
Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
rund 17 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger leben und arbeiten derzeit im EU-Ausland, ergänzt durch eine wachsende Zahl an Nicht-EU-Bürgern, die temporär bei uns tätig sind. Diese Menschen spielen eine wichtige Rolle, um Fachkräftelücken zu schließen und die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft zu sichern. Doch in einigen Branchen entsprechen die Arbeitsbedingungen nicht immer den europäischen Standards.
ed* Nr. 01/2025 – Kapitel 1
Vor allem der Güterkraftverkehr ist in den letzten Jahren immer wieder in den Fokus geraten. Das haben die Proteste auf der Raststätte Gräfenhausen in Hessen im Jahr 2023 sehr deutlich gemacht. Grund waren ausstehende Lohnzahlungen eines polnischen Unternehmens. Der erste Streik fand sein Ende, nachdem die Lohnforderungen mit Unterstützung der europäischen Transportarbeitergewerkschaften durch Verhandlungen erfüllt wurden. Im zweiten Streik hat wohl das deutsche Lieferkettengesetz entscheidend zur Lösung des Konflikts beigetragen. Denn im Ergebnis hat nicht das Speditionsunternehmen die Löhne beglichen, sondern die Unternehmen, die Teil der Lieferkette waren.
Gräfenhausen ist kein Einzelfall und der Politik sind diese Fälle auch bekannt. Brüssel ist deswegen auch in den vergangenen Jahren nicht untätig geblieben und hat europaweit mit Gesetzen wie dem Mobilitätspaket I und II sowie dem EU-Lieferkettengesetz die europäischen Regeln verschärft. Und mit der Europäischen Arbeitsbehörde wurde eine Behörde geschaffen, die bei der Umsetzung und Durchsetzung der Rechte helfen soll. Was faire Arbeitsbedingungen betrifft, gibt es aber auch heute noch Defizite.
Der Güterkraftverkehr ist nicht die einzige Branche, in dem die Arbeitsbedingungen hinter den europäischen Ansprüchen zurückbleiben. Auch in der Lebensmittelindustrie, in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder in der Pflege sind häufig Missstände zu beobachten. Die Beschäftigten kommen zunehmend aus Drittländern. Angesichts des Fachkräftemangels in Europa, stellt sich die Frage, wie man mit diesen Menschen so umgehen kann. Wenn sich die Situation nicht ändert, könnte es bald niemanden mehr geben, der bereit ist, diese für unsere Gesellschaft und den Binnenmarkt so wichtigen Jobs zu übernehmen.
Wenn wir wollen, dass Menschen aus aller Welt für uns arbeiten, dann müssen wir dafür sorgen, dass in ganz Europa gute und faire Arbeitsbedingungen gewährleistet werden. Welche Möglichkeiten gibt es, in den nächsten Jahren zur Verbesserung der Situation beizutragen? Brauchen wir weitere europäische Regeln oder liegt es an der mangelnden Rechtsdurchsetzung? Diesen und weiteren Fragen wollen wir in unserem aktuellen Themenletter ed* nachgehen. Wir haben hierzu einige der Branchen, die in der Vergangenheit in die Kritik geraten sind, etwas genauer unter die Lupe genommen: den Güterkraftverkehr, das Baugewerbe, die Lebensmittelindustrie und die Landwirtschaft.
Ich wünsche ich Ihnen eine interessante Lektüre.
Ihre
Ilka Wölfle
Direktorin