. 

Generalanwalt missachtet ständige Rechtsprechung

Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bindet die Bescheinigung E 101 den Sozialversicherungsträger des Empfangsmitgliedstaats. Auch deren Judikative kann die Gültigkeit der Bescheinigung nicht widerrufen oder für ungültig erklären, da sie dazu nicht befugt ist. 

 

In seinen Schlussanträgen vom 9. November 2017 (Rs. C-359/16) schlägt Generalanwalt Henrik Saugmandsgaard Øe dem Gerichtshof vor, diese bisherige Rechtsprechung zu missachten und stattdessen „Neuland“ zu betreten: Das Gericht des Aufnahmemitgliedstaats soll nicht länger an die Bescheinigung E 101 gebunden sein, wenn es feststellt, dass sie betrügerisch erwirkt oder in Anspruch genommen wurde. 

 

Es sei Sache des nationalen Gerichts, zu überprüfen, ob die für die Annahme eines Betrugs erforderlichen objektiven und subjektiven Elemente gegeben sind. Das objektive Element bestehe darin, dass die Voraussetzungen, von denen der angestrebte Vorteil abhängt, in Wirklichkeit nicht erfüllt seien. Das subjektive Element sei die Betrugsabsicht. Sofern beide Elemente vorliegen, gelte die allgemeine Regel, dass der Arbeitnehmer dem Recht des Mitgliedstaats unterliegt, in dessen Hoheitsgebiet er seiner Beschäftigung nachgeht.  

 

Das Urteil des EuGH wird in ein paar Monaten erwartet.  

 

Die Pressemitteilung des EUGH finden Sie hier.