Editorial

30 Jahre die Stimme der Deutschen Sozialversicherung in Europa

Liebe Leserinnen und Leser,


im Jahr 1993 haben sich die Spitzenorganisationen der Deutschen Sozialversicherung in Deutschland zusammengetan, um eine gemeinsame Europavertretung in Brüssel aufzubauen. 30 Jahre später haben wir Grund genug, um zu feiern.

Der Zeitpunkt war damals nicht zufällig. Es war das Jahr, in dem die Vorschriften über den Europäischen Binnenmarkt in Kraft getreten sind. Anlass genug – denn ein starker europäischer Wirtschaftsraum braucht eine starke sozialversicherungsrechtliche Flankierung. Die Expertise dazu haben wir mitgebracht. Denn die Zuständigkeit für die Gesundheits- und Sozialpolitik liegt primär bei den Mitgliedstaaten. Dafür gibt es gute Gründe und die gelten auch heute noch.

Doch jede Regel kennt auch Ausnahmen: Die Schaffung des Europäischen Binnenmarktes markiert insbesondere für die Krankenversicherung einen Meilenstein in der europäischen Entwicklung. Auf den 14. Juni 1993 ist die Medizinprodukterichtlinie datiert. 2017 wurde sie durch zwei Verordnungen – und damit durch unmittelbar geltendes europäisches Recht – ersetzt. Die Medizinprodukteverordnungen zielen auf eine Erhöhung der Produkt- und damit der Patientensicherheit. Leider verzögert sich ihre Geltung aufgrund der Folge von Pandemie, Brexit und Umsetzungsproblemen noch um einige Jahre.

Im Rahmen der Gesamtstrategie zur Schaffung eines europäischen Binnenmarkts für Arzneimittel wurde kurz darauf, am 1. Januar 1995, das "zentralisierte" Verfahren zur Arzneimittelzulassung festgelegt und der Grundstein für die heutige Europäische Agentur für Arzneimittel (EMA) gelegt. Das bestehende Gemeinschaftsrecht wurde zudem durch die Einführung der "gegenseitigen Anerkennung" einzelstaatlicher Zulassungen von Human- und Tierarzneimitteln zwischen den Mitgliedstaaten weiterentwickelt. Heute und die kommenden Jahre befassen wir uns mit der wohl größten Revision der bestehenden europäischen Arzneimittelgesetzgebung.

Seit den 90er Jahren hat die Europäische Kommission bei Medizinprodukten und Arzneimitteln also deutlich stärkere legislative Kompetenzen im gesundheitspolitischen Bereich. Doch bereits mit der Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahr 1957 sind klare sozialpolitische Aufträge auf der europäischen Ebene verankert worden. Und auch dafür gab es gute Gründe.

Um die im Rahmen der europäischen Freizügigkeit erforderliche Mobilität möglich zu machen, wurde der EWG das Recht zugestanden, die dafür notwendigen Sozialbestimmungen zu erlassen. So zur gegenseitigen Anerkennung von Abschlüssen, zur ärztlichen Behandlung im Ausland und zur Beibehaltung bereits erworbener Rentenansprüche bei einem Jobwechsel ins Ausland. Es war die Geburtsstunde des Koordinierungsrechts. Die nationalen Sozialversicherungsträger wirken auch heute noch daran mit, dieses kontinuierlich weiterzuentwickeln und effizient umzusetzen.

Eingeschränkte europäische Zuständigkeiten gibt es seit den 50er Jahren auch beim Schutz der Gesundheit und Sicherheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Wenn wir uns als DSV heute mit der Umsetzung der Chemikalienstrategie und schärferen Grenzwerten für Asbest oder Blei auseinandersetzen, dann pflegen wir auf Basis neuester wissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse den fachlichen Diskurs mit den europäischen Institutionen und ziehen an einem Strang, um den Arbeitsschutz kontinuierlich zu verbessern. Eine Zusammenarbeit, die auch deshalb gut läuft, weil wir vor Ort sind und über kurze Wege verfügen. So geschieht sozialer Fortschritt.

Im Bereich der Rentenversicherung steht die Verständigung auf gemeinsame Ziele im Vordergrund. Denn die eigentliche Kompetenz liegt auch hier beim Nationalstaat. Ein wichtiger Schritt war die Vereinbarung gemeinsamer Ziele zu angemessen Renten im Jahr 2003. Damit werden heute auf europäischer Ebene das Ziel finanziell tragfähiger Rentensysteme und das sozialpolitische Ziel angemessener Renten gemeinsam diskutiert. Für die Zukunft gilt es, diese gemeinsamen europäischen Ziele vor den Herausforderungen des Klimawandels und der Digitalisierung weiterzuentwickeln.

Denn mit der Digitalisierung, den demografischen Veränderungen und nicht zuletzt dem Klimawandel stehen den Sozialversicherungen große Veränderungen ins Haus. Herausforderungen meistert man immer besser, wenn man miteinander redet. Dafür sind wir vor 30 Jahren nach Brüssel gekommen. Und das tun wir selbstverständlich auch heute noch – mit einem engagierten Team von acht Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und im engen Austausch mit unseren Trägern in Deutschland sowie den europäischen Partnerorganisationen.


Wir freuen uns auf die weitere Arbeit. Lassen Sie uns im Gespräch bleiben.


Ihre 

Ilka Wölfle