Stellungnahme der Deutschen Sozialversicherung vom 26. August 2025

zur geplanten Neuklassifizierung von Ethanol


Vorbemerkung

Ethanol ist ein zentraler Arbeitsstoff und wird vielfältig als Desinfektions-, Konservierungs-, Lösungs- und Reinigungsmittel sowie in Kraftstoffen eingesetzt. Er kann über die Haut, die Schleimhäute, die Atemwege oder oral in den menschlichen Körper gelangen. Derzeit stehen zwei Verfahren zu Ethanol im Rahmen der europäischen Chemikaliengesetzgebung an, um mögliche Gefahren für die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu untersuchen. Beide Verfahren sind für den Arbeits- und Gesundheitsschutz von Beschäftigten bedeutend.

Die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) führt eine Neubewertung von Ethanol im Rahmen der Biozidprodukteverordnung (BPR) durch. Hintergrund ist eine gesetzliche Änderung aus dem Jahr 2012, wonach alle Biozidwirkstoffe, die vor 2013 auf den europäischen Markt kamen, erneut auf ihre Gefährdung hin geprüft werden müssen – darunter auch Ethanol. Im Zuge dieser Neubewertung wird untersucht, ob Ethanol die Kriterien erfüllt, um als potenziell krebserregend (C), erbgutverändernd (M) oder fortpflanzungsgefährdend (R) – also als sogenannter CMR-Stoff – inklusive der Wirkung auf/über die Laktation eingestuft zu werden. Die Europäische Kommission wird auf der Grundlage der ECHA-Stellungnahme anschließend die Neubewertung von Ethanol in einem delegierten Rechtsakt rechtlich umsetzen.

Parallel zu dieser Neubewertung im Biozidrecht ist auch eine Überarbeitung der harmonisierten Einstufung und Kennzeichnung von Ethanol im Rahmen der CLP-Verordnung (Verordnung zur Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen) geplant. Das Verfahren dient dazu, einheitliche Risikomanagementstandards in der Europäischen Union (EU) zu gewährleisten und die Gefahrenkommunikation zu vereinfachen.


Die Deutsche Sozialversicherung (DSV) unterstützt grundsätzlich jede Neubewertung von chemischen Stoffen hinsichtlich möglicher Gefahren für die menschliche Gesundheit und Umwelt. Sie weist jedoch nachdrücklich darauf hin, dass die Verwendung von Ethanol in verschiedenen industriellen Prozessen und als Biozidwirkstoff in Desinfektionsmitteln nach wie vor unverzichtbar ist. Eine Einstufung als CMR-Stoff ohne Berücksichtigung des tatsächlichen Expositionspfades kann sich insoweit nachteilig auf die Arbeitswelt, Gesundheitsversorgung und Wirtschaft auswirken. Die DSV setzt sich daher im Vorfeld der Neuklassifizierung für verhältnismäßige, wissenschaftlich differenzierte und praktikable Lösungen ein, um mögliche unerwünschte Rechtsfolgen zu vermeiden.

Stellungnahme

Biozidprodukteverordnung

Ethanolhaltige Desinfektionsmittel sind in der Pflege, in Krankenhäusern und in anderen medizinischen Einrichtungen unverzichtbar, da sie Patientinnen, Patienten und Beschäftigte effektiv vor Infektionen schützen. Gegenwärtig gibt es keine geeigneten Alternativen, die eine vergleichbare Wirksamkeit und Verfügbarkeit wie Ethanol bieten. Die DSV spricht sich daher dafür aus, die hohe Bedeutung von Ethanol als Biozidwirkstoff anzuerkennen, und fordert die Europäische Kommission auf, eine uneingeschränkte Verwendung von Desinfektionsmitteln weiterhin zu ermöglichen.

Ethanol zeichnet sich durch seine breite antimikrobielle Wirksamkeit, schnelle Wirkung und gute Hautverträglichkeit aus. Eine pauschale Gefährdungseinstufung von Ethanol als CMR-Stoff und eine damit einhergehende Einschränkung der Verwendung, die den tatsächlichen Expositionsweg außer Acht lässt, hätte somit weitreichende und unangemessene Folgen für den Infektionsschutz, die Patientensicherheit sowie den Arbeits- und Gesundheitsschutz von Beschäftigten im Gesundheitswesen und darüber hinaus.

Je nach der Kategorie der Einstufung wäre der Einsatz von Desinfektionsmitteln nur noch in Ausnahmefällen wie zur Abwehr schwerwiegender Gesundheitsgefahren im Pandemiefall erlaubt. Der bewährte alltägliche Einsatz in medizinischen und pflegerischen Einrichtungen, vor allem zur Desinfektion von Händen und Flächen, wäre hingegen stark eingeschränkt. Solche Einschränkungen stünden demnach im Widerspruch zur etablierten Nutzung von Ethanol in Desinfektionsmitteln, dessen Aufnahme über die Haut und Atemwege wissenschaftlich gut untersucht ist und sich in der Regel mit den geltenden Grenzwerten sicher kontrollieren lässt. Die Studien, die für die Neuklassifizierung von Ethanol als CMR herangezogen wurden, beziehen sich jedoch ausschließlich auf die gesundheitsschädlichen Eigenschaften dieses Stoffes bei oraler Aufnahme. Nicht jedoch auf die fast ausschließliche berufliche Exposition über die Haut und/oder Atemwege.

Auch in lebensmittelnahen Bereichen findet Ethanol Anwendung, etwa zur Desinfektion von Arbeitsflächen und Geräten – vor allem, weil es keine bedenklichen Rückstände hinterlässt und durch schnelles Verdunsten das Wachstum von Mikroorganismen hemmt. Bei sachgemäßer Anwendung sind Tätigkeiten mit ethanolhaltigen Desinfektionsmitteln aus Sicht des Arbeitsschutzes unbedenklich. Zudem ist Ethanol in den meisten Anwendungsbereichen vergällt, wodurch ein Missbrauch als Trinkalkohol und somit eine orale Aufnahme ausgeschlossen werden kann.

CLP-Verordnung

Auch die geplante Überarbeitung der harmonisierten Einstufung und Kennzeichnung von Ethanol als CMR-Stoff – insbesondere als krebserzeugend oder fortpflanzungsgefährdend – hätte tiefgreifende und potentiell unverhältnismäßige Auswirkungen auf zahlreiche Wirtschaftszweige sowie den Arbeits- und Gesundheitsschutz der dort Beschäftigten.

Ethanol ist ein unverzichtbarer Arbeitsstoff in einer Vielzahl industrieller und gewerblicher Anwendungen, von der chemischen und pharmazeutischen Industrie über die Lebensmittel- und Kosmetikherstellung bis hin zu Laboranwendungen, der Desinfektion und der Medizintechnik. Aus Sicht der DSV würde deswegen eine pauschale Einstufung von Ethanol als CMR-Stoff, ohne dass die realen Expositionspfade und wissenschaftliche Risikobewertungen berücksichtigt werden, nicht nur bewährte Produktionsprozesse gefährden, sondern auch etablierte Sicherheitsstandards infrage stellen. Die DSV fordert die Europäische Kommission deswegen dazu auf, bei der Überarbeitung der harmonisierten Einstufung und Kennzeichnung von Ethanol sicherzustellen, dass sichere Arbeitsabläufe nicht durch unverhältnismäßige Auflagen beeinträchtigt werden.

Schon heute kommen Schutzmaßnahmen in Betrieben zum Einsatz, die Beschäftigte – etwa in der Lack-, Farben- und Klebstoffherstellung, der Reinigung, der Kunststoff- und Gummiverarbeitung oder in der Lebensmittelproduktion – wirksam vor der Aufnahme von Ethanol über die Haut und Atemwege bewahren. Der Schutz vor einer Exposition nach einer Einstufung als CMR-Stoff erfordert grundsätzlich Maßnahmen – wie den Einsatz von Ethanol in geschlossenen Systemen, das Führen von Expositionsverzeichnissen oder arbeitsmedizinische Pflichtvorsorge – deren praktische Umsetzbarkeit jedoch nur eingeschränkt möglich und in vielen Fällen kaum realisierbar ist.

Auch Anpassungen an den aktuellen Regelungen bezüglich der fortpflanzungsgefährdenden Eigenschaften in Zusammenhang mit der Einstufung auf/über die Laktation von Ethanol hätten weitreichende Folgen. In diesem Fall können schwangere oder stillende Beschäftigte Tätigkeiten mit ethanolhaltigen Produkten nicht ausüben – selbst dann, wenn die Exposition im Arbeitsalltag durch Schutzmaßnahmen auf ein vernachlässigbares Maß reduziert ist. Dies würde faktisch zu Beschäftigungsverboten führen und ist nach Auffassung der DSV nicht zielführend.

Notwendigkeit der Rechtsfolgenabschätzung

Eine Folgenabschätzung ist für Initiativen der Europäischen Kommission erforderlich, die erhebliche wirtschaftliche, ökologische oder soziale Auswirkungen haben. Dies gilt auch für Durchführungs- und delegierte Rechtsakte. Um praxisgerechte Lösungen zu finden, müssen alle relevanten Faktoren – von der tatsächlichen Exposition bis hin zu den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen – berücksichtigt werden. Die DSV fordert daher die Europäische Kommission auf, ihre Überlegungen und Bedenken in die Folgenabschätzung zur Änderung der BPR- und CLP-Verordnung einfließen zu lassen.

Durch eine pauschale CMR-Einstufung von Ethanol in der BPR und CLP-Verordnung würden die praktischen Realitäten vieler Branchen verkannt. Eine fundierte und umfassende Bewertung aller von der DSV angeführten Auswirkungen ist daher unerlässlich, um sicherzustellen, dass der Einsatz von Ethanol in Bereichen, in denen er aus infektionspräventiven und produktionstechnischen Gründen unverzichtbar ist, weiterhin möglich bleibt.

Als Lösungsansatz bietet sich an, die Einstufung nach Anwendungsgebiet zu differenzieren – etwa durch eine getrennte Bewertung von vergälltem und nicht vergälltem Ethanol. Darüber hinaus sollten gezielte Ausnahmen geprüft werden, bei denen das entsprechende Risiko der gesundheitlichen Gefährdung Berücksichtigung findet. Auf diese Weise können Stoffe ausgenommen werden, bei denen aufgrund des vorliegenden Expositionspfads keine Gesundheitsgefahr am Arbeitsplatz besteht.

Über uns

Die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund), die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), der GKV-Spitzenverband, die Verbände der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen auf Bundesebene sowie die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) haben sich mit Blick auf ihre gemeinsamen europapolitischen Interessen zur „Deutschen Sozialversicherung Arbeitsgemeinschaft Europa e.V.“ zusammengeschlossen. Der Verein vertritt die Interessen seiner Mitglieder gegenüber den Organen der Europäischen Union sowie anderen europäischen Institutionen und berät die relevanten Akteure im Rahmen aktueller Gesetzgebungsvorhaben und Initiativen. Die Kranken- und Pflegeversicherung mit 75 Millionen Versicherten, die Rentenversicherung mit 57 Millionen Versicherten und die Unfallversicherung mit mehr als 70 Millionen Versicherten in 5,2 Millionen Mitgliedsunternehmen bieten als Teil eines gesetzlichen Versicherungssystems den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland wirksamen Schutz vor den Folgen großer Lebensrisiken.

DSV-Stellungnahme zur geplanten Neuklassifizierung von Ethanol