Feedback der Deutschen Sozialversicherung vom 10. Juni 2025
Sondierung der Europäischen Kommission zu einer Folgenabschätzung zu einem Europäischen Rechtsakt für Biotechnologie
Vorbemerkung
Die Europäische Kommission plant, im dritten Quartal 2026 ein Biotechnologiegesetz vorzulegen. Die Deutsche Sozialversicherung (DSV) begrüßt die Bestrebungen der Europäischen Union (EU), die Biotechnologie zu fördern, um die medizinische Versorgung zu verbessern und die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Dabei müssen neben industriepolitischen Zielen zentrale Versorgungsprinzipien wie Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und Finanzierbarkeit sowie ein patientenorientierter Innovationsbegriff im Mittelpunkt stehen.
Aus Sicht der DSV ist es von zentraler Bedeutung, dass der Legislativvorschlag eng mit den Zielen und Initiativen der EU im Bereich der Arzneimittelversorgung, der EU-HTA und der Sicherstellung der Versorgung mit kritischen Arzneimitteln abgestimmt wird.
Biotechnologische Arzneimittel sind meist hochkomplex, was besondere Anforderungen an Zulassung, Evidenzgenerierung und Erstattung stellt. Um medizinischen Fortschritt in Europa durch solche neuartigen Therapien in die Versorgung zu integrieren, bedarf es eines regulatorischen Rahmens, der Forschung, Entwicklung und Marktzugang für Biotech-Unternehmen in der EU ermöglicht, gleichzeitig Qualität und Versorgungssicherheit aller Patientinnen und Patienten sicherstellt und die Finanzierbarkeit der nationalen Gesundheitssysteme wahrt.
Herausforderung: Innovation finanzieren – aber für alle bezahlbar halten
Biotechnologische Arzneimittel, insbesondere Gentherapien, eröffnen neue Perspektiven für die Behandlung bislang unheilbarer Erkrankungen. Deutschland gehört im europäischen Vergleich zu den Ländern mit der schnellsten und umfassendsten Verfügbarkeit neuer Arzneimittel. Doch das hat seinen Preis: Die deutschen gesetzlichen Krankenkassen geben jährlich rund 55 Milliarden Euro für ambulant verordnete Arzneimittel aus – Tendenz steigend. Kostentreiber sind vor allem neue, patentgeschützte Arzneimittel – insbesondere Onkologika und Immunsuppressiva, darunter viele biotechnologisch hergestellte Präparate wie monoklonale Antikörper.
Die bereits verfügbaren Gen- und Zelltherapien kosten pro Patienten teils Millionen Euro. Gentherapeutika stellen einen Paradigmenwechsel in der Arzneimittelversorgung dar. Anders als klassische Arzneimittel sind sie häufig für eine einmalige oder diskontinuierliche Anwendung konzipiert. Diese Einmalgabe verlagert das gesamte Kostenrisiko auf die Kostenträger – in Deutschland die gesetzlichen Krankenkassen – und das zu einem sehr frühen Zeitpunkt, an dem belastbare Daten zur Langzeitwirksamkeit, zu potenziellen Spätfolgen und zur tatsächlichen Versorgungseffektivität oftmals noch fehlen.
Stellungnahme
Geschwindigkeit und Straffung: Keine Abstriche bei Sicherheit und Evidenz, Stärkung des Wettbewerbs
Aus Sicht der DSV darf der geplante Biotech-Act nicht zum Einfallstor für eine Absenkung regulatorischer Standards werden. Es gilt: Die Anforderungen an Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit biotechnologischer Arzneimittel dürfen nicht relativiert und die Gesundheit der Patienten nicht gefährdet werden. Pauschale Forderungen nach regulatorischen Erleichterungen im Biotechnologiesektor sind nicht nachvollziehbar, solange sie nicht auf einer systematischen Analyse bestehender Regelungen einschließlich möglicher Regelungslücken und bestehender, regulatorischer Hindernisse beruhen.
Der Biotech-Act muss sich an den Grundsätzen evidenzbasierter Medizin und der europäischen HTA-Verordnung orientieren. Für hochpreisige biotechnologische Arzneimittel ist ein belastbarer Zusatznutzen nachzuweisen. Gerade für seltene Erkrankungen ist eine einheitliche, interoperable Datenbasis essenziell.
Die bestehenden Anreize im Bereich der seltenen Erkrankungen führen dazu, dass Arzneimittel vor allem für einzelne seltene Erkrankungen oder sogar Subgruppen davon entwickelt werden. Für einige seltene Erkrankungen werden zahlreiche Therapien entwickelt, für andere hingegen keine. Mittlerweile existieren vielversprechende Konzepte, wie durch modulare Gen- oder RNA-Therapien ein Therapieansatz – individuell abgewandelt – für mehrere, unterschiedliche seltene Erkrankungen dienen kann. Dies weckt große Hoffnung bei Betroffenen, für deren seltene Leiden bislang keine Therapie verfügbar ist. Es eröffnet auch die Möglichkeit, medizinischen Fortschritt mit einer verbesserten wirtschaftlichen Tragfähigkeit zu verbinden, indem Synergien in Entwicklung und Anwendung genutzt werden. Damit solche Therapieansätze in die Versorgung gelangen, müssen allerdings die bestehenden Fehlanreize für Orphan Drugs beseitigt werden. Dazu sollte der Orphan-Drug Status künftig zusätzlich zur Seltenheit der Erkrankung(en) (Prävalenzkriterium) an ein Profitabilitätskriterium geknüpft werden: Das Unternehmen müsste nachweisen, dass ohne Orphan-Drug Status ein wirtschaftlicher Vertrieb nicht möglich wäre.
Es braucht für Arzneimittel insgesamt, nicht nur für solche zur Behandlung seltener Erkrankungen, ausgewogene Anreizsysteme, die Innovation fördern, aber den Marktzugang für Nachahmerpräparate nicht behindern. Ein funktionierender Wettbewerb ist zentral für eine bezahlbare Arzneimittelversorgung in der EU.
Ein zentrales Problem ist zudem die fehlende Transparenz über bestehende Schutzfristen. Um Planungssicherheit für Biosimilar-Hersteller zu schaffen und frühzeitige Markteintritte zu ermöglichen, sollten sämtliche patentrechtlichen und regulatorischen Exklusivitätsfristen öffentlich einsehbar sein. Eine zentrale, öffentlich zugängliche Datenbank beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) könnte hier maßgeblich zur Transparenz und zu einem fairen Wettbewerb beitragen.
Finanzierung: Biotech-Förderung transparent aus öffentlichen Mitteln
Viele biotechnologische Innovationen basieren auf öffentlicher Forschung und Finanzierung. Forschungsförderung muss transparent gemacht werden, um sicherzustellen, dass die mit öffentlichen Mitteln ermöglichten biotechnologischen Produkte allen Versicherten zu angemessenen Preisen zur Verfügung stehen. Industriepolitische Maßnahmen zur Diversifizierung der Produktion von biotechnologischen Produkten, Vorprodukten und Hilfsstoffen sowie Investitionen in europäische Produktionskapazitäten sind wichtige Elemente. Finanzielle Anreize und Förderungen müssen mit Sanktionsmöglichkeiten einhergehen, wenn die geförderten Unternehmen versorgungskritische biotechnologische Produkte nicht in ausreichender Menge bereitstellen. Eine Zweckentfremdung von Beitragsgeldern für industriepolitische Fördermaßnahmen gilt es zu vermeiden.
Umfang: Industriestandort Europa fördern – Versorgungssicherheit stärken
Die Förderung biotechnologischer Produktion in Europa kann zur Stärkung der europäischen Innovationskraft beitragen. Aus Sicht der DSV ist der Aufbau von Produktionskapazitäten und Clustern eine industriepolitische Aufgabe und muss aus öffentlichen Mitteln finanziert werden. Die hohen Standards bei Arzneimittelsicherheit, Qualität und Nutzen sowie dem Umweltschutz dürfen auch unter investitionsfreundlichen Rahmenbedingungen nicht untergraben werden.
Aus Sicht der DSV muss die EU zudem Maßnahmen ergreifen, um Lieferengpässe und Versorgungsrisiken zu minimieren. Diese können vielfältige Ursachen haben, von geopolitischen Spannungen bis hin zu betriebsbedingten Produktionsausfällen. Die Reform des EU-Arzneimittelrechts, der Critical Medicines Act und eine Biotechnologiegesetzgebung müssen hier konsistente Grundlagen für den gesamten Sektor schaffen. Dazu gehören der weitere Ausbau des EU-weiten Frühwarnsystems zur Erhöhung der Transparenz und möglichst präventiven Vermeidung von Lieferengpässen, die Verpflichtung der Zulassungsinhaber zur Meldung drohender Lieferengpässe und zur Erstellung von Plänen zur Vermeidung solcher Engpässe sowie spürbare Sanktionen für Zulassungsinhaber bei Nichteinhaltung von Lieferverpflichtungen.
Kompetenzen: Akademische Zusammenarbeit als Fundament für Innovation und Wettbewerbsfähigkeit
Innovationen im Biotechnologiesektor basieren oft auf Erkenntnissen aus der Grundlagenforschung unter anderem in den Bereichen der Medizin, Pharmazie und Biochemie und Biotechnologie. Ein Ausbau des interdisziplinären Austausches zwischen Hochschulen auf europäischer und internationaler Ebene ist daher ein zentraler Hebel zur Förderung neuer biotechnologischer Entwicklungen in der EU. Um dieses Potenzial voll auszuschöpfen, sollten bürokratische Hürden für die akademische Zusammenarbeit abgebaut werden, denn dies dient auch der Wettbewerbsfähigkeit Europas.
Nutzung von Daten und KI im Biotechnologiesektor: verantwortungsvoll und gemeinwohlorientiert gestalten
Der verantwortungsvolle Zugang zu Gesundheitsdaten und der gezielte Einsatz von Künstlicher Intelligenz können einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der medizinischen Versorgung und zur Innovationsfähigkeit von Biotechnologien in Europa leisten. Der Europäische Gesundheitsdatenraum (EHDS) und der Einsatz von Künstlicher Intelligenz bieten auch im Bereich der Biotechnologie neue Potentiale. Entscheidend ist jedoch, dass diese Technologien unter klaren ethischen und rechtlichen Rahmenbedingungen eingesetzt werden. Dies betrifft sowohl den Zugang zu KI-gestützten Innovationen und Versorgungsprozessen als auch die diskriminierungsfreie Gestaltung der Datengrundlage und der KI-Modelle selbst.
Über uns
Die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund), die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), der GKV-Spitzenverband, die Verbände der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen auf Bundesebene sowie die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) haben sich mit Blick auf ihre gemeinsamen europapolitischen Interessen zur „Deutschen Sozialversicherung Arbeitsgemeinschaft Europa e.V.“ zusammengeschlossen. Der Verein vertritt die Interessen seiner Mitglieder gegenüber den Organen der Europäischen Union sowie anderen europäischen Institutionen und berät die relevanten Akteure im Rahmen aktueller Gesetzgebungsvorhaben und Initiativen. Die Kranken- und Pflegeversicherung mit 75 Millionen Versicherten, die Rentenversicherung mit 57 Millionen Versicherten und die Unfallversicherung mit mehr als 70 Millionen Versicherten in 5,2 Millionen Mitgliedsunternehmen bieten als Teil eines gesetzlichen Versicherungssystems den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland wirksamen Schutz vor den Folgen großer Lebensrisiken.