Europa to go –
mobiles Arbeiten im digitalen Wandel

Impulspapier der Deutschen Sozialversicherung

vom 13. Juni 2023


Vorbemerkung

Die Digitalisierung spielt beim gerechten Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft eine Schlüsselrolle: Sie ist Grundlage für ein besseres und reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes als Basis der europäischen Wohlstandsgesellschaften. Die Digitalisierung öffentlicher Dienste im Einklang mit den europäischen Werten und Grundrechten voranzutreiben, gehört zu den vier wesentlichen Zielbereichen der digitalen Dekade 2030 der Europäischen Kommission.

Digitalisierung kann wesentlich dazu beitragen, die Arbeitnehmerrechte in Europa besser durchzusetzen, das System der Koordinierung der sozialen Sicherheit bürgerfreundlicher auszugestalten und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit insgesamt, aber insbesondere bei der Missbrauchsbekämpfung, zu verbessern. Schon heute machen mobile Beschäftigte einen wichtigen Teil der europäischen Erwerbsbevölkerung aus. In vielen Sektoren vom Bauwesen bis zum Gesundheits- und Sozialwesen werden diese Beschäftigte gebraucht. Zugleich sind sie besonders schutzbedürftig. Oft wissen sie selbst nicht, ob und wie sie abgesichert sind. Die zunehmende Mobilität stellt sowohl die Sozialversicherungen als auch die Bekämpfung von Schwarzarbeit und Sozialbetrug vor neue Herausforderungen.

Die verschiedenen Träger der Sozialversicherung setzen sich mit der „Digitalisierung“ intensiv auseinander und können auf nationaler sowie europäischer Ebene Erfolge verweisen. Mit dem europäischen Austausch von Informationen zur sozialen Sicherheit (European Exchange of Social Security Information – Kurz: EESSI) ist es gelungen den Datenaustausch zwischen den Sozialversicherungsträgern zu digitalisieren und zu erleichtern.

Die Digitalisierung soll auch den Versicherten ermöglichen, in Zukunft ihren Versicherungsstatus digital nachweisen zu können. Dieser Nachweis soll mittels des europäischen Sozialversicherungsausweis (ESSPASS) erfolgen. Der ESSPASS wird als Bestandteil einer digitalen Brieftasche (EUid-Brieftasche) konzipiert.

Die Deutsche Rentenversicherung bringt sich hierbei aktiv ein. Sie war schon an der ersten Machbarkeitsstudie unter Projektführung des italienischen Sozialversicherungsträgers INPS (Institutio Nazionale della Previdenza Sociale) beteiligt und ist Teil der beiden Konsortien, die als Nachfolgeprojekte einen neuen Workflow für den ESSPASS als Bestandteil der EUid-Brieftasche entwickeln und etablieren sollen.

Impulspapier

Revision des Koordinierungsrechts – ESSPASS als Lösung?

Die seit mehreren Jahren verhandelte Revision des Koordinierungsrechts geht in die entscheidende Phase. Für zwei wesentliche Aspekte konnten noch keine Lösungen gefunden werden: Die Regelungen zur Vorabnotifizierung bei Entsendungen und der Export von Leistungen bei Arbeitslosigkeit. Zwischen Europäischen Parlament und Rat ist strittig, ob jede einzelne Entsendung vorab beim zuständigen Träger angemeldet werden sollte (Vorabnotifizierung) und wie dies zu überprüfen wäre. Mit dem ESSPASS würden diese offenen Fragen geklärt. Ein erfolgreicher Abschluss der Revision des Koordinierungsrechts ist für die deutschen Sozialversicherungsträger wichtig. Dabei geht es nicht nur darum, Lösungen für die noch strittigen Aspekte zu finden, sondern auch um eine rechtskräftige Umsetzung der guten auf dem Verhandlungsweg gefunden Ergebnisse.

Ist Interoperabilität der Schlüssel?

Ein europäischer Sozialversicherungsausweis sowie weitere digitale Techniken können nur so gut sein, wie die damit verbundene Interoperabilität der Sozialdaten. Das Ideal wäre eine einfach verständliche, moderne, interoperable, grenzüberschreitende Infrastruktur zur administrativen Bewältigung von Koordinierungssachverhalten, zur verbesserten Durchsetzung der Rechte mobiler Beschäftigter und zur Vermeidung von Missbrauch. Allerdings sind Datenbankarchitekturen und Zugriffsrechte der europäischen Sozialversicherungsträger vielfältig. Auf Grund unterschiedlicher Rechtsgrundlagen und Datenerfordernissen weichen die gespeicherten Informationen zudem stark voneinander ab. Das Mitdenken zwischenstaatlicher Erfordernisse ist wichtig. Die Erfahrungen mit EESSI zeigen jedoch, dass es viel Abstimmung auf nationaler und europäischer Ebene bedarf, an der die Sozialversicherungsträger beteiligt werden müssen. Denn nur gemeinsam kann das abstrakte Ziel des Datenaustausches operationalisierbar gemacht werden.

Anspruchsvolle Digitalisierungsprojekte erfordern, dass alle Akteure (insbesondere Politik, Sozialversicherung und Technik) gemeinsam planen, Machbarkeiten prüfen, Umsetzungsstrategien abstimmen und gemeinsam handeln. Eine digitale und interoperable Sozialversicherung in Europa braucht einen langen Atem – nicht nur bei der Europäischen Kommission. Die Sozialversicherung verfügt über die notwendige Ausdauer, sie ist anpassungs- und anschlussfähig.


Digitale Arbeitswelt – neue Arbeitsformen im Trend

Die Digitalisierung der Gesellschaft greift tief in die Arbeitswelt ein. Sie schafft zum Beispiel ein Potential an „Arbeiten von zu Hause“ und das in einem Umfang, der durch die Pandemie seine ganze Dimension zeigt. Das stellt, zusammen mit dem Phänomen der ständigen virtuellen Erreichbarkeit, neue Herausforderungen nicht nur an das Konzept von „Arbeitszeit“, sondern auch an Prävention und Arbeitsschutz.

Darüber hinaus hat die massenhafte Verfügbarkeit von Speicher-, Übertragungs- und Verarbeitungskapazitäten schließlich einer neuen Arbeitsform den Weg bereitet, der „Plattformarbeit“. Gemeint ist damit Arbeit, die über elektronische Plattformen organisiert, verteilt und vermittelt wird und die lokal gebunden oder rein virtuell/online erbracht wird. Dabei werden traditionelle, personelle Managementstrukturen eines meist örtlich gebundenen „Betriebs“ durch eine Steuerung durch Algorithmen ersetzt. Diese organisieren das Zusammenspiel zwischen Kapital (oft konzentriert beim Plattformbetreiber), Arbeit und dem Endnutzer, der beides sein kann: Ein Endverbraucher oder seinerseits selbst ein Unternehmer.

Diese neue Arbeitsform bietet die Chance wirtschaftlicher Innovationen unter (besserer) Kombination alter und neuer Bedürfnisse. Sie kann aber auch ein ganz bewusst eingesetztes Geschäftsmodell zur Reduzierung von Steuern und Sozialabgaben sein.

Zugang zum Sozialschutz

Digitalisierung allein genügt nicht, um Lücken bei der sozialen Sicherung der Beschäftigten in Europa zu schließen. In Grundsatz 12 der Europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR) wird betont, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie – unter vergleichbaren Bedingungen – Selbstständige unabhängig von Art und Dauer ihrer Erwerbstätigkeit Anspruch auf einen angemessenen Sozialschutz haben. Der Rat der Europäischen Union hat dies in seiner Empfehlung von 2019 aufgenommen. Darin wird für die Analyse des Zugangs zum Sozialschutz nach vier Dimensionen unterschieden: formelle Absicherung, tatsächliche Absicherung, Angemessenheit und Transparenz.

Die Europäische Kommission hat am 31. Januar 2023 den ersten Bericht über die Umsetzung der Empfehlung über den Zugang zum Sozialschutz veröffentlicht. In diesem wird ein gemischtes Bild über die erzielten Fortschritte bei der Umsetzung gezeichnet. Einerseits geht aus dem Bericht hervor, dass eine Reihe von Mitgliedstaaten Reformen zur Verbesserung der Situation durchgeführt hat oder deren Umsetzung plant. Andererseits wird in dem Bericht konstatiert, dass die meisten Mitgliedstaaten nicht bestrebt sind, alle bestehenden Lücken beim Zugang zum Sozialschutz zu schließen.

Der Bericht zeigt, dass sich die Systeme der sozialen Sicherheit noch zu sehr auf die traditionellen Systeme, die für Arbeitnehmer mit unbefristeten Vollzeitverträgen konzipiert sind, stützen. Atypisch Beschäftigte, insbesondere in neuen Erwerbsformen wie beispielsweise der Plattformbeschäftigung, werden meist nur unzureichend abgesichert.

Der Wandel der Arbeitswelt wird in Zukunft durch Digitalisierung und Klimawandel noch verstärkt und damit die Beschäftigungsverhältnisse im traditionellen Sinn ändern. Die Schutzbedürfnisse der Menschen bleiben dieselben. Ein angemessener Sozialschutz ist für die wirtschaftliche und soziale Sicherheit der Erwerbstätigen von großer Bedeutung und wird nach dem Bericht der hochrangigen Expertengruppe zur Zukunft des Sozialschutzes und des Wohlfahrtstaates der EU in Zukunft noch weiter zunehmen.

Die Deutsche Sozialversicherung setzt sich dafür ein, dass allen Erwerbstätigen ein angemessener Zugang zum Schutz sozialer Sicherungssysteme gewährt wird. Im Bereich der Alterssicherung, bedeutet dies die Einführung einer obligatorischen Altersvorsorgepflicht für Selbstständige. Dabei müssen jedoch auch die Rechte der Solidargemeinschaft gewahrt bleiben, d.h. Beitragspflichten müssen erfüllt werden, um die Nachhaltigkeit der Systeme der sozialen Sicherung zu gewährleisten.



Über uns

Die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund), die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), der GKV-Spitzenverband, die Verbände der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen auf Bundesebene sowie die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) haben sich mit Blick auf ihre gemeinsamen europapolitischen Interessen zur „Deutschen Sozialversicherung Arbeitsgemeinschaft Europa e.V.“ zusammengeschlossen. Der Verein vertritt die Interessen seiner Mitglieder gegenüber den Organen der Europäischen Union sowie anderen europäischen Institutionen und berät die relevanten Akteure im Rahmen aktueller Gesetzgebungsvorhaben und Initiativen. Die Kranken- und Pflegeversicherung, die Rentenversicherung und die Unfallversicherung bieten als Teil eines gesetzlichen Versicherungssystems wirksamen Schutz vor den Folgen großer Lebensrisiken.

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