Stellungnahme der Deutschen Sozialversicherung vom 02. Dezember 2025
Vorschlag für eine Verordnung über die Europäische Chemikalienagentur
Vorbemerkung
Der Rechtsrahmen für Chemikalien in der Europäischen Union zählt zu den umfassendsten weltweit. Er bietet ein hohes Maß an Schutz für die menschliche Gesundheit und die Umwelt vor schädlichen Auswirkungen chemischer Stoffe. Seit ihrer Gründung im Juni 2007 trägt die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) maßgeblich zur Umsetzung dieses Rechtsrahmens bei. Ursprünglich im Rahmen der Verordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH) eingerichtet, hat sich ihr Aufgabenbereich in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich erweitert. Heute übernimmt die ECHA zusätzliche technische, wissenschaftliche und administrative Aufgaben. Diese Aufgaben wurden der Agentur unter anderem durch die Verordnung über Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung (CLP), die Verordnung über Biozidprodukte (BPR) sowie die Verordnung über die vorherige Zustimmung nach Inkenntnissetzung (PIC) übertragen. Darüber hinaus wurde die Rolle der ECHA durch eine Ad-hoc-Vereinbarung zur Erstellung wissenschaftlicher Gutachten zu Arbeitsplatzgrenzwerten, die Umsetzung der Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit und des Konzepts „Ein Stoff, eine Bewertung“ zusätzlich erweitert.
Die Deutsche Sozialversicherung (DSV) begrüßt ausdrücklich, dass für die ECHA künftig eine eigenständige Rechtsgrundlage geschaffen werden soll.1 Ein klar definierter Rechtsrahmen kann zur Stärkung der Führungs- und Steuerungsstrukturen der ECHA beitragen und ermöglicht es ihr, die seit ihrer Gründung stetig gewachsenen Aufgabenbereiche auch künftig effizient und unabhängig wahrzunehmen. Auch die Bündelung aller ECHA-bezogenen Regelungen, die bisher in verschiedenen Rechtsakten zu finden sind, ist sinnvoll. Gleichzeitig müssen die unterschiedlichen Interessen – insbesondere von Gesundheit, Arbeitsschutz, Umwelt und Wirtschaft – ausgewogen berücksichtigt werden.
Aus Sicht der DSV sollten im weiteren Gesetzgebungsverfahren insbesondere folgende Aspekte Berücksichtigung finden:
- die klare Verankerung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes in der ECHA-Grundverordnung, sodass er bei Entscheidungen systematisch berücksichtigt wird,
- die systematische Einbindung von Expertinnen und Experten mit Arbeitsschutzkompetenz in den Ausschüssen und im Verwaltungsrat,
- eine verbindliche und institutionalisierte Kooperation der ECHA mit der Europäischen Kommission und ihren Agenturen, insbesondere mit der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA), und
- die Stärkung der Unabhängigkeit der Agentur durch den Ausbau angemessener personeller und fachlicher Ressourcen.
Stellungnahme
Verankerung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes in der ECHA-Grundverordnung
Die DSV fordert, dass der Arbeits- und Gesundheitsschutz als fester Bestandteil in der ECHA-Grundverordnung verankert wird, sodass er bei allen Entscheidungen systematisch berücksichtigt wird. Das Chemikalienrecht und die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten sind untrennbar miteinander verbunden. Dies zeigt sich insbesondere an den Verordnungen wie REACH, CLP und BPR, die auch Mechanismen zum Schutz der Beschäftigten vor gefährlichen Chemikalien vorsehen. Darüber hinaus werden Arbeitsplatzgrenzwerte zunehmend auf EU-Ebene festgelegt, die in der Regel von der nationalen Ebene so auch übernommen werden müssen. Da die Festlegung der Arbeitsplatzgrenzwerte auch als eine Aufgabe des Ausschusses für Risikobeurteilung (RAC) in der Grundverordnung reguliert werden soll, ist es daher umso wichtiger, eine frühzeitige und substanzielle Beteiligung der Mitgliedstaaten sowie der relevanten Fachinstitutionen am europäischen Entscheidungsprozess sicherzustellen. Der Schutzbedarf vor der Exposition gegenüber Chemikalien oder gefährlichen Stoffen unterscheidet sich je nach Adressatengruppe – etwa zwischen Allgemeinbevölkerung, schutzbedürftigen Personen, Beschäftigten oder der Umwelt. Eine pauschale Bewertung ohne Rücksicht auf die konkrete Expositionssituation und das tatsächliche Risiko sollte unbedingt vermieden werden. Stattdessen sollten nationale Erfahrungen und wissenschaftliche Erkenntnisse in die Grenzwertsetzung einfließen, damit Arbeitsplatzgrenzwerte das benötigte Schutzniveau garantieren und zugleich umsetzbar bleiben.
Fachkompetente und ausgewogene Besetzung der ECHA-Gremien
Die DSV fordert, dass die Zusammensetzung der ECHA-Gremien – insbesondere des Verwaltungsrats sowie der wissenschaftlichen Ausschüsse – die erforderliche Fachkompetenz widerspiegelt und dementsprechend auch Expertinnen und Experten aus dem Bereich des Arbeitsschutzes angemessen vertreten sind. Für eine fundierte und verlässliche Bewertung von Stoffen müssen den Ausschüssen Fachleute aus Arbeitsmedizin, Toxikologie, Expositionsermittlung und Epidemiologie angehören.
Da die Aufgaben der Agentur stetig zunehmen, ist eine Stärkung der personellen Kapazitäten in den Ausschüssen erforderlich. Schon heute gibt es Engpässe, etwa bei der wissenschaftlichen Bewertung von Arbeitsplatzgrenzwerten im RAC. Um die Qualität und Flexibilität der wissenschaftlichen Arbeit zu erhöhen, muss nach Auffassung der DSV die Berufung von Expertinnen und Experten auch kurzfristig und themenspezifisch möglich sein. Zudem sollte eine kontinuierliche Weiterbildung der Ausschussmitglieder verbindlich vorgeschrieben werden.
Im Verwaltungsrat ist sicherzustellen, dass die Interessen des Arbeitsschutzes angemessen berücksichtigt werden. Die bisherige Sitzverteilung bildet diese Perspektive nicht ausreichend ab. Artikel 6 regelt die Zusammensetzung des Verwaltungsrats und legt in Absatz 3 fest, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Interessenträger von der Kommission ausgewählt werden und aus den Bereichen Industrie, Gewerkschaften, Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz stammen müssen. Die DSV hält es für unabdingbar, die Liste der in Artikel 6(3) genannten Bereiche um den Arbeitsschutz zu ergänzen. Darüber hinaus regt die DSV an, die Zahl der von der Europäischen Kommission ernannten Mitglieder im Verwaltungsrat gemäß Artikel 6(1)(b) zu erhöhen und auch in diesem Zusammenhang die Gebiete – ähnlich wie in Artikel 6(3) – verbindlich festzuschreiben. Dies ermöglicht eine breitere fachliche Vertretung. Aus Sicht der DSV sollte die Zahl dieser Mitglieder von sechs auf zwölf erhöht werden: sechs Mitglieder von der Europäischen Kommission und sechs Vertreter aus jeweils einem der festgelegten Fachgebiete. Dies würde eine ausgewogenere Repräsentation sicherstellen und die notwendige fachliche Vielfalt im Verwaltungsrat stärken.
Kooperation und wissenschaftlicher Austausch zwischen EU-Agenturen
Die DSV spricht sich nachdrücklich dafür aus, dass die ECHA verbindlich und dauerhaft mit der Europäischen Kommission und ihren Agenturen zusammenarbeitet, insbesondere mit der EU-OSHA. Nur so kann sichergestellt werden, dass arbeitsschutzrelevante Perspektiven regelmäßig und systematisch in die Arbeit der ECHA einfließen. Aufgaben wie die Prüfung von Sicherheitsdatenblättern, die Entwicklung von Expositionsszenarien für Gemische oder die Ableitung wissenschaftlicher Grenzwertvorschläge könnten dadurch effizienter und kohärenter umgesetzt werden.
Außerdem betont die DSV, wie wichtig eine enge Kooperation der europäischen Agenturen ist, um verlässliche und wissenschaftlich fundierte Entscheidungen zu treffen. Verschiedene wissenschaftliche Perspektiven dürfen dabei nicht als Widerspruch oder Problem verstanden werden, sondern müssen als Stärke gesehen werden. Unterschiedliche fachliche Bewertungen sind Ausdruck eines lebendigen wissenschaftlichen Diskurses und tragen maßgeblich zur Qualität und Transparenz regulatorischer Entscheidungen bei. Verfahren sollten daher so gestaltet werden, dass unterschiedliche Positionen systematisch in die Arbeit der ECHA-Ausschüsse einfließen und auf dieser Basis eine gemeinsame, fachlich tragfähige Position entwickelt wird.
Stärkung von Steuerung, Finanzierung und Unabhängigkeit
Die DSV fordert eine Stärkung der Führungs- und Steuerungsstrukturen, eine Verbesserung des Finanzierungsmodells sowie die Sicherstellung der fachlichen und institutionellen Unabhängigkeit der ECHA. Eine unabhängige Finanzierung ist entscheidend, damit die Agentur effektiv, transparent und ohne politische Einflussnahme arbeiten kann. Wichtig ist vor allem, die Unabhängigkeit der ECHA zu stärken und für ausreichend fachliche und personelle Ressourcen zu sorgen, damit sie künftig ihren zusätzlichen Aufgaben gerecht werden kann. In Zukunft sollte die Agentur nur dann neue Aufgaben übernehmen, wenn sie über ausreichende Kapazitäten und Expertise verfügt. Außerdem müssen demokratische Beteiligungsprozesse aller relevanten Akteure – einschließlich der Mitgliedstaaten, der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Arbeitsschutzinstitutionen – gewahrt bleiben. Nur so kann die ECHA ihre Funktion als glaubwürdige, wissenschaftsbasierte und unabhängige Säule des europäischen Chemikalienrechts langfristig erfüllen.
Über uns
Die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund), die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), der GKV-Spitzenverband, die Verbände der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen auf Bundesebene sowie die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) haben sich mit Blick auf ihre gemeinsamen europapolitischen Interessen zur „Deutschen Sozialversicherung Arbeitsgemeinschaft Europa e.V.“ zusammengeschlossen. Der Verein vertritt die Interessen seiner Mitglieder gegenüber den Organen der Europäischen Union sowie anderen europäischen Institutionen und berät die relevanten Akteure im Rahmen aktueller Gesetzgebungsvorhaben und Initiativen. Die Kranken- und Pflegeversicherung mit 75 Millionen Versicherten, die Rentenversicherung mit 57 Millionen Versicherten und die Unfallversicherung mit mehr als 70 Millionen Versicherten in 5,2 Millionen Mitgliedsunternehmen bieten als Teil eines gesetzlichen Versicherungssystems den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland wirksamen Schutz vor den Folgen großer Lebensrisiken.
DSV-Stellungnahme zum Vorschlag für eine Verordnung über die Europäische Chemikalienagentur