Feedback der Deutschen Sozialversicherung vom 2. September 2025

Sondierung der Europäischen Kommission zu einem neuen Aktionsplan zur Europäische Säule sozialer Rechte

Vorbemerkung

Die Europäische Kommission beabsichtigt, im vierten Quartal 2025 einen neuen Aktionsplan zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR) vorzulegen. Die Deutsche Sozialversicherung (DSV) begrüßt die Bestrebungen der Europäischen Union (EU), mit einem neuen Aktionsplan verbleibende Lücken zu schließen und gleichzeitig die Umsetzung der bereits angestoßenen Maßnahmen aus dem Aktionsplan von 2021 weiter voranzutreiben. Ebenso wird die Beibehaltung der drei Kernziele bis 2030 befürwortet, da sie Kontinuität in der Verwirklichung der ESSR gewährleisten. Mit Blick auf den neuen Aktionsplan sind aus Sicht der DSV einige Themen von querschnittlicher Relevanz:

Soziale Sicherheit als Wettbewerbsvorteil verstehen

In der aktuellen Legislaturperiode setzt die Europäische Kommission einen Schwerpunkt auf die Wettbewerbsfähigkeit und Industriepolitik. Die DSV erkennt die Relevanz dieser Prioritäten angesichts der veränderten ökonomischen und geopolitischen Rahmenbedingungen an, weist jedoch darauf hin, dass leistungsfähige Systeme der sozialen Sicherheit eine Grundvoraussetzung für nachhaltiges Wachstum und europäische Resilienz darstellen. Sie fördern den gesellschaftlichen Zusammenhalt, stärken das Vertrauen in notwendige Transformationen – etwa im Zuge des digitalen und demografischen Wandels – und tragen dazu bei, Fachkräfte zu gewinnen und dauerhaft im Erwerbsleben zu halten. Maßnahmen für sichere und gesunde Arbeitsplätze sind dabei kein Hemmnis für Wettbewerbsfähigkeit. Stattdessen profitieren Unternehmen, die konsequent in die Sicherheit und Gesundheit ihrer Mitarbeitenden investieren, langfristig durch weniger Ausfälle, höhere Produktivität und eine stärkere Mitarbeiterbindung.

Chancen der Digitalisierung und künstlichen Intelligenz nutzen

Die Digitalisierung und der Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) verändern die Arbeitswelt, die sozialen Sicherungssysteme und die Gesundheitsversorgung grundlegend. Digitale Lösungen bieten erhebliche Chancen – von der effizienten Bereitstellung von Versichertenleistungen über moderne Arbeitsschutzmaßnahmen bis zur vorausschauenden Gesundheitsversorgung. Die DSV setzt sich deshalb dafür ein, dass die Potenziale digitaler Technologien zur Stärkung der sozialen Sicherheit und der Gesundheitsversorgung genutzt werden. Damit der digitale Wandel sozial ausgewogen gelingt, müssen digitale und KI-Anwendungen nutzerorientiert ausgestaltet sein, Datenschutz und Grundrechte wahren sowie Nichtdiskriminierung, Transparenz und die Letztentscheidung durch den Menschen sicherstellen. Außerdem muss eine enge Verzahnung zwischen verschiedenen EU-Vorhaben gewährleistet werden. Das Politikprogramm für die digitale Dekade sowie begleitende Rechtsakte – etwa zur europäischen digitalen Identität (EUDI), zu einem einheitlichen digitalen Zugangstor oder einem interoperablen Europa – sollten kohärent mit sektoralen Vorhaben wie dem Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS) und dem Europäischen Sozialversicherungspass (ESSPASS) weiterentwickelt werden.

Freizügigkeit durch das Koor‌di‌nie‌rungs‌recht sicher‌stellen

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine zentrale Errungenschaft der EU und ein wichtiger Faktor für Innovation und Wettbewerb. Die europarechtliche Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sorgt dafür, dass die grenzüberschreitende Mobilität nicht zu Nachteilen in der sozialen Absicherung führt. Dabei sollte das Koordinierungsrecht regelmäßig an die gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen angepasst werden. Die seit fast neun Jahren andauernden Verhandlungen über die Revision der Koordinierungsverordnungen zeigen, wie schwierig eine Einigung in diesem Bereich ist. Einige Punkte – etwa zum Umgang mit grenzüberschreitenden Leistungen bei Pflegebedürftigkeit – sind bereits konsentiert. Aus Sicht der DSV ist die Reform daher abzuschließen oder nach alternativen Wegen zu suchen, um Rechtssicherheit zu schaffen.

Resiliente Gesundheitssysteme schaffen

Europa braucht krisen- und zukunftsfeste Gesundheitssysteme. Dazu müssen die Kräfte auf europäischer Ebene sinnvoll gebündelt und gemeinsame Potenziale genutzt werden, ohne die Besonderheiten der nationalen Systeme zu ignorieren. Dies gilt beispielsweise für gemeinsame Standards und Nutzenbewertungen von Arzneimitteln und Medizinprodukten. Ferner können Herausforderungen, etwa der Umgang mit neuen Technologien oder die Bewältigung von Lieferengpässen bei Arzneimitteln und Medizinprodukten, am besten gemeinsam bewältigt werden. Dazu bedarf es in einem ersten Schritt der Transparenz sowie gemeinsamer Strategien zur Sicherung von Forschung, Entwicklung und Verordnung krisenrelevanter Produkte. Im Vordergrund müssen dabei immer der Mehrwert für die Versicherten, deren bedarfsgerechte und qualitätsgesicherte Versorgung und eine nachhaltige Finanzierung der nationalen Gesundheitssysteme stehen. Wirtschaftliche Interessen dürfen nicht zulasten der finanziellen Stabilität der Gesundheitssysteme gehen – vielmehr muss die Bezahlbarkeit im Fokus bleiben.

Kohärenz sozialpolitischer Initiativen sicherstellen

Nicht zuletzt muss der neue Aktionsplan zur ESSR kohärent mit weiteren sozialpolitischen Initiativen – insbesondere dem Fahrplan für hochwertige Arbeitsplätze und der EU-Strategie zur Armutsbekämpfung – verzahnt werden. Diese Prozesse verfolgen gemeinsame Ziele, etwa die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze und die Bekämpfung von Armut. Sie sollten deshalb aufeinander abgestimmt entwickelt werden. Der neue Aktionsplan zur ESSR muss deutlich machen, wie die verschiedenen sektoralen und horizontalen Maßnahmen ineinandergreifen, um soziale Rechte glaubwürdig weiterzuentwickeln und wirtschaftspolitische Vorhaben auf ein soziales Fundament zu stellen.

Die folgende Stellungnahme beschränkt sich auf die Themenbereiche, die für die Träger der DSV von besonderer Bedeutung sind. Die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung mit 75 Millionen Versicherten, die gesetzliche Rentenversicherung mit 57 Millionen Versicherten und die gesetzliche Unfallversicherung mit mehr als 70 Millionen Versicherten in 5,2 Millionen Mitgliedsunternehmen bieten den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland wirksamen Schutz vor den Folgen großer Lebensrisiken. Damit sind sie eine tragende Säule des Sozialstaats und leisten einen maßgeblichen Beitrag zu sozialer Stabilität sowie wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit.

Stellungnahme

Mehr und bessere Arbeitsplätze

Die Mitteilung der Europäischen Kommission zum Aktionsplan 2021 konzentriert sich im ersten Kapitel zur Umsetzung der ESSR auf die Erhaltung und Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf Arbeitsnormen, die den aktuellen Entwicklungen – etwa der steigenden Digitalisierung und der Zunahme von Telearbeit – angepasst werden müssen. Außerdem widmet sich dieses Kapitel den daraus resultierenden Anforderungen an Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz.

Vor diesem Hintergrund umfasste der Aktionsplan von 2021 unter anderem die folgenden Maßnahmen, zu denen die DSV wie folgt Stellung bezieht:

Überprüfung des Qualitätsrahmens für Praktika

Hinsichtlich der Überprüfung des Qualitätsrahmens für Praktika begrüßt die DSV das vorgelegte Maßnahmenpaket für bessere Praktika in der EU, das im Vergleich zum Qualitätsrahmen für Praktika von 2014 den Sozialschutz stärker hervorhebt. Wichtig bleibt, dass Informationen zum Sozialversicherungsschutz für Praktikantinnen und Praktikanten sowie Arbeitgeber niedrigschwellig zugänglich sind – etwa über bestehende Online-Plattformen.

Plattformarbeit

Die DSV begrüßt die Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit (Richtlinie (EU) 2024/2831) und unterstützt die darin formulierten Ziele. Personen, die über digitale Plattformen arbeiten, sollen den rechtmäßigen Status erhalten, der ihren tatsächlichen Arbeitsbedingungen entspricht. Zudem sind Fairness, Transparenz und Rechenschaftspflicht beim algorithmischen Management zu gewährleisten. Positiv bewertet die DSV auch, dass die Richtlinie bei ihrer Umsetzung keine europaweite Harmonisierung der geltenden nationalen Regelungen und Bedingungen für eine Beschäftigungsvermutung vorsieht. Dadurch können nationale Regelungen, einschlägige nationale Rechtsprechung sowie die Interessen der Sozialpartner weiterhin berücksichtigt werden.

Folgemaßnahmen zum Weißbuch zur künstlichen Intelligenz

Mit dem KI-Gesetz (Verordnung (EU) 2024/1689) hat die EU den weltweit ersten Ordnungsrahmen für den Einsatz von KI geschaffen. Die DSV unterstützt den wertebasierten Ansatz und die klare Zielsetzung, die Chancen von KI zu nutzen und dabei europäische Werte und Grundrechte zu wahren. Außerdem wird positiv bewertet, dass für Anwendungen mit hohem Risiko Transparenz sowie menschliche Letztentscheidung vorgeschrieben sind. Zugleich zeigt sich aus Sicht der DSV Nachbesserungsbedarf bei der konkreten Umsetzbarkeit einzelner Vorgaben. So müssen die technischen und administrativen Anforderungen an Hochrisiko-KI für öffentliche Einrichtungen realistisch ausgestaltet sein und dürfen nicht zu unverhältnismäßigem Aufwand führen. Die DSV fordert daher eine frühzeitige Einbindung der Sozialversicherungsträger bei der Umsetzung und Auslegung des Rechtsrahmens, etwa über die einschlägigen Durchführungsrechtsakte und Leitlinien der Europäischen Kommission. Dabei sollte die europäische Ebene den Dialog mit den betroffenen Sektoren aktiv suchen und auch die sektorenspezifischen Risiken und Anwendungsfelder – insbesondere im Bereich der sozialen Sicherheit und Gesundheit – differenziert berücksichtigen.

Neue Strategie für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz

Um die bereits hohen Schutzstandards für Beschäftigte zu modernisieren und sowohl traditionellen als auch neuen arbeitsbedingten Risiken wirksam zu begegnen, sollten die Maßnahmen des Strategischen Rahmens der EU für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz bis 2028 weiter umgesetzt und gemeinsam das Ziel der „Vision Zero" – die Vermeidung tödlicher und schwerer Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten – verfolgt werden. Die DSV regt an, das Bewusstsein für die „Vision Zero“ und die wirtschaftlichen Vorteile einer effektiven Prävention stetig und konsequent in allen Mitgliedstaaten zu fördern.

Gleichzeitig sieht die DSV bei der Umsetzung einzelner Ziele des Rahmens Nachbesserungsbedarf. Die angekündigte Überarbeitung der Richtlinien über Arbeitsstätten (Richtlinie 89/654/EWG) und Bildschirmarbeitsgeräte (Richtlinie 90/270/EWG) sollte zügig erfolgen. Zwar ist der bestehende Arbeitsschutzrahmen grundsätzlich flexibel genug, um auf neue Entwicklungen in der Arbeitswelt zu reagieren. Dennoch müssen neue Risiken, die beispielsweise durch mobile und digitale Arbeitsformen und den zunehmenden Einsatz von KI entstehen können, angemessen berücksichtigt werden. Anpassungen angesichts des technologischen Fortschritts, der Digitalisierung und der veränderten Organisation der Arbeitsplätze sind insofern unerlässlich.

Mit Blick auf das Auslaufen der aktuellen Strategie im Jahr 2027 ist es aus Sicht der DSV entscheidend, dass die Europäische Kommission rechtzeitig einen Folgestrategieentwurf ab 2028 vorlegt. Nur mit einer nahtlosen Fortführung kann sichergestellt werden, dass sichere und gesunde Arbeitsplätze in der EU auch künftig den Herausforderungen einer sich dynamisch wandelnden Arbeitswelt standhalten.

Legislativvorschläge zur Verringerung der Exposition von Arbeitnehmern gegenüber gefährlichen Chemikalien, einschließlich Asbest

Bezogen auf den Schutz vor gefährlichen Stoffen begrüßt die DSV, dass der Richtlinie zu Asbest am Arbeitsplatz (Richtlinie (EU) 2023/266) und der Richtlinie zu Karzinogenen, Mutagenen und reproduktionstoxischen Stoffen bei der Arbeit (CMRD, Richtlinie 2004/37/EG) ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. Der im Juli vorgelegte Vorschlag der Kommission zur 6. Änderung der CMRD unterstreicht die Priorität, die dem Schutz vor gefährlichen Arbeitsstoffen beigemessen wird. Zugleich spricht sich die DSV dafür aus, dass die Europäische Kommission regelmäßig an weiteren Anpassungen der CMRD arbeitet. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse sowie der Einsatz innovativer Materialien und Technologien führen zu potenziellen Gefährdungen, die im bestehenden Rechtsrahmen noch nicht erfasst sind. Eine kontinuierliche Aktualisierung ist notwendig, um die Wirksamkeit der Richtlinien sicherzustellen und den Schutz der Beschäftigten langfristig zu gewährleisten. Die DSV wird die weitere Entwicklung auch im Hinblick auf zukünftige Änderungen konstruktiv begleiten.

Kompetenzen und Gleichstellung

Das zweite Kapitel der Mitteilung zur Umsetzung der ESSR thematisiert unter anderem den Aufbau einer Union der Gleichheit, in der die Schaffung von Chancengleichheit und die Bekämpfung von Stereotypen und Diskriminierung in den Bereichen Beschäftigung, Ausbildung, Bildung, Sozialschutz, Wohnen und Gesundheit priorisiert werden. Einer der Schwerpunkte liegt auf dem Bereich Menschen mit Behinderungen.

Vor diesem Hintergrund umfasste der Aktionsplan von 2021 unter anderem die folgende Maßnahme, zu der die DSV wie folgt Stellung bezieht:

Neue Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen

Die Strategie zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen 2021-2030 bildet einen wichtigen, von der DSV unterstützten Rahmen, um die soziale und wirtschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen diskriminierungsfrei und unter uneingeschränkter Achtung ihrer Rechte zu sichern. Das Recht auf Arbeit spielt hierbei eine zentrale Rolle, da es Selbstbestimmung sowie umfassende gesellschaftliche und berufliche Teilhabe ermöglicht.

Vor diesem Hintergrund bemängelt die DSV, dass Maßnahmen für den Zeitraum 2025-2030 fehlen. Auch die Umsetzung und Nutzung der bis 2024 vorgesehenen Maßnahmen sollte systematisch nachgehalten werden. So hat die Europäische Kommission zwar ein Paket zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen von Menschen mit Behinderung vorgelegt, doch ist unklar, ob und wie die darin enthaltenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten angewendet werden. Zudem regt die DSV eine Verbesserung der Datenerfassung und der Berichterstattung an, um den Fortschritt bei der Umsetzung der Strategie und die Erreichung ihrer Ziele angemessen bewerten zu können.

Sozialschutz und soziale Inklusion

Das dritte Kapitel in der Mitteilung zur Umsetzung der ESSR gilt dem Sozialschutz und der sozialen Inklusion. Dies umfasst die Bekämpfung von Armut ebenso wie die Gesundheits- und Pflegesysteme, deren Resilienz, Zugänglichkeit und Wirksamkeit gesichert werden sollen. Außerdem betrifft dieses Kapitel die Zukunft des Sozialschutzes, der angesichts der Digitalisierung und grenzüberschreitender Arbeitsmobilität angepasst werden muss.

Vor diesem Hintergrund umfasste der Aktionsplan von 2021 unter anderem die folgenden Maßnahmen, zu denen die DSV wie folgt Stellung bezieht:

Leitfäden zur Vergabe öffentlicher Aufträge für innovative Lösungen und zur sozial verantwortlichen Vergabe öffentlicher Aufträge

Die DSV begrüßt, dass die Europäische Kommission zu den sehr komplexen europäischen Vergaberegelungen durch Leitfäden mehr Klarheit geschaffen hat. Mit Blick auf die für 2026 geplante Reform zum Vergaberecht und die in diesem Zusammenhang geführte Diskussion, auch nicht-preisliche Vergabekriterien wie soziale und ökologische Begleitumstände der Leistungserbringung sowie Aspekte der Liefersicherheit und Stabilität der Lieferketten zu berücksichtigen, weist die DSV darauf hin, dass die praktische Anwendung solcher Kriterien Rahmenbedingungen und Zertifizierungsinstrumente braucht, die flexiblere und rechtssichere Entscheidungen ermöglichen. Preistreibende verpflichtende Auflagen und Bestimmungen, die dazu führen, dass sich am Ende weniger Anbieter am Wettbewerb beteiligen, sind zu vermeiden, um Mehrausgaben in den sozialen Sicherungssystemen zu verhindern.

Initiative zur Langzeitpflege

Mit der im September 2022 vorgelegten Pflegestrategie der Europäischen Kommission und der Empfehlung des Rates zur Langzeitpflege hat die EU erstmals einen strategischen Rahmen geschaffen, um den Zugang zu bezahlbarer, hochwertiger und wohnortnaher Pflege in Europa zu verbessern. Ziele sind unter anderem die Sicherstellung von Pflegequalität, die Fachkräftesicherung, die Unterstützung pflegender Angehöriger, die Digitalisierung sowie die langfristige finanzielle Tragfähigkeit der Systeme. Aus Sicht der DSV ist dies ein wichtiger Schritt, um den wachsenden Pflegebedarfen in Europa strukturiert zu begegnen. Allerdings bleibt die Umsetzung bislang fragmentiert. Es mangelt an belastbaren europäischen Indikatoren, einem kohärenten Monitoring-System sowie an rechtlicher Klarheit bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Pflegeleistungen.

Neue Instrumente und Indikatoren betreffend den Zugang zur Gesundheitsversorgung

Die Europäische Kommission hat sich zum Ziel gesetzt, den Zugang zur Gesundheitsversorgung systematischer zu erfassen und durch neue Instrumente und Indikatoren messbar zu machen. Damit sollen Barrieren und Lücken im Zugang besser identifiziert und politisch adressiert werden können. Bislang bleiben diese Bemühungen jedoch hinter den Erwartungen zurück. Die Entwicklung und Anwendung klarer, vergleichbarer Indikatoren zum Zugang zur Gesundheitsversorgung stellen aus Sicht der DSV ein strukturelles Defizit auf EU-Ebene dar. Besonders deutlich wird dies im Pflegebereich, betrifft aber auch die allgemeine Gesundheitsversorgung, wo bestehende Datenerhebungen nicht ausreichen, um sozialpolitische Zielsetzungen umfassend zu evaluieren. Die DSV befürwortet daher eine kohärente, EU-weite Datenerhebung zum Zugang zu Gesundheits- und Pflegeleistungen. Damit könnten – gemäß dem Ziel des Aktionsplans von 2021 – gesundheitliche Ungleichheiten besser abgebildet und die Patientenperspektive hervorgehoben werden, um den Zugang vor allem für die Schwächsten zu verbessern.

Europäischer Raum für Gesundheitsdaten

Mit dem Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS) will die Europäische Kommission die grenzüberschreitende Digitalisierung der Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten gezielt vorantreiben. Gesundheitsdaten sollen systematisch für Versorgung, Forschung, Politik und Innovation nutzbar gemacht werden. Die DSV unterstützt dieses Vorhaben ausdrücklich. Der EHDS bietet die Chance, Versorgungsqualität zu verbessern, gesundheitliche Ungleichheiten zu verringern und datenbasierte Innovationen gemeinwohlorientiert zu gestalten. Im Fokus steht nun die Umsetzung. Bis spätestens 2027 sind zahlreiche Durchführungsrechtsakte vorzulegen. Diese werden entscheidend sein, um Zuständigkeiten zu klären, einheitliche Standards festzulegen, Interoperabilität sicherzustellen und den Datenschutz zu wahren. Aus Sicht der DSV muss die Datennutzung vorrangig dem Wohl der Patientinnen und Patienten sowie der Stärkung der öffentlichen Sozial- und Gesundheitssysteme dienen. Sie ist klar an gemeinwohlorientierte Zwecke zu binden, insbesondere an die Verbesserung der Versorgung, Qualitätssicherung und Prävention. Nationale Zuständigkeiten müssen gewahrt bleiben. Ebenso erforderlich ist eine verbindliche und frühzeitige Einbindung der Sozialversicherungsträger. Transparente Verfahren zur Regelung der Zugangsrechte, insbesondere bei der Sekundärnutzung durch Forschung und Industrie, sowie vertrauensbildende Maßnahmen gegenüber Versicherten und Leistungserbringern sind unverzichtbar. Die DSV wird die Umsetzung des EHDS weiterhin konstruktiv begleiten.

Arzneimittelstrategie

Die Europäische Kommission hat im Rahmen der Arzneimittelstrategie weitreichende Maßnahmen vorgelegt. Im Zentrum steht der am 26. April 2023 veröffentlichte Vorschlag zur Reform des EU-Arzneimittelrechts. Die DSV begrüßt das damit verbundene Ziel, den Zugang zu Arzneimitteln zu verbessern, ihre Verfügbarkeit zu sichern und ihre Bezahlbarkeit für die Patientinnen und Patienten in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Sie sieht darin die Chance, die Versorgung mit bewährten und innovativen Arzneimitteln solidarischer zu gestalten und die Resilienz der Gesundheitssysteme zu stärken. Seit Vorlage der Strategie rückt die Versorgungssicherheit zunehmend in den Fokus. Am 11. März 2024 folgte daher ein separater Verordnungsvorschlag für kritische Arzneimittel. Ziel des sogenannten Critical Medicines Act ist es, Lieferengpässen vorzubeugen und europäische Produktionskapazitäten zu stärken. Die DSV erkennt die industrie- und versorgungspolitische Bedeutung dieser Initiative an, warnt jedoch davor, soziale Aspekte aus dem Blick zu verlieren. Bezahlbarkeit und Zugang zu Arzneimitteln sind zentrale Bausteine sozialer Gerechtigkeit. Eine zukunftsfähige europäische Arzneimittelpolitik muss wirtschaftliche und soziale Ziele konsequent miteinander verknüpfen. Aus Sicht der DSV bedarf es dafür transparenter staatlicher Investitionen, eines gezielten Einsatzes öffentlicher Mittel und eines klaren Mehrwerts für Patientinnen und Patienten. Soziale Zielsetzungen wie die Bezahlbarkeit müssen systematisch in allen arzneimittelpolitischen Maßnahmen der EU berücksichtigt werden.

Europas Plan gegen Krebs

Drei Jahre nach Veröffentlichung des Plans gegen Krebs im Jahr 2021 zeigt sich nach Auffassung der DSV ein gemischtes Bild. Mit dem „Cancer Inequalities Registry“ wurde ein datenbasiertes Instrument geschaffen, das Unterschiede in der Krebsversorgung sichtbar macht und politische Handlungsschwerpunkte definiert. Dies bietet eine solide Grundlage für gezielte Maßnahmen und nationale Strategien. Die DSV unterstützt auch das Ziel eines EU-weiten Netzes von Krebszentren. Allerdings ist dessen Umsetzung noch nicht flächendeckend erfolgt. Positiv bewertet wird zudem die Neuausrichtung des Krebsscreening von 2022, die bis 2025 mindestens 90 Prozent der Zielgruppe Zugang zu Screening-Angeboten für Brust-, Gebärmutterhals- und Darmkrebs sichern soll, sowie die geplante Ausweitung auf weitere Krebsarten wie Lungen-, Prostata- und Magenkrebs. Begrüßt wird außerdem die Empfehlung von 2024 zur Stärkung von HPV- und HBV-Impfungen. Dennoch bleiben zentrale Maßnahmen zur Prävention von Alkohol- und Tabakkonsum bislang hinter den politischen Ambitionen zurück.

Grünbuch zum Thema Altern

Im Grünbuch zum Thema Altern wird die Verknüpfung der Regelaltersgrenze mit der steigenden Lebenserwartung angeregt. Die DSV betont jedoch, dass Fragen zur Finanzierung und zur konkreten Ausgestaltung der Rentensysteme klar in die nationale Zuständigkeit gehören und im jeweiligen Mitgliedstaat im demokratischen Prozess entschieden werden müssen. Positiv hervorgehoben wird hingegen, dass die Debatte neue Denkanstöße für Strategien geliefert hat, die Bürgerinnen und Bürger dabei unterstützen, freiwillig länger am Erwerbsleben teilzuhaben. Die DSV befürwortet diesen Ansatz, der auch in den Ratsschlussfolgerungen vom 19. Juni zur Unterstützung älterer Menschen bei der Ausschöpfung ihres Potenzials auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft Ausdruck findet.

Auch darüber hinaus hat das Grünbuch wichtige Impulse gesetzt. Die DSV begrüßt insbesondere den darin verfolgten Lebenszyklusansatz, den die Expertengruppe zur Zukunft des Sozialschutzes und des Wohlfahrtsstaats zur Lebensverlaufsperspektive weiterentwickelt hat. Positiv bewertet die DSV auch, dass das Grünbuch die Langzeitpflege als zentrales Handlungsfeld des demografischen Wandels identifiziert und damit maßgeblich den Bericht über Langzeitpflege und Betreuung älterer Menschen angestoßen hat.

Bericht der Hochrangigen Expertengruppe für den Zugang zu angemessenem und nachhaltigem Sozialschutz

Der Bericht der Hochrangigen Expertengruppe enthält wichtige Empfehlungen für die Gestaltung eines zukunftsfähigen und resilienten Sozialschutzes in Europa. Die DSV begrüßt insbesondere, dass der Abschlussbericht die Lebensverlaufsperspektive in den Mittelpunkt seiner sozialpolitischen Überlegungen stellt. Dabei wird zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen in unterschiedlichen Lebensphasen differenziert. Dies ermöglicht bedarfsgerechte Kombinationen aus Sozialdienstleistungen, Einkommensunterstützung und unterstützenden Regelungen, um sozialen Schutz und Wohlstand über den gesamten Lebensverlauf zu sichern.

Die DSV begrüßt auch, dass der Bericht die Relevanz sozialer Investitionen für zukunftsfähige und resiliente Sozialschutzsysteme unterstreicht. Diese Investitionen sind aus Sicht der DSV nicht nur sozialpolitisch notwendig, sondern auch ein zentraler wirtschaftlicher Erfolgsfaktor für Europa. Die DSV setzt sich deshalb dafür ein, im Rahmen des neu eingerichteten Knowledge Hubs intensiv an gemeinsamen Methoden zur Messung ihres volkswirtschaftlichen Ertrags weiterzuarbeiten. Langfristig sollten soziale Investitionen im Rahmen des Europäischen Semesters den Investitionen in physisches Kapital gleichgestellt werden, um ihre Bedeutung für Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit sichtbar zu machen.

Darüber hinaus hebt der Bericht die Bedeutung des Zugangs zum Sozialschutz für alle Bürgerinnen und Bürger hervor. Die im Rat der EU vereinbarte Formulierung und Evaluierung nationaler Ziele zum Zugang zum Sozialschutz sind zwar erfolgt und sowohl Gegenstand des Monitorings im Rahmen des Europäischen Semesters als auch des jährlichen Berichts des Ausschusses für Sozialschutz (SPC) zur Überwachung der sozialen Lage und zur Entwicklung der Sozialschutzpolitik. Es fehlt jedoch weiterhin an gemeinsamen europäischen Zielvorgaben. Aus Sicht der DSV ist der Zugang zum Sozialschutz ein zentraler Grundsatz der ESSR, den es unbedingt weiterzuentwickeln gilt. Die Weiterentwicklung des bestehenden Monitoringrahmens wird daher ausdrücklich begrüßt.

Digitale Dekade

Im Rahmen des Politikprogramms für die digitale Dekade wurde das Ziel ausgegeben, bis zum Jahr 2030 wesentliche Verwaltungsdienstleistungen digital bereitzustellen. Aus Sicht der DSV entfaltet die Digitalisierung ihr volles Potenzial jedoch nur, wenn der bürokratische Aufwand auf Seiten der Versicherten, der Verwaltung und der Arbeitgebenden durch die gesetzlichen Regelungen deutlich reduziert wird. Positiv hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Umsetzung des Systems für einen elektronischen Austausch von Sozialversicherungsdaten (EESSI), das bereits mehrere tausend Sozialversicherungsträger in 32 Ländern einbindet. EESSI zeigt, dass komplexe, langfristig angelegte Digitalprojekte erfolgreich realisierbar und für Versicherte ebenso wie Sozialversicherungsträger lohnend sind. Zugleich macht die Erfahrung mit EESSI deutlich, dass es sich bei der Digitalisierung um komplexe Sachverhalte handelt, die mit hohen Anforderungen an technische, rechtliche und organisatorische Umsetzungsprozesse verbunden sind. Die DSV wirbt erneut dafür, die Expertise der Praxis zu nutzen und die Sozialversicherungsträger frühzeitig und umfassend in die Entwicklung digitaler Vorhaben einzubeziehen, um praxisgerechte Lösungen sicherzustellen.

Europäischer Sozialversicherungsausweis

Mit dem Europäischen Sozialversicherungspass (ESSPASS) wurde ein zentrales Vorhaben zur Verbesserung der Koordination und Nachverfolgbarkeit von Sozialversicherungsrechten in der EU auf den Weg gebracht. Die DSV begrüßt ausdrücklich, dass die Zielsetzung des ursprünglich geplanten europäischen Sozialversicherungsausweises aufgegriffen und mit dem ESSPASS weiterentwickelt wurde. Ziel ist es, den Zugang zu Leistungen zu erleichtern und Verfahren zu vereinfachen, insbesondere im Kontext grenzüberschreitender Arbeitsmobilität. Erste Pilotprojekte zur automatisierten Prüfung und Validierung der PD A1 sind abgeschlossen. Die DSV unterstützt die Initiative, betont jedoch, dass deren Umsetzung konsequent nutzerorientiert erfolgen und an den Bedürfnissen der Versicherten ausgerichtet sein muss.

Eine vertrauenswürdige und sichere EUDI

Eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg des ESSPASS ist die Anbindung an eine vertrauenswürdige europäische digitale Identität (EUDI), die ab 2026 Schritt für Schritt einsatzbereit sein soll. In diesem Zusammenhang ist auch die geplante Einführung einer europäischen digitalen Brieftasche (EUDI Wallet) ein wichtiger Baustein. Sie soll es Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, ihre Identität EU-weit nachzuweisen und für digitale Verwaltungsprozesse – etwa zur grenzüberschreitenden Prüfung relevanter Dokumente – zu nutzen. Aus Sicht der DSV ist eine konsequente Umsetzung entscheidend, um Fortschritte bei der digitalen Koordinierung sozialer Sicherungssysteme zu erzielen. Gleichzeitig unterstreicht die DSV, dass Digitalisierungsprozesse komplexe Vorhaben sind, die einer frühzeitigen und umfassenden Einbeziehung der Sozialversicherungsträger bedürfen.

Mit vereinten Kräften zum Erfolg

Ein weiteres Kapitel der Mitteilung zum Aktionsplan von 2021 gilt der Zusammenarbeit zwischen den EU-Organen, der nationalen, regionalen und lokalen Behörden, den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit alle eine Rolle in der Umsetzung der ESSR spielen.

Vor diesem Hintergrund umfasste der Aktionsplan von 2021 unter anderem die folgende Maßnahme, zu der die DSV wie folgt Stellung bezieht:

Vorschlag für eine Überarbeitung des sozialpolitischen Scoreboards

Die Überarbeitung des Scoreboards hat dazu beigetragen, die einzelnen Grundsätze der ESSR besser abzubilden. Dennoch sind die Grundsätze auch weiterhin nicht gleichwertig erfasst. Einzelne Bereiche – wie etwa Grundsatz 18 zur Langzeitpflege – werden weder durch einen Primär- noch durch einen Sekundärindikator berücksichtigt und fließen entsprechend nicht in das quantitative Monitoring ein. Diese Lücke sollte geschlossen werden. Die DSV spricht sich deshalb dafür aus, dass die Europäische Kommission gemeinsam mit dem Ausschuss für Sozialschutz (SPC) und dem Beschäftigungsausschuss (EMCO) einen spezifischen Indikator für Grundsatz 18 im Scoreboard verankert.


Über uns

Die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund), die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), der GKV-Spitzenverband, die Verbände der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen auf Bundesebene sowie die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) haben sich mit Blick auf ihre gemeinsamen europapolitischen Interessen zur „Deutschen Sozialversicherung Arbeitsgemeinschaft Europa e.V.“ zusammengeschlossen. Der Verein vertritt die Interessen seiner Mitglieder gegenüber den Organen der Europäischen Union sowie anderen europäischen Institutionen und berät die relevanten Akteure im Rahmen aktueller Gesetzgebungsvorhaben und Initiativen. Die Kranken- und Pflegeversicherung mit 75 Millionen Versicherten, die Rentenversicherung mit 57 Millionen Versicherten und die Unfallversicherung mit mehr als 70 Millionen Versicherten in 5,2 Millionen Mitgliedsunternehmen bieten als Teil eines gesetzlichen Versicherungssystems den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland wirksamen Schutz vor den Folgen großer Lebensrisiken.

DSV-Feedback zu einem neuen Aktionsplan zur Europäische Säule sozialer Rechte