Voucher in der Arzneimittelrevision – kostspielig und ineffizient
Statement der Deutschen Sozialversicherung
Vom 16. März 2023
Statement
Die Deutsche Sozialversicherung lehnt das von der Europäischen Kommission geplante Anreizsystem mit Vouchern ab
Die Europäische Kommission plant, noch im Frühjahr ihre Vorschläge zur Revision des EU-Arzneimittelrechts vorzustellen. Das Legislativvorhaben zielt darauf ab, den Zugang, die Verfügbarkeit und die Bezahlbarkeit von Arzneimitteln zu verbessern, aber auch da-rauf, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Pharmaindustrie zu stärken. Die Überarbeitung ist Teil der Umsetzung der Arzneimittelstrategie. Schwerpunkte bilden insbesondere, Innovationen bei ungedeckten medizinischen Bedarfen zu fördern, Umweltauswirkungen von Arzneimitteln zu verringern und einen besseren Zugang zu innovativen und bewährten Arzneimitteln für die Patientinnen und Patienten zu gewährleisten.
Einen weiteren Schwerpunkt setzt die Europäische Kommission auf die Entwicklung von neuen Antibiotika, die für die Behandlung von Infektionen durch multiresistente bakterielle Krankheitserreger benötigt werden.
Als Reserveantibiotika sollten sie im besten Fall nur nach strenger Indikationsstellung zum Einsatz kommen. Aufgrund absehbar geringerer Absatzzahlen besteht deshalb für Pharmaunternehmen kein ausreichender unternehmerischer Anreiz für Neuentwicklungen. Um Anreize für die Entwicklung neuer Antibiotika zu setzen, plant die Europäische Kommission, übertragbare Exklusivitätsgutscheine (auch Voucher oder TEE – Transferable Exclusivity Extension) einzuführen. Der Entwickler bzw. Zulassungsinhaber des neuen Antibiotikums kann ihn einmalig auf ein Arzneimittel seiner Wahl anwenden, welches eine zentrale Marktzulassung besitzt. Der Voucher verlängert dann unter bestimmten Bedingungen dessen Datenschutzfrist um ein Jahr. Der Voucher kann auch an ein anderes Pharmaunternehmen verkauft werden.
Nach den aktuellen Überlegungen der Europäischen Kommission sollen die Voucher ausgestellt werden können, wenn der Hersteller ein neues Antibiotikum entwickelt, das die Kriterien eines sogenannten „priority antimicrobial“ erfüllt, d. h. eine neue Klasse antimikrobieller Mittel repräsentiert, einen andersartigen Wirkmechanismus hat als die anderen bereits zugelassenen Arzneimittel oder allgemein einen noch nicht in der EU zugelassenen aktiven Wirkstoff nutzt. Die präklinischen und klinischen Daten müssen zudem auf einen signifikanten klinischen Nutzen im Hinblick auf antimikrobielle Resistenzen hinweisen. Der Hersteller soll zudem in der Lage sein, das neue antimikrobielle Mittel in hinreichenden Mengen zu liefern, und dafür erhaltene öffentliche Forschungsmittelzuwendungen transparent machen. Schließlich soll der Voucher nur innerhalb der ersten vier Jahre der Datenschutzfrist des Arzneimittels, auf das er angewendet werden soll, genutzt wer-den können. Die Europäische Kommission plant derzeit mit dieser Regelung, dass in einem Zeitraum von 15 Jahren ab Geltungsbeginn der neuen Verordnung nicht mehr als 10 solcher Voucher ausgestellt werden können.
Ungeachtet des beabsichtigten vermeintlich restriktiven Anwendungsrahmens lehnt die Deutsche Sozialversicherung das neue Gutscheinsystem ab. Soll, wie von der Europäischen Kommission beabsichtigt, ein System geschaffen werden, das Arzneimittel für die Gesundheitssysteme erschwinglich hält und gleichzeitig Innovationen belohnt, ist ein Gutscheinsystem mit Vouchern kontraproduktiv.
Hohe Kosten
Voucher sind unverhältnismäßig teuer, da Hersteller sie nach den aktuellen Plänen der Europäischen Kommission auf ein beliebiges und demnach möglichst umsatzstarkes Arzneimittel ihrer Wahl anwenden könnten, das die genannten Bedingungen erfüllt. Verlängerte Schutzfristen hemmen dabei die Entwicklung von Wettbewerbsprodukten und verzögern deren Marktzugang.
Dies schließt profitable Blockbuster mit jährlichen Umsätzen von mehr als einer Milliarde Euro mit ein. Gerade hier ist aber der Generika-Wettbewerb für die Erschwinglichkeit von Arzneimitteln und die finanzielle Nachhaltigkeit der Gesundheitssysteme besonders wich-tig. Die Europäische Kommission bemisst den Wert eines Vouchers auf durchschnittlich rund 360 Millionen Euro. Patientinnen und Patienten sowie Beitragszahlende müssen eine höhere finanzielle Last tragen: Neben den Aufwendungen für die Anreizsetzung führt auch der verzögerte Generika-Wettbewerb zwangsläufig zu höheren Arzneimittelausgaben.
Keine Sicherstellung des Zugangs zu Antibiotika
Mit einer Marktzulassung allein ist ein Antibiotikum noch nicht auf dem Markt verfügbar. Teil der Launch-Strategien pharmazeutischer Unternehmen ist auch, insbesondere in weniger finanzstarken Märkten, ein stark verzögerter Markteintritt mit Einreichung der für Nutzenbewertung und Preisverhandlung in den nationalen Gesundheitssystemen relevanten Unterlagen. Der vorliegende Entwurf garantiert daher nicht, dass Patientinnen und Patienten bei Inanspruchnahme des Vouchers auch wirklich Zugang zu dem neu entwickelten Antibiotikum erhalten. Es muss sichergestellt werden, dass dringend benötigte neue Antibiotika in allen Mitgliedstaaten zur Verfügung stehen und alle Patientinnen und Patienten davon profitieren können.
Wettbewerbsverzerrung
Der Wettbewerb wird durch Voucher nicht nur negativ beeinflusst, indem die Verlängerung der Marktexklusivitätszeiträume den Generikaeintritt für umsatzstarke Arzneimittel verzögert. Übertragbare Voucher bevorzugen zudem systematisch große Pharmaunternehmen, die in ihrem Portfolio entsprechend umsatzstarke Arzneimittel haben, für die sich der Kauf eines Vouchers lohnt. Diese profitieren aufgrund der verlängerten Exklusivität von zusätzlichen Gewinnen und können ihre Marktmacht stärken, obwohl keine zusätzlichen Anreize benötigt worden wären. Damit erreicht nur ein Teil der mit dem Voucher verbundenen finanziellen Anreize die tatsächlichen Entwickler und Produzenten von antimikrobiellen Mitteln, bei denen es sich oftmals um kleinere Unternehmen handelt.
Alternative Anreizmechanismen
Es ist fragwürdig, ob der Voucher-Ansatz der Europäischen Kommission überhaupt einen praktikablen Anreiz bietet, die Verfügbarkeit der gewünschten neuen, insbesondere bei multiresistenten Erregern wirksamen antimikrobiellen Mittel zu erwirken. Mit Blick auf die hohen Kosten für die Gesundheitssysteme sollte der Fokus auf Ansätze gelegt werden, die sicherstellen, dass ein neues (Reserve-)Antibiotikum zurückhaltend und in geringer Menge eingesetzt werden kann und der Zugang für alle europäischen Märkte sichergestellt ist.
Es gibt alternative Vorschläge für Anreizsysteme, die das Problem der mangelnden Investitionen in die Entwicklung von neuen Antibiotika besser beheben könnten. Beispielhaft sind hier Markteinführungsprämien zu nennen, die unabhängig von verordneten Mengen gezahlt werden und bei denen somit der Ertrag bzw. die Zahlung vom Umsatz entkoppelt ist. Es gibt zudem die Möglichkeit der direkten Entwicklungsförderung in Form von Meilensteinprämien oder die Einrichtung von Forschungsförderungsfonds durch sogenannte Play-or-Pay Mechanismen. Zur Diskussion stehen auch eine europaweite jährliche Einnahmegarantie, der Abkauf von Patenten bzw. Produktionslizenzen oder die Kompensation von Forschungs- und Entwicklungsaufwänden.
Verstärkte präventive Maßnahmen gegen Antibiotikaresistenzen
Antimikrobielle Resistenz ist als schleichende Pandemie ein globales Problem. Dabei darf neben der Entwicklung neuer Antibiotika die Notwendigkeit präventiver Maßnahmen nie aus dem Fokus geraten, die insbesondere sicherstellen, dass Antibiotika und insbesondere Reserveantibiotika zurückhaltend und indikationsgerecht eingesetzt werden. Eine im November 2022 veröffentlichte Untersuchung im Auftrag der Europäischen Kommission zeigt, dass in Europa auch weiterhin relevante Mengen an Antibiotika ohne ärztliche Ver-schreibung oder ohne Indikation eingenommen werden. Auch Verpflichtungen zur Eingrenzung von Verschreibungsdauern sowie Packungsgrößen werden nicht im Sinne eines sachlich angemessenen Umgangs mit Antibiotika zur Vorbeugung von Resistenzen gehandhabt. Zur Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen liegen bereits Pläne der Europäischen Kommission vor, verpflichtende Stewardship-Programme für den sachgemäßen Einsatz und zur Vermeidung von Resistenzen einzuführen. Ebenso wurden erste Maßnahmen zur Reduktion eines Einsatzes von Reserveantibiotika in der Tiermast beschlossen. Unverzichtbar sind zudem konsequente Hygienemaßnahmen zur Vermeidung nosokomialer Infektionen und ein Ausbau der Surveillance von Resistenzen und Antibiotikaeinsatz. Diese Maßnahmen sind konsequent umzusetzen und weiterzuentwickeln – auch durch eine Stärkung der internationalen Zusammenarbeit.
Über uns
Die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund), die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), der GKV-Spitzenverband, die Verbände der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen auf Bundesebene sowie die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) haben sich mit Blick auf ihre gemeinsamen europapolitischen Interessen zur „Deutschen Sozialversicherung Arbeitsgemeinschaft Europa e.V.“ zusammengeschlossen. Der Verein vertritt die Interessen seiner Mitglieder gegenüber den Organen der Europäischen Union sowie anderen europäischen Institutionen und berät die relevanten Akteure im Rahmen aktueller Gesetzgebungsvorhaben und Initiativen. Die Kranken- und Pflegeversicherung, die Rentenversicherung und die Unfallversicherung bieten als Teil eines gesetzlichen Versicherungssystems wirksamen Schutz vor den Folgen großer Lebensrisiken.