Die Position der DSV in Kürze

Reform des EU-Arzneimitterechts


Die Europäische Kommission hat im April 2023 Legislativvorschläge zur Reform des europäischen Arzneimittelrechts vorgelegt. Die Vorschläge zielen darauf ab, den Zugang, die Bezahlbarkeit und die Verfügbarkeit von Arzneimitteln in der Europäischen Union (EU) zu sichern und zu verbessern. Darüber hinaus wird die Modernisierung der Zulassungsverfahren und die Schaffung einer verbindlichen Umweltverträglichkeitsprüfung stärker in den Mittelpunkt gerückt. Zudem soll parallel zur Reform des Arzneimittelrechts die Rechte des geistigen Eigentums überarbeitet werden, um für ergänzende Schutzzertifikate mehr Transparenz zu schaffen und ihre Vergabe unionsweit einheitlich zu gestalten.

Die DSV begrüßt die mit den Reformvorschlägen verfolgten Ziele der EU-Kommission. Zur Sicherstellung von finanziell nachhaltigen und belastbaren Gesundheitssystemen, der Verfügbarkeit von Arzneimitteln mit nachweislich hohem Nutzen sowie einer qualitativ hochwertigen Versorgung der Versicherten sind aus Sicht der DSV Nachbesserungen an den Regelungsvorschlägen notwendig. Die Solidargemeinschaft darf nicht durch Ausgaben belastet werden, die den Patientinnen und Patienten keinen tatsächlichen Nutzen bringen.

Erschwinglichkeit Regulatorischer Schutz und Patentschutz verkürzen

Bei 61 Prozent neuer Arzneimittel ist der längste effektive Schutz vor Wettbewerb durch das Patentrecht beziehungsweise durch ein ergänzendes Schutzzertifikat gegeben und nicht durch das Arzneimittelrecht.1 Je länger entsprechende Schutzfristen von Arzneimitteln sind, desto später setzt der Wettbewerb durch kostengünstigere Generika und Biosimilars ein. Dies führt zu höheren Arzneimittelpreisen, die Krankenversicherungssysteme in den Mitgliedstaaten finanziell stärker belasten. Aus Sicht der DSV müssen deswegen die Vorschläge der EU-Kommission zur Verkürzung der regulatorischen Schutzzeiten und des Patentschutzes aufeinander abgestimmt werden.

  • Um den preissenkenden Wettbewerb zu fördern, sollte der regulatorische Schutz im Arzneimittelrecht auf maximal elf Jahre begrenzt und die Gültigkeitsdauer eines SPC auf höchstens vier, statt fünf Jahre verkürzt werden.
  • Zur Stärkung der Transparenz sollte eine Datenbank für alle regulatorischen und patentrechtlichen Fristen beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) errichtet werden.
  • Das von der EU-Kommission zentralisierte Verfahren zur Erteilung von SPCs auf europäischer Ebene sollte immer Vorrang vor nationalen Vergaben haben und die Erteilung eines SPC auf das Primärpatent beschränkt werden, um einem „Patentdickicht“ vorzubeugen.
  • Begrüßenswert ist die vorgeschlagene Ausnahmeregelung zur Freistellung vom Schutz des geistigen Eigentums („Bolar-Ausnahme“), die es erlaubt, für Nachfolgeprodukte, Generika und Biosimilar von patentgeschützten Arzneimitteln bereits Zulassung, HTA-Bewertung oder eine Preisfestsetzung und Erstattung vorzubereiten, während das Patent noch läuft.
  • Die Regelungen zum Repurposing, zur Identifizierung neuer therapeutischer Einsatzmöglichkeiten für etablierte Arzneimittel durch Organisationen ohne finanzielle Interessen sind sinnvoll, da sie ermöglichen, die Ergebnisse unabhängiger Studien mit etablierten Arzneimitteln zu nutzen, ohne dass es zu unangemessenen Preissteigerungen kommt.

Zugang Gezielte Anreize für Arzneimittel für seltene Leiden und Schließung von therapeutischen Lücken, Qualität der Zulassungsverfahren sicherstellen

Die Verbesserung des Zugangs zu Arzneimitteln ist eine Priorität der Arzneimittelreform und dient der Sicherstellung der medizinischen Versorgung der Patientinnen und Patienten. Im Fokus stehen hier Arzneimittel für seltene Erkrankungen („Orphan-Drugs“) und solche, die zur Schließung therapeutischer Lücken („Unmet medical needs – UMN“) notwendig sind. Aus Sicht der DSV müssen deswegen die von der EU-Kommission vorgeschlagenen Steuerungsmechanismen, die auf die Incentivierung von Orphan-Drugs abzielen, angepasst werden.

  • Die Prävalenzschwelle zur Festlegung einer seltenen Erkrankung ist zu verschärfen und Fehlanreize durch immer neue Indikationen für das gleiche Präparat müssen durch die Einführung einer „Gesamtprävalenz“ unterbunden werden.
  • Das Profitabilitätskriteriums für Orphan-Drugs sollte wiedereingeführt werden. Zudem sollte das Orphan-Privileg auslaufen, wenn ein Umsatz von über 100 Mio. Euro in der Union innerhalb von zwölf zusammenhängenden Monaten erzielt wird.
  • Das Marktexklusivitätsrecht für Orphan-Drugs muss auf sieben statt neun Jahre verkürzt werden, um stärkere Anreize für die Entwicklung von Orphans, die einen therapeutische Lücke schließen, zu setzen.
  • Die Evidenzgenerierung bei bedingten Marktzulassungen muss gestärkt werden. Schnellere Marktzugänge stellen keinen Versorgungsvorteil dar, wenn durch nicht hinreichend in klinischen Studien geprüfte Arzneimittel Risiken auf die Patientinnen und Patienten verlagert werden.

Verfügbarkeit Liefer- und Versorgungsengpässe durch verbessertes Monitoring vermeiden

Engpässe bei Arzneimitteln sind ein europaweites und globales Phänomen. Um die Verfügbarkeit und die Versorgungssicherheit zu verbessern, müssen aus Sicht der DSV die Zulassungsinhaber künftig mehr in die Pflicht genommen und ein EU-weites Monitoring ausgebaut werden. In die mitgliedstaatliche Kompetenz hinsichtlich der Preisgestaltung und Erstattung von Arzneimitteln darf nicht eingegriffen werden.

  • Das bestehende System zur Überwachung der Arzneimittel muss genutzt werden, um ein Monitoring zu etablieren, das zu jeder Zeit einen Überblick über die aktuelle Angebots-Nachfrage-Situation von Arzneimitteln ermöglicht. Dies könnte durch die weitere Nutzung der Sicherheitsmerkmale für Arzneimittel und eine KI-gestützte automatische Auswertung der gesammelten Daten geschehen.
  • Die Zulassungsinhaber zu verpflichten, drohende Lieferengpässe zu melden und Pläne zur systematischen Vermeidung solcher Engpässe aufzustellen, ist ein geeignetes Mittel, Versorgungsengpässe zu vermeiden.
  • Die Stärkung der Rolle der Europäischen Arzneimittel-Agentur sowie eine engere Zusammenarbeit der nationalen und europäischen Behörden ist sinnvoll, um Arzneimittelengpässe frühzeitig zu identifizieren.

Antimikrobielle Resistenzen Resistenzbildung verhindern, Arzneimittelforschung forcieren

Multiresistente Keime sind verantwortlich für etwa 33.000 Todesfälle im Jahr in Europa. Wirksame antimikrobielle Arzneimittel sind rar und können als „Reserveantibiotika“ keine hinreichenden Marktumsätze generieren. Wo unternehmerische Initiative ins Leere läuft, braucht es deswegen aus Sicht der DSV gemeinsame Strategien zur Sicherung von Forschung, Entwicklung und Verordnung mit diesen wichtigen Arzneimitteln.

  • Es ist sinnvoll, durch Aufstellung von Stewardship-Plänen bis hin zur besseren Aufklärung von Gesundheitspersonal antimikrobielle Resistenzen möglichst gar nicht erst entstehen zu lassen.
  • Es sollte eine generelle Verschreibungspflicht für antimikrobielle Mittel geben. Lediglich für harmlose Indikationen und risikoarme Mittel im Versorgungsalltag sind Ausnahmen zweckmäßig.
  • Die Forschung und Entwicklung von antimikrobiellen Mitteln durch verkäufliche Exklusivitätsgutscheine („Voucher“) anregen zu wollen, ist nicht sinnvoll. Dieses Instrument ist sehr kostspielig. Außerdem kann weder der Zugang, noch die Markteinführung von wirksamen Mitteln mit neuen Wirkmechanismen gewährleistet werden. Nach Ansicht der DSV braucht es vielmehr gezielte Maßnahmen zur Förderung der Forschung; gegebenenfalls auch eine gemeinsame Beschaffung von Wirkstoffen.

Ökologische Nachhaltigkeit Umweltverschmutzung sanktionieren, Arzneimittelmüll vermeiden

Ökologische Nachhaltigkeit ist bei der Produktion, dem Vertrieb und der Verwendung von Arzneimitteln von hoher Bedeutung. Angesichts des Klimawandels und der zahlreichen ökologischen Herausforderungen für die Gesellschaft unterstützt die DSV ausdrücklich die von der EU-Kommission vorgeschlagenen verbindlichen und umfassenden Regelungen hinsichtlich der Umweltverträglichkeit.

  • Die Umweltverträglichkeitsprüfung von Arzneimitteln (ERA) muss verbindlicher Gegenstand der Zulassung werden. Daher sollte sich die Nutzen-Risiko-Bewertung nicht nur auf die Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit des Arzneimittels konzentrieren, sondern auch unerwünschte Wirkungen auf die Umwelt einbeziehen.
  • Um Arzneimittelmüll und Ressourcenverschwendung zu begrenzen, sollte die Vorgabe therapiegerechter Packungsgrößen nicht nur für antimikrobielle, sondern für alle Arzneimittel gelten.
  • Für die Reduzierung von Papiermüll ist auch die geplante elektronische Packungsbeilage sinnvoll. Auf Wunsch der Patientinnen und Patienten sollte aber ein kostenloser Ausdruck weiterhin möglich sein. Die Kosten dafür hat nach Ansicht der DSV der pharmazeutische Unternehmer zu tragen.




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