Wind of Change – Die Sozialversicherung im Klimawandel

Impulspapier der Deutschen Sozialversicherung

vom 13. Juni 2023


Vorbemerkung

Der Klimawandel wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als die größte Bedrohung für die Gesundheit der Menschheit im 21. Jahrhundert eingestuft. Die Folgen des Klimawandels haben unmittelbaren und starken Einfluss auf die individuelle und die kollektive Gesundheit. Starkwetterereignisse wie Stürme, Fluten und Hitzewellen stellen daher auch die Sozialversicherung vor neue Herausforderungen. Um den neuen Risiken für die Gesellschaft bestmöglich zu begegnen, sind unter anderem Maßnahmen in den Bereichen der Prävention und Gesundheitsversorgung und auch im Arbeitsschutz von besonderer Bedeutung.

Die Europäische Union (EU) engagiert sich im weltweiten Kampf gegen den Klimawandel und spielt eine wichtige Rolle bei der grünen Transformation. Der Europäische Grüne Deal, das europäische Klimagesetz oder die Festlegung eines Klimaziels für 2040 beeinflussen zahlreiche politische Einzelinitiativen, welche das Gesundheits- und Sozialsystem betreffen und die Sozialversicherungssysteme berühren. Der grüne Wandel kann nur gelingen, wenn die Verantwortung für nach-haltiges Handeln in allen Politikfeldern erkannt und wahrgenommen wird. Auf dem Weg zur Klimaneutralität müssen alle Sektoren ihren Beitrag leisten – auch der Sozial- und Gesundheitsbereich.

Impulspapiere

Klimawandel bewältigen – die Sozialversicherung sieht Handlungsbedarf

Der Sozialversicherung kommt die Verantwortung zu, die gesundheitliche und pflegerische Versorgung sowie den Arbeitsschutz an klimabedingte Veränderungen anzupassen (Adaption) und den CO2-Fußabdruck des Gesundheitswesens zu minimieren (Mitigation). Das Gesundheitssystem in Deutschland verursacht rund 5 Prozent des bundesweiten CO2-Ausstoßes. Allein das Arzneimittelwesen trägt zum Beispiel durch seine chemikalienintensive Produktion erheblich zur Umwelt- und Klimabelastung bei. Etwa 20 Prozent der Emissionen im Gesundheitsbereich werden durch pharmazeutische Produkte verursacht. Wie können oder sollten die Sozialversicherungsträger ihre Einflussmöglichkeiten geltend machen? Nur gemeinsam mit allen Akteuren des Gesundheitswesens können Ansätze gefunden werden, um kooperativ auf ein klimaneutrales Gesundheits-wesen hinzuwirken, so zum Beispiel durch klimaneutrale Einrichtungen im stationären und ambulanten Bereich sowie eine ökologische und nachhaltige Kreislaufwirtschaft bei Arzneimitteln, Medizinprodukten und Hilfsmitteln. Auch in der Digitalisierung liegt klimagerechtes Potenzial, zum Beispiel, wenn Fahrtwege durch Telemedizin eingespart werden können. Die Sozialversicherungsträger verfügen über strategische Einflussmöglichkeiten, zum Beispiel bei Rabattverträgen, der Zulassung von Vertragspartnern, der Vertragsgestaltung, der Beratung und Aufklärung von Versicherten oder bei der Bereitstellung von Präventionsangeboten.

Die Auswirkungen des Klimawandels auf Versicherte und Beschäftigte sind bereits heute spürbar. In manchen Bereichen steigt das Risiko von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten durch die sich verändernden Arbeitsbedingungen zum Teil drastisch an. Es bedarf angepasster Präventions- und Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz sowie einer klimasensiblen Anpassung der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung.

Hitze

So stellt die steigende Belastung durch Hitze neue Anforderungen an das Ge-sundheitswesen und den Arbeitsschutz. Hitzebelastung führt zur Verschlimmerung bestehender Gesundheitsprobleme wie Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen und kann zusätzliche Todesfälle verursachen. Kliniken und Pflegeheime müssen daher unter anderem für eine Verschattung und eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr sorgen. Weitere Folgen der negativen gesundheitlichen Auswirkungen sind vermehrte Arztbesuche, Rettungseinsätze und Krankenhauseinweisungen. Diese können sowohl die medizinische und Notfallinfra-struktur als auch die sozialen Systeme erheblich belasten. Gesundheitliche Risiken auf Grund von Hitzeexposition treffen besonders Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die im Freien tätig werden. Sie sind dem Risiko der Dehydrierung, Erschöpfung und Hitzeschlägen während der Arbeit verstärkt ausgesetzt. Risiken gibt es jedoch nicht nur im Außen-, sondern auch im Innenbereich. Auch in Büros und Fabriken werden durch längere Hitzeperioden die Raumtemperaturen zunehmend ansteigen. Da erhöhte Temperaturen auch zu mentalen Belastungen und Hitzestress führen, darf auch die psychische Gesundheit der Arbeit-nehmer nicht außer Acht gelassen werden.

Infektionskrankheiten und Allergien

Das Risiko und die Geschwindigkeit des Auftretens und der Ausbreitung von Infektionskrankheiten werden durch den Klimawandel zunehmend begünstigt. Besonders gefährdet sind die Küstenregionen und Hafenstädte, in denen tropische Krankheiten wie das Denguefieber zuerst ankommen und Einzug in Europa halten. Aber auch heimische Plagen wie Zecken, die Borreliose oder die Früh-sommer-Meningoenzephalitis (FSME) übertragen können, sind durch wärmere Herbst- und Wintermonate länger aktiv. Verlängerte Blüh- und Pollenflugzeiten sowie die Ausbreitung hochallergener Pflanzen werden vermehrt Allergien verursachen.

Unwetter

Extremwetterereignisse, wie zum Beispiel bei der Ahrtal-Flut, führen nicht nur zu Toten und Verletzten sowie Großeinsätzen von Feuerwehr- und Rettungskräften unter zum Teil schwierigsten Bedingungen. Sie können in der Folge auch zu einer Zunahme von psychischen Erkrankungen, auffälligen Diagnosehäufungen bei Schwangeren, Komplikationen bei chirurgischen Eingriffen oder vermehrten Unfällen in der Agrarwirtschaft führen. Erschwerend kommt hinzu, dass die medizinische Versorgungsinfrastruktur ebenfalls zerstört, beziehungsweise beeinträchtigt sein kann. Die vorgenannten Risiken sind von den Sozialversicherungsträgern zu antizipieren. Da durch den Klimawandel auch die sozialen Sicherungssysteme unter einen hohen Ausgabendruck geraten, sind Finanzierungsfragen und -zuständigkeiten zu klären.

Handlungsmöglichkeiten der EU: Klima- und Sozialpolitik verbinden

Das Handeln der Sozialversicherungsträger muss die klimabedingten Herausforderungen annehmen und aktiv daran mitwirken, das Gesundheits- und Sozial-system klimaneutral und nachhaltig auszurichten. Die grüne Transformation der Gesundheits- und Sozialsysteme muss sozial gerecht und solidarisch ausgestaltet werden. Die Anpassungsmaßnahmen sollten darauf abzielen, besonders vulnerable Gruppen wie Ältere, Kinder und Jugendliche und chronisch Erkrankte zu berücksichtigen, die für klimabedingte Gesundheitsauswirkungen am anfälligsten sind. So zu handeln, ist auch im Einklang mit dem zu Grunde liegenden Gedanken der intra- und intergenerationalen Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Synergien zwischen Sozial- und Klimaschutz müssen daher geschaffen werden. In einer sozialen und solidarischen Gesellschaft muss zudem darauf hingewirkt werden, dass mit dem Klimawandel die Schere zwischen sozioökonomischem Status und gesundheitlichen Chancen nicht weiter auseinandergeht.

Die EU muss die klimaneutrale Transformation der Gesundheits- und Sozialsysteme auf die politische Agenda setzen und unterstützend agieren. Zwar sind die Zuständigkeiten der EU für die Gesundheits- und Sozialpolitik begrenzt, sie kann aber die grüne Transformation durch grenzüberschreitende Koordinierung, Überwachung und Finanzierung unterstützen. Auch durch Katastrophenvorsorge sowie einem verbesserten Krisenmanagement kann die EU einen wesentlichen Beitrag leisten, um die Folgen des Klimawandels für die europäischen Gesell-schaften abzufedern. Darüber hinaus muss die Forschung zu Klimafolgen und Anpassungsstrategien in den Gesundheits- und Sozialsystemen gezielt gefördert werden. Eine verbesserte Überwachung und Frühwarnung vor klimabedingten Gesundheitsbedrohungen, wie zuletzt bei Infektionskrankheiten (Corona-Pandemie) oder extremen Wetterereignissen und Hitzewellen, wird zunehmend wichtiger. Von Beginn an muss mitgedacht werden, dass mit dem grünen Wandel nicht nur neue Arbeitsbedingungen, sondern zum Teil auch neue Risiken einhergehen, zum Beispiel durch die Arbeit mit Wasserstoff.

Entsprechende Präventions- und Arbeitsschutzmaßnahmen sollten daher vor-sorglich entwickelt und frühzeitig rechtlich wie praktisch implementiert werden. Handlungsspielräume hat die EU ebenso bei der Einführung von Umwelt- und Nachhaltigkeitsstandards, zum Beispiel bei globalen Lieferketten von Arzneimitteln, der Kreislaufwirtschaft von Medizinprodukten oder bei der Förderung von klimaneutralen Gebäuden.



Über uns

Die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund), die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), der GKV-Spitzenverband, die Verbände der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen auf Bundesebene sowie die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) haben sich mit Blick auf ihre gemeinsamen europapolitischen Interessen zur „Deutschen Sozialversicherung Arbeitsgemeinschaft Europa e.V.“ zusammengeschlossen. Der Verein vertritt die Interessen seiner Mitglieder gegenüber den Organen der Europäischen Union sowie anderen europäischen Institutionen und berät die relevanten Akteure im Rahmen aktueller Gesetzgebungsvorhaben und Initiativen. Die Kranken- und Pflegeversicherung, die Rentenversicherung und die Unfallversicherung bieten als Teil eines gesetzlichen Versicherungssystems wirksamen Schutz vor den Folgen großer Lebensrisiken.

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