Stel­lung­nahme der Deut­schen Sozi­al­ver­si­che­rung vom 23. Oktober 2024

Anpassungen an den europäischen Vorschriften für Medizinprodukte



Vorbe­mer­kung

Die Medizinprodukteverordnung VO (EU) 2017/745 (Medical Device Regulation, MDR) und die Verordnung über In-vitro-Diagnostika VO (EU) 2017/746 (In-vitro-Diagnostica Regulation, IVDR) stellen grundlegende Anforderungen an den Zulassungsprozess dieser Produkte in der Europäischen Union (EU). Die Hauptziele der beiden Regelungswerke sind die Erhöhung der Sicherheit von in Verkehr gebrachten Medizinprodukten, die Erhöhung der Anforderungen an die klinische Bewertung von Hochrisikoprodukten, die Schaffung von Transparenz durch die Einführung einer zentralen Datenbank (EUDAMED) und die europaweite Harmonisierung der Qualität der Benannten Stellen.

Die europaweiten geltenden Regelungen zur Zulassung von Medizinprodukten wurden im Jahr 2017 gezielt verschärft, um die Patientensicherheit zu erhöhen. Rund 20.000 Instrumente, Geräte und Hilfen müssen deswegen (re-)zertifiziert werden. Auslöser war der Skandal um die sogenannten. „Medizinprodukte-Files“, die zahlreiche Mängel aufgedeckt haben. Am 26.05.2020 trat die MDR und am 26.05.2021 die IVDR in Kraft. Damit die für die Zertifizierung zuständigen Benannten Stellen und die herstellenden Unternehmen sich auf die neuen Regelungen vorbereiten können, wurden lange Übergangsfristen für die Anpassung an die neuen Zertifizierungsvorschriften eingeräumt. Diese wurden in einem Eilverfahren für Medizinprodukte am 15.03.2023 durch die Verordnung (EU) 2023/607 und für In-vitro-Diagnostika am 13.06.2024 durch die Verordnung (EU) 2024/1860 gestaffelt nach Risikoklassen nochmals verlängert. Mit der letztgenannten Verordnung wurden neben der Verlängerung der Übergangsfristen auch zwei grundlegende Anpassungen an der MDR vorgenommen. So wurde einerseits eine Meldepflicht für Hersteller von Medizinprodukten und In-vitro-Diagnostika im Falle einer Unterbrechung oder Beendigung der Versorgung von Medizinprodukten und In-vitro-Diagnostika eingeführt sowie die Einführung von EUDAMED durch Bestimmungen beschleunigt.

Aufgrund der anhaltenden Debatte um die Sicherstellung der Verfügbarkeit und Versorgung mit Medizinprodukten und In-vitro-Diagnostika, der anstehenden grundlegenden Evaluierung des regulatorischen Geltungsbereichs der MDR im Jahr 2025 sowie im Hinblick auf Forderungen in der Entschließung des Europäischen Parlaments, dass vorgezogene Gesetzesänderungen oder regulatorische Anpassungen, insbesondere für „Orphan Devices“ vorgenommen werden sollen, möchte die DSV mit diesem Papier auf Anpassungsbedarfe hinweisen.


Stel­lung­nahme

Die MDR ist ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Patientensicherheit und der Behandlungsqualität mit Medizinprodukten. Diese Prämisse muss bei der geplanten Evaluation und einer möglichen Anpassung der MDR unbedingt bestehen bleiben. Aus Sicht der DSV ist es auch nicht notwendig, den gesamten Regulierungsrahmen von Medizinprodukten und In-vitro-Diagnostika erneut zu verhandeln. Die aktuellen Vorschriften enthalten bereits wertvolle Sicherheits- und Qualitätsanforderungen. Diese dürfen im Rahmen einer Anpassung nicht abgeschwächt werden. Um die Verfügbarkeit von Medizinprodukten zu gewährleisten, die weiterhin den von der MDR angestrebten höchsten Sicherheits- und Qualitätsstandards entsprechen, ist aus Sicht der DSV Folgendes entscheidend:

Trans­pa­renz

Transparenz ist der Schlüssel zur (Versorgungs-)Sicherheit und Rückverfolgbarkeit von Medizinprodukten. Sie ist von entscheidender Bedeutung, um notwendige politischen Maßnahmen auf Grundlage eindeutiger Fakten besser ausrichten zu können.

Die Gewährleistung einer hochwertigen und bezahlbaren Versorgung mit Medizinprodukten sowie deren zuverlässige Verfügbarkeit durch resiliente Produktions- und Lieferketten ist von zentraler Bedeutung für die Gesundheit und Sicherheit der Patientinnen und Patienten in Europa. Um die Verfügbarkeit von Medizinprodukten durch legislative und nicht-legislative Anpassungen zu verbessern, ist es aus Sicht der DSV im ersten Schritt eine transparente Faktenlage notwendig.

  • Veröffentlichung eines transparenten und systematischen Berichts über Marktrücknahmen und Ursachen

Die DSV bemängelt, dass noch immer kein systematischer und transparenter Bericht über Medizinprodukte, die aufgrund der MDR tatsächlich vom Markt genommen wurden oder bei denen der Hersteller eine Marktrücknahme beabsichtigt von der Europäischen Kommission vorgelegt wurde. Aus Sicht der DSV ist mehr Klarheit und Transparenz in Bezug auf die Arten von Produkten erforderlich, deren Nichtverfügbarkeit die Patientenversorgung ernsthaft gefährden könnte, sowie in Bezug auf die genauen Gründe für Rücknahmen.

Die DSV begrüßt zwar, dass neben der Anpassung der Übergangsfristen auch eine Informationspflicht im Falle einer Unterbrechung oder Beendigung der Versorgung von Medizinprodukten und In-vitro-Diagnostika vorgenommen wurde. Der in der Verordnung (EU) 2024/1860 neu eingefügte Artikel 10a „Pflichten bei Unterbrechung der Versorgung mit bestimmten Medizinprodukten“ enthält sinnvolle Bestimmungen über die Meldung von erwarteten Unterbrechungen oder einer Einstellung der Lieferung bestimmter Produkte. Was aber aus Sicht der DSV fehlt, ist die Vorlage eines systematischen und transparenten Berichts über die gewonnenen Erkenntnisse, um davon abgeleitet entsprechende legislative oder nicht legislative Anpassungen an der MDR vorzunehmen. Dieser Bericht muss Grundlage dafür sein.

  • Funktionsfähigkeit von EUDAMED gewährleisten

Darüber hinaus ist ein wesentlicher Transparenzmechanismus die Europäische Datenbank für Medizinprodukte – EUDAMED, die bisher noch nicht voll funktionsfähig ist. Aus Sicht der DSV ist es gut, dass die Europäische Kommission in der Verordnung (EU) 2023/1860 Maßnahmen zur Beschleunigung der Nutzbarkeit von EUDAMED getroffen hat. Eine vollständige Funktionsfähigkeit muss schnellstmöglich gewährleistet werden.

  • Vermeidung intransparenter nationaler Sonderregelungen

Die MDR enthält in Artikel 59 Bestimmungen, dass Mitgliedstaaten in Not- bzw. Ausnahmefällen - im Interesse der öffentlichen Gesundheit oder der Patientensicherheit oder -gesundheit - Medizinprodukte auch ohne vollständiges bzw. erfolgreiches Konformitätsbewertungsverfahren auf den Markt bringen können. Von diesen Sonderregelungen wird derzeit für bestimmte Produkte Gebrauch gemacht. Aus Sicht der DSV widerspricht eine Marktfragmentierung durch nationale Sonderregelungen dem europäischen Gedanken und ist nicht im Sinne der MDR. Die Europäische Kommission sollte daher die ihr übermittelten Informationen über nationale Zulassungen veröffentlichen, da sie auch Informationen über die Sicherheit und die klinische Leistung der betreffenden Produkte sowie über die Gültigkeitsdauer der Zulassungen beinhalten. Die herstellenden Unternehmen sollten auch verpflichtet werden, die Gründe zu benennen, aus denen eine Konformitätsbewertung auf europäischer Ebene nicht durchgeführt werden konnte. Parallel dazu müssen geeignete Schutzmaßnahmen vorgesehen werden, um die Verwendung dieser Produkte auf diejenigen Patientinnen und Patienten zu beschränken, die sie wirklich benötigen.

Orphan-Devices

Die Verabschiedung transparenter und harmonisierter Maßnahmen auf europäischer Ebene ist wichtig, um den Marktzugang von versorgungsrelevanten Medizinprodukten, insbesondere Orphan Devices, rechtssicher zu regeln und dabei ein hohes Maß an Sicherheit, Qualität und Transparenz zu gewährleisten.

„Orphan-Devices“ sind Medizinprodukte, die für die Behandlung, Diagnose oder Vorbeugung von Krankheiten oder eines Leidens bestimmt sind, die nur eine kleine Anzahl von Personen – nicht mehr als 12.000 pro Jahr in der EU - betreffen. Im Juni 2024 hat die Koordinierungsgruppe Medizinprodukte (MDCG) eine Leitlinie zum Umgang mit Orphan Devices veröffentlicht (MDCG 2024-10). Viele der Empfehlungen sind sinnvoll und begrüßenswert. Die DSV empfiehlt, die folgenden Aspekte gesetzlich zu regeln:

  • Eindeutige Definitionen und Begriffsbestimmungen in die MDR integrieren

Aus Sicht der DSV müssen die Prozesse für eine Anerkennung von Medizinprodukten als „Orphan Device“ und deren Inverkehrbringen verbindlich in die MDR integriert werden. Eine Regelung auf Basis von Empfehlungen schafft Unklarheit und Rechtsunsicherheit. Die von der MDCG festgelegten Definitionen zu „Orphan Device“, „Orphan Population“ und „Orphan Subpopulation“ müssen in die Begriffsbestimmungen des Artikels 2 der MDR integriert werden, um rechtliche Klarheit zu schaffen.

  • Strukturelle Aufteilung der Konformitätsbewertung von Orphan Devices zwischen Benannter Stelle und zentraler behördlicher EU-Prüfstelle vornehmen

Die DSV schlägt vor, dass für Produkte mit Orphan Device-Status besondere Konformitätsbewertungsverfahren etabliert werden. Die Bewertung der Technischen Dokumentation soll dabei jeweils durch die verantwortlichen Benannten Stellen erfolgen, denn sie halten die entsprechende Fachexpertise für diese Aufgabe vor. Die klinische Bewertung und die Zweckbestimmung sollte hingegen eine zentrale Prüfstelle auf europäischer Ebene überprüfen und dabei die Expertenpanels der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) beteiligen. Auch sollte die zentrale Prüfstelle entscheiden, welche Produkte den Orphan Device Status erhalten. Erster Ansprechpartner für Hersteller sollten die zuständigen Benannten Stellen bleiben. Eine Bündelung der medizinischen Fachexpertise sowie der zugehörigen Bewertungs- und Entscheidungskompetenz an zentraler Stelle stellt sicher, dass die betroffenen Medizinprodukte einheitlich und aufwandsarm bewertet werden. Die Benannten Stellen werden entlastet, da sie für die hochspezialisierte und verhältnismäßig selten anstehende Prüfung der klinischen Bewertung von Orphan Devices kein Expertenpersonal vorhalten müssen.

  • Anforderungen an die klinische Bewertung und an die Marktbeobachtung regeln

Die DSV fordert, dass die Empfehlungen der MDCG für die klinische Bewertung von Orphan Devices sowie für ihre Marktbeobachtung nach dem Inverkehrbringen integraler Bestandteil der MDR werden sollen. Aufgrund der begrenzt verfügbaren klinischen Daten zu diesen Produkten sollte sichergestellt sein, dass im Rahmen der Zulassung klare Qualitätsanforderungen an die Anwender bzw. die Einrichtungen (Krankenhäuser, Arztpraxen usw.) vorgegeben und verbindliche Vorgaben für die Gewinnung von fehlenden klinischen Daten gemacht werden. Der Hersteller kann Vorschläge unterbreiten; über entsprechende Auflagen soll jedoch die zentrale Prüfstelle entscheiden.

  • Europaweite Erfassung und zentrale Bündelung von klinischen Daten mit Orphan Devices notwendig

Orphan Devices kommen nur in kleinen Patientengruppen zum Einsatz. Daher ist eine Gewinnung von aussagekräftigen klinischen Daten eine große Herausforderung. Um einen Überblick über die Versorgungsqualität in den betroffenen Indikationen zu erhalten und zugleich den Herstellern die Möglichkeit zu geben, notwendige klinische Daten zu sammeln, fordert die DSV, dass europaweite klinische Register etabliert oder Daten aus bestehenden nationalen Registern zusammengeführt werden. Es sollten möglichst EU-weit Daten aller betroffenen Patientinnen und Patienten in diesen Registern erfasst werden. Sofern in der betroffenen Indikation mehrere Orphan Devices auf dem Markt verfügbar sind, sollten die zugehörigen Behandlungsdaten in einem Register zusammengeführt, ausgewertet und in regelmäßigen Abständen veröffentlicht werden.


Über uns

Die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund), die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), der GKV-Spitzenverband, die Verbände der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen auf Bundesebene sowie die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) haben sich mit Blick auf ihre gemeinsamen europapolitischen Interessen zur „Deutschen Sozialversicherung Arbeitsgemeinschaft Europa e.V.“ zusammengeschlossen. Der Verein vertritt die Interessen seiner Mitglieder gegenüber den Organen der Europäischen Union sowie anderen europäischen Institutionen und berät die relevanten Akteure im Rahmen aktueller Gesetzgebungsvorhaben und Initiativen. Die Kranken- und Pflegeversicherung mit rund 75 Millionen Versicherten, die Rentenversicherung mit 57 Millionen Versicherten und die Unfallversicherung mit mehr als 70 Millionen Versicherten in 5,2 Millionen Mitgliedsunternehmen bieten als Teil eines gesetzlichen Versicherungssystems den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland wirksamen Schutz vor den Folgen großer Lebensrisiken.

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