Podiumsdiskussion zur Europawahl
Zwischen Hoffen und Bangen: Die Europawahl, Rechtsruck und die Sozialpolitik von morgen
Die Europawahlen
stehen vor der Tür: Vom 6. bis 9. Juni haben rund 400 Millionen Bürgerinnen und
Bürger die Möglichkeit, mit ihrer Stimme die Zukunft der Europäischen Union (EU)
mitzubestimmen. Die DSV hat dies gemeinsam mit der Gesellschaft für
Versicherungswissenschaft und ‑gestaltung (GVG) zum Anlass genommen, am 21.
März eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Zwischen Hoffen und Bangen: Die
Europawahl, Rechtsruck und die Sozialpolitik von morgen“ auszurichten. Rund 100
Teilnehmende sind der Einladung gefolgt, um gemeinsam in den Räumlichkeiten der
Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) in Berlin auf die Zukunft
Europas zu blicken.
In ganz Europa
verschieben sich die politischen Kräfte. Ähnliches wird bei den Europawahlen
erwartet. Aktuelle Umfragen sagen Zugewinne für populistische und
antidemokratische Parteien voraus; besonders rechtspopulistische Parteien
könnten Sitze dazugewinnen. Auch in Deutschland zeigen sich deshalb viele
Politikerinnen und Politiker aus den verschiedenen politischen Lagern besorgt.
Vor diesem Hintergrund diskutierten
die Abgeordneten und Mitglieder des EU-Ausschusses des deutschen Bundestages Ralph
Brinkhaus (CDU), Angelika Glöckner (SPD), Dr. Anton Hofreiter (Bündnis 90/Die
Grünen) und Dr. Ann-Veruschka Jurisch (FDP) über die anstehenden Europawahlen.
Im Mittelpunkt der von Ilka Wölfle, Direktorin der DSV-Europavertretung,
moderierten Diskussion stand etwa, woran es liegt, dass antieuropäische und
populistische Parteien europaweit immer stärker werden, wie dem Rechtsruck
begegnet werden kann und wie sich die Wahl auf die europäische Sozialpolitik auswirken
könnte.
Bei den Europawahlen steht einiges auf dem Spiel
In seinem Grußwort
erinnerte Dr. Stefan Hussy, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Gesetzlichen
Unfallversicherung, an das Motto der EU, „In Vielfalt geeint“. Vielfalt könne
auch eine Herausforderung sein, weshalb er den Leitspruch als einen bleibenden
Auftrag an alle verstehe. Das gesellschaftliche Miteinander müsse vor diesem
Hintergrund von Offenheit, Toleranz, Respekt und Gewaltfreiheit geprägt sein. Gundula
Roßbach, Präsidentin der Deutschen Rentenversicherung Bund, ergänzte, dass es
darauf ankomme, gemeinsame Strategien zu entwickeln und Antworten zu finden,
wie die Menschen wieder für die europäische Idee begeistert werden können. Auch
die Sozialversicherung in Deutschland sehe sie hier in der Verantwortung.
Wie stehen die Chancen für eine Politik der demokratischen Mitte?
Manuel Müller,
Senior Researcher am Finnish Institute for International Affairs (FIIA) in
Helsinki, fokussierte in seinem Impulsvortrag auf den aktuell prognostizierten
Ausgang der Europawahlen und die damit einhergehenden veränderten
Kräfteverhältnisse im Europäischen Parlament. So blieben die
sozialdemokratische S&D-Fraktion und die Fraktion der Europäischen
Volkspartei (EVP) nach aktuellen Umfragen weitestgehend stabil. Großer Zuwachs
sei dagegen für die Rechtsaußenfraktionen der Europäischen Konservativen und
Reformer (EKR) und der Identität und Demokratie (ID) zu erwarten. Letzterer
gehöre in Deutschland die AfD an.
Einigkeit in zentralen Fragen unter den vertretenen Parteien
Die
Podiumsdiskussion zwischen den Abgeordneten des deutschen Bundestages hat
gezeigt: Auch wenn die vier Parteien nicht immer in allen Fragen übereinstimmen,
so bestand in ganz zentralen Fragen Einigkeit. Dies galt unter anderem
hinsichtlich der großen Bedeutung, die der EU und den Europawahlen beigemessen
wurde. Jede Stimme, die für die gemeinsamen europäischen Werte abgegeben werde,
sei eine Stimme für Gerechtigkeit, Wohlstand und die Zukunftsfähigkeit der
Gesellschaften Europas. „Eins steht außer Frage: Die EU ist trotz aller
Schwierigkeiten ein Erfolgsprojekt, das wir für die Zukunft erhalten müssen“,
so Ralph Brinkhaus.
Darüber hinaus wurden Ideen
thematisiert, um die EU den Bürgerinnen und Bürgern näher zu bringen, und auch
konstruktive Verbesserungsvorschläge gemacht. Dr. Ann-Veruschka Jurisch unterstrich:
„In Europa braucht es mehr Pragmatismus und weniger Bürokratie, denn davon
haben wir schon genug. Die Wahl ist die Chance für uns Europäerinnen und
Europäer Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der EU wieder Aufwind
zu verleihen.“
Den Europawahlen sahen die
Abgeordneten trotz der erwarteten Kräfteverschiebung grundsätzlich optimistisch
entgegen. Obgleich antieuropäische Kräfte wohl Zuwachs bekommen, zeichne sich
nichtsdestotrotz eine stabile, widerstandsfähige Mehrheit der demokratischen
und europafreundlichen Mitte ab. Dies sei eine Stärke, zum Beispiel im
Gegensatz zu den USA, wo diese Mitte so nicht mehr halte. Dementsprechend sei
in der EU weiterhin gute Politik möglich, sofern die europäisch denkende
Mehrheit Kompromisse finde und zusammenarbeite. Dies gelte unter anderem für
den Klimaschutz, zu dem sich alle auf dem Podium vertretenen Parteien
verpflichtet haben. Einzig bei der Wahl der Mittel und Wege gebe es
Unterschiede.
Neben dem erwarteten Rechtsruck
lag ein inhaltlicher Schwerpunkt auf der Zukunft der europäischen
Sozialpolitik. In der heutigen konfliktbehafteten Zeit werden sozialpolitische
Maßnahmen und entsprechende Ausgaben häufig als im Konflikt stehend mit etwa
Ausgaben zur Unterstützung der Wirtschaft dargestellt. Dieses Entweder-oder sei
nicht zielführend, stellte Angelika Glöckner klar: „Wirtschaftlicher Erfolg und
die soziale Sicherheit der Menschen müssen wir in Europa immer zusammendenken.
Das fördert den Zusammenhalt und macht uns stark, die gegenwärtigen
Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen.“ Gleiches gelte für den Bereich der
Verteidigung, waren sich die Podiumsteilnehmenden einig. Ein wichtiger Aspekt
in diesem Kontext seien Desinformationskampagnen und Propaganda, vor allem von
russischer Seite, durch die in Deutschland stark zu Gunsten der AfD und des
Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) Einfluss genommen werde. Verteidigung müsse mit
sozialen Maßnahmen in Einklang gebracht werden, da Verteidigung und Sicherheit
nach außen die Voraussetzungen für sozialen Frieden im Inneren seien.
Meinungsverschiedenheiten gab es dagegen hinsichtlich der Art und Weise, wie
mit dem vielfältigen Investitionsbedarf umgegangen werden sollte, ob etwa besser
priorisiert oder die Schuldenbremse reformiert werden müsste.
Als es
um die Weiterentwicklung und einen eventuellen Reformbedarf der EU ging, waren die
Abgeordneten einhellig der Meinung, dass eine EU-Erweiterung zwar
herausfordernd sei, aber nicht zuletzt geopolitische Relevanz habe. Um die
Handlungsfähigkeit der EU auch bei mehr Mitgliedstaaten zu bewahren, sei eine
Reform notwendig, zum Beispiel sollte statt nach Einstimmigkeitsprinzip im Rat
vermehrt nach qualifizierter Mehrheit entschieden werden. Es wurden in diesem
Kontext auch kreative Lösungen der Erweiterung diskutiert, etwa eine
Vollmitgliedschaft, die zwar abgesprochen, aber erst wirksam würde, sobald die
EU entsprechend reformiert ist und damit die Voraussetzungen für mehr
Mitglieder geschaffen sind. Ebenso wurden weitere Reformideen im Kontext einer
gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik thematisiert, darunter die Idee eines
Kommissars oder einer Kommissarin für Verteidigung sowie eine Stärkung des
Europäischen Parlaments durch ein umfängliches Initiativrecht. Dr. Anton
Hofreiter betonte entsprechend: „Für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in
Europa braucht es ein starkes Europäisches Parlament.“
Tue Gutes und rede darüber
Dr. Doris Pfeiffer,
Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, hob in ihren Schlussworten
hervor, dass die europäische Einigung im Alltag der Menschen angekommen sei.
Sie studierten, arbeiteten oder lebten vorübergehend oder dauerhaft im
EU-Ausland und könnten sich dabei aufgrund der europäischen Integration auf
eine gute soziale Absicherung und Gesundheitsversorgung verlassen. Es bedürfe
aber der Selbstkritik: Viele heutige Selbstverständlichkeiten seien
Errungenschaften Europas, nur werde dies nicht mehr wahrgenommen. Sie plädierte
deshalb dafür, die Erfolge der europäischen Zusammenarbeit gemäß dem alten
Sprichwort „Tue Gutes und sprich darüber!“ mehr und vor allem in verständlichen
Worten zu kommunizieren.
Fazit: Ein hoffnungsvoller Blick auf die Zukunft Europas
Während man sich
der gemeinsamen politischen Verantwortung bewusst war, wurde auf dem Podium
über konkrete politische Inhalte teils kontrovers diskutiert, etwa mit Blick
auf die Einhaltung der Schuldenbremse oder eine Brandmauer nach rechts außen
auf europäischer Ebene. Insgesamt war klar: Es steht viel auf dem Spiel im
Wahljahr 2024. Fortschritte, die über Jahrzehnte aufgebaut wurden, könnten im
Zuge einer zunehmend europakritischen Rhetorik in Frage gestellt werden. Dass
diese Gedanken viele Bürgerinnen und Bürger beschäftigen, zeigte nicht zuletzt
das große Interesse an der Veranstaltung.
Nichtsdestotrotz wurde
deutlich, dass mit Blick auf die Europawahlen das Hoffen gegenüber dem Bangen
im Vordergrund steht – auch in Zukunft wird es aller Voraussicht nach eine
stabile Mehrheit der europafreundlichen Parteien im Europäischen Parlament
geben, sodass fortschrittliche Politik gemeinsam möglich bleibt.
Die
Europavertretung der deutschen Sozialversicherung beteiligt sich seit mehr als
30 Jahren an der gemeinsamen Gestaltung der sozialen und gesundheitlichen Dimension
Europas. Sie wird sich auch in Zukunft für ein starkes, demokratisches und
soziales Europa einsetzen.
An dieser Stelle
nochmal ein herzliches Dankeschön an alle Mitwirkenden für die wertvollen Beiträge
und an alle Teilnehmenden für das Interesse und die Beteiligung!