Feedback der Deutschen Sozialversicherung vom 15. Dezember 2025

im Rahmen der öffentlichen Konsultation zum Vorschlag für eine Überarbeitung der „EU-Normungsverordnung“


Vorbemerkung

Die Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 regelt die europäische Normung. Das europäische Normungssystem bietet einen wertvollen Rahmen, dessen zukunftssichere Ausgestaltung der Deutschen Sozialversicherung (DSV) ein besonderes Anliegen ist. Eine Reform des erfolgreichen Systems sollte jedoch maßvoll erfolgen und die bewährten Strukturen respektieren, insbesondere mit Blick auf die etablierten Normungsorganisationen, die Produktnormung im Arbeitsschutz, den geplanten stärkeren Einsatz gemeinsamer Spezifikationen (common specifications) sowie den Normungsprozess. Aus Sicht der DSV ist entscheidend, dass bei Normen mit Bezug zum Arbeitsschutz klar zwischen produktbezogenen Normen und Normen für den betrieblichen Arbeitsschutz unterschieden wird. Gemeinsame Spezifikationen sollten nur in klar begrenzten Ausnahmefällen eingesetzt werden und dürfen das europäische Normungssystem nicht schwächen. Das Konsensprinzip gilt es zu wahren – auch externe Ausschreibungen bergen das Risiko, dass Normen ohne breiten Konsens erstellt werden sowie zu rechtlichen und technischen Problemen führen. Nur unter diesen Bedingungen bleiben die Funktionsfähigkeit und das Vertrauen in ein System erhalten, das seit Jahren Sicherheit, Innovation und breite Akzeptanz in Europa gewährleistet.

Stellungnahme

Rolle der Normung im betrieblichen Arbeitsschutz

Aus Sicht der DSV hat die Normung eine wichtige, aber klar begrenzte Funktion. Harmonisierte Normen sind auf europäischer Ebene ein zentrales Instrument, um die Anforderungen an die Beschaffenheit von Produkten zu konkretisieren und widersprüchliche Normen zu verhindern. Sie unterstützen einen funktionierenden Binnenmarkt, fördern Innovation und sichern hohe Sicherheits- und Qualitätsstandards. Die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten wird jedoch gesetzlich geregelt – damit gelten in der EU verbindliche Mindestanforderungen. Anders als im Produktrecht (Art. 114 AEUV) ist es im Arbeitsrecht (Art. 153 AEUV) nicht vorgesehen, diese Vorgaben durch Normen zu präzisieren oder weiter auszugestalten. Im betrieblichen Arbeitsschutz erfolgt die Konkretisierung vielmehr über nationale gesetzliche Regelungen sowie in Deutschland durch die Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherungsträger und das Regelwerk der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV). Dieser Grundsatz muss bei der Überarbeitung der EU-Normenverordnung unbedingt gewahrt werden.

Konsensprinzip

Das europäische Normungssystem beruht auf dem Konsensprinzip, das eine ausgewogene Beteiligung aller relevanten Interessengruppen voraussetzt. Nur so kann ein tragfähiger Konsens entstehen, der sowohl den technischen Anforderungen als auch den gesellschaftlichen Erwartungen gerecht wird. Die DSV betont daher, dass Qualität vor Geschwindigkeit stehen muss. Konsensbildung erfordert Zeit, besonders bei komplexen, weitreichenden oder innovationsnahen Normungsvorhaben. Während Normen mit begrenztem Anwendungsbereich vergleichsweise schnell erarbeitet werden können, erfordern anspruchsvolle Projekte eine sorgfältige Abstimmung und gründliche Prüfung. Gesetzlich vorgegebene Verkürzungen von Verfahren würden dieses Prinzip gefährden. Sie könnten die umfassende Beteiligung der Akteure einschränken und damit die Akzeptanz, Qualität und Legitimität der Normung beeinträchtigen.

Rolle der Normungsorganisationen

Die DSV rät dringend von den vorgeschlagenen Ansätzen ab,

  • die Liste der anerkannten europäischen Normungsorganisationen regelmäßig zu überarbeiten, sowie
  • andere Standardisierungsorganisationen mit der Entwicklung harmonisierter europäischer Normen zu beauftragen oder deren Normen zu übernehmen („shopping for standards“).

Dies gefährdet die Kohärenz des gesamten europäischen Normenwerks und somit den europäischen Binnenmarkt. Hinzu kommt, dass die Beschaffung von Normen außerhalb des europäischen Normungssystems dem Ziel, Normen weltweit im Einklang mit europäischen Werten zu gestalten, widerspricht und Europa sich selbst der Möglichkeit beraubt, Normen aktiv zu gestalten (vom „standards maker“ zum „standards taker“). Den am Normungsprozess beteiligten Interessenträgern würde die Beteiligung erschwert werden. So ist es diesen bereits nur in beschränktem Maße möglich, an den vielen für sie potenziell relevanten Sitzungen von Normungsausschüssen teilzunehmen. Um die Beteiligungsmöglichkeiten nicht zusätzlich zu erschweren, müssen die Strukturen und Prozesse übersichtlich bleiben. Die Übersichtlichkeit verhindert, dass die administrativen und finanziellen Ressourcen der gesellschaftlichen Interessensträger zusätzlich belastet werden.

Gemeinsame Spezifikationen

Die DSV bewertet den Ansatz, gemeinsame Spezifikationen als regulatorisches Auffanginstrument einzusetzen, kritisch. Bislang fehlen sowohl transparente Kriterien für die Entscheidung als auch klare Beteiligungsverfahren und definierte Prozessschritte. Die Beteiligung der gesellschaftlichen Interessenträger ist von besonderer Bedeutung. Bleibt diese aus oder ist sie eingeschränkt, ist dies nicht mit dem Ziel vereinbar, die Inklusivität des Normungssystems zu verbessern und eine ausgewogene Interessenvertretung zu ermöglichen. Die Entwicklung gemeinsamer Spezifikationen muss insofern sorgfältig geplant und als mehrstufiger Entscheidungsprozess ausgestaltet sein. Es bedarf einheitlicher, nachvollziehbarer und transparenter Kriterien, die eindeutig regeln, unter welchen Bedingungen und auf welcher Entscheidungsgrundlage gemeinsame Spezifikationen erarbeitet werden. Dabei gilt: Zeitdruck darf nicht zulasten der Qualität gehen. Normen und sicherheitsrelevante Spezifikationen dienen unmittelbar dem Schutz von Beschäftigten vor Verletzungen und Todesfällen. Schnelligkeit darf daher niemals Vorrang vor Sorgfalt haben.

Deshalb sollte grundsätzlich stets ein Normungsauftrag an die europäischen Normungsorganisationen geprüft und vorrangig berücksichtigt werden. Gemeinsame Spezifikationen dürfen nur dann eingeleitet werden, wenn ein solcher Auftrag nachweislich abgelehnt wurde oder keine Annahme erfolgt ist. Diese Entscheidung muss dokumentiert und öffentlich bekannt gemacht werden. Zudem sollte den Normungsorganisationen die Gelegenheit gegeben werden, ihre Ablehnung zu überprüfen. Falls Verzögerungen im Normungsprozess auftreten, sollte die Ursache systematisch analysiert werden. Dabei ist klar zwischen prozessbedingten Verzögerungen, z. B. aufgrund internationaler Abstimmungsverfahren, und inhaltlichen Blockaden, etwa wegen fehlendem Konsens über die Erfüllung gesetzlicher Anforderungen, zu unterscheiden. Prozessbedingte Verzögerungen dürfen nicht zur Einleitung gemeinsamer Spezifikationen führen. Inhaltliche Blockaden können hingegen ein legitimer Anlass für die Entwicklung gemeinsamer Spezifikationen sein.

Über uns

Die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund), die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), der GKV-Spitzenverband, die Verbände der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen auf Bundesebene sowie die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) haben sich mit Blick auf ihre gemeinsamen europapolitischen Interessen zur „Deutschen Sozialversicherung Arbeitsgemeinschaft Europa e.V.“ zusammengeschlossen. Der Verein vertritt die Interessen seiner Mitglieder gegenüber den Organen der Europäischen Union sowie anderen europäischen Institutionen und berät die relevanten Akteure im Rahmen aktueller Gesetzgebungsvorhaben und Initiativen. Die Kranken- und Pflegeversicherung mit 75 Millionen Versicherten, die Rentenversicherung mit 57 Millionen Versicherten und die Unfallversicherung mit mehr als 70 Millionen Versicherten in 5,2 Millionen Mitgliedsunternehmen bieten als Teil eines gesetzlichen Versicherungssystems den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland wirksamen Schutz vor den Folgen großer Lebensrisiken.

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