Die Sozialversicherung als Treiber für Europas Wettbewerbsfähigkeit

Keyvisual

Kritisch, digital, souverän – unter diesem Leitmotiv haben die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV), der GKV-Spitzenverband und die Deutsche Sozialversicherung Europavertretung (DSV) am 17. November eine Konferenz zur Digitalisierung im öffentlichen Sektor ausgerichtet. Im Mittelpunkt stand der Dialog zwischen europäischer und nationaler Politik, der Verwaltung und den Sozialversicherungsträgern. Dabei wurde deutlich: Fortschritt entsteht nur dort, wo Zusammenarbeit, Mut und klare europäische Rahmenbedingungen zusammenkommen.

Anspruch trifft Wirklichkeit – Digitale Verwaltung in der Praxis

Die Europäische Kommission stellt bereits eine Reihe von Werkzeugen für den Aufbau eines starken Innovationsökosystems im Bereich vertrauenswürdiger künstlicher Intelligenz (KI) bereit. Wie diese sinnvoll genutzt werden können, erläuterte Lucilla Sioli, Leiterin des KI-Büros der Europäischen Kommission, in einem Impuls.

Im darauffolgenden ersten Panel stand die Frage im Mittelpunkt, wie eine digitale Verwaltung den wachsenden Anforderungen in Deutschland und Europa gerecht werden kann. Darüber diskutierten Staatssekretär Dr. Markus Richter (Bundesministerium für Digitalisierung und Staatsmodernisierung), Dana-Carmen Bachmann (Europäische Kommission, DG EMPL), Axel Voss (Europäisches Parlament), Stefan Latuski (Bundesagentur für Arbeit) und Dr. Stephan Fasshauer (DGUV). Neben den großen demografischen Herausforderungen für die Sozialversicherung wurden auch Effizienzgewinne durch Digitalisierung und der gezielte Einsatz von KI-Anwendungen thematisiert.

Dr. Markus Richter betonte, dass Verwaltung nicht nur reagieren dürfe, sondern aktiv gestalten müsse. In vielen Bereichen stehe längst nicht mehr das Ob, sondern das Wie der Umsetzung im Vordergrund. Sektorenübergreifende Kooperationen seien daher entscheidend, um Tempo zu gewinnen und Innovationen wirksam voranzubringen. Gleichzeitig müsse jedoch hart daran gearbeitet werden, Vertrauen und Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger in Verwaltung und Sozialversicherung zu stärken. Für eine leistungsfähige digitale Sozialversicherung brauche es zudem eine engere europäische Abstimmung und ein systematisches Lernen voneinander.


In diesem Kontext rief Axel Voss dazu auf, mutig voranzugehen und die richtigen Partner an der Seite zu haben. Denn nur mit entschlussfreudigen Gleichgesinnten ließen sich digitale Lösungen erfolgreich entwickeln und umsetzen. Dr. Stephan Fasshauer machte deutlich, dass eine zukunftsfähige digitale Verwaltung in Deutschland klare und verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen brauche – sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene. Gleichzeitig betonten sowohl er als auch Stefan Latuski, dass die Sozialversicherung bereit sei, Verantwortung zu übernehmen, und ihre Häuser die Digitalisierung bereits aktiv vorantreiben.


Die Diskussion machte deutlich, dass eine moderne Verwaltung praxisnah, europäisch vernetzt und gemeinschaftlich gestaltet werden muss, damit Anspruch und Wirklichkeit gut zusammenfinden.

Smart, aber sicher – Digitale Anwendungen in der Sozialversicherung

Im zweiten Panel wurde deutlich, wie groß die Erwartungen an KI in der Sozialversicherung sind. Monika Queisser (OECD) verwies in ihrem Impuls auf die erhebliche Skepsis in der Bevölkerung: Viele seien nicht überzeugt, dass KI sinnvoll und verlässlich eingeführt werde. Regierungen müssten Vertrauen schaffen. 

Im anschließenden zweiten Panel diskutierten Dr. Martin Krasney (GKV-Spitzenverband), Nina Nissilä (Kela, Finnland), Gundula Roßbach (DRV Bund), Axel Voss (Europäisches Parlament) und Staatssekretär Dr. Michael Schäfer (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) über den Einsatz von KI in der Sozialversicherung. Sie betonten das erhebliche Potenzial für effizientere Verwaltung und bessere medizinische Versorgung, sprachen aber ebenso über Anforderungen an Transparenz, Governance und Cybersicherheit. 

Dr. Martin Krasney betonte das erhebliche Potenzial von KI in Verwaltung und medizinischer Versorgung durch Chatbots, Klientenanalysen und intelligente Praxissoftware. Dazu müssten Sozialversicherungsträger ihre Daten sinnvoll nutzen und einsetzen dürfen. Wie weit KI in der Praxis bereits trägt, zeigte Nina Nissilä am Beispiel der Kela, wo KI Überzahlungen, Missbrauch und interne Fehler identifiziert. Für das Vertrauen der Bevölkerung seien Transparenz, klare Governance und ein öffentliches KI-Register zentral.


Gundula Roßbach rückte die Mitarbeitenden in den Mittelpunkt, die durch KI unterstützt, aber nicht ersetzt werden könnten. Die DRV nutze KI etwa in der Betriebsprüfung zur Entlastung der Mitarbeitenden. Entscheidend dabei sei, Beschäftigte gezielt zu befähigen. Viele hätten nie gelernt, mit datenbasierten Systemen zu arbeiten und KI-unterstützte Entscheidungen zu treffen. Sie bräuchten Sicherheit im Umgang mit den neuen Werkzeugen. Auch Staatssekretär Dr. Michael Schäfer berichtete von einem Curriculum des BMAS, das Mitarbeitende systematisch an digitale Anwendungen heranführt und große Behörden schrittweise modernisiert. 


Eine klar europäische Perspektive brachte Axel Voss ein. Er kritisierte, dass nationale Alleingänge Interoperabilität erschweren und die EU beim Einsatz neuer Technologien an Tempo verliere. Digitalisierung sei keine nationale Aufgabe mehr, sondern eine gemeinsame europäische Zukunftsfrage.

Präsentationen 

Europa in Bewegung – Digitale Zusammenarbeit über Grenzen hinweg

Das dritte Panel zeigte, wie wichtig digitale Zusammenarbeit für grenzüberschreitende Mobilität und soziale Sicherheit in Europa ist. In seinem Impuls betonte Dr. Francesco Corti, Kabinettsmitglied der Exekutiv-Vizepräsidentin Mînzatu (Europäische Kommission), dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit den gemeinsamen Markt ermögliche und die Arbeitnehmerfreizügigkeit wiederum ohne funktionierende soziale Sicherheit nicht denkbar sei. Die Europäische Kommission plane deshalb, das Fair Mobility Package auf den Weg zu bringen. Durch Digitalisierung – auch mit Unterstützung von KI – solle dadurch die Arbeitskräftemobilität erleichtert, die soziale Absicherung verbessert und Betrug eingedämmt werden.

Im Folgenden diskutierten Dr. Francesco Corti (Europäische Kommission), Cosmin Boiangiu (Europäische Arbeitsbehörde), Valeria Bonavolontà (INPS, Italien), Morten Fønsskov Greising (STAR, Dänemark) und Dr. Matthias Flügge (DRV Bund) über die Digitalisierung im Kontext grenzüberschreitender Beschäftigung. Dabei standen sowohl bereits erreichte Fortschritte als auch die nächsten notwendigen Schritte im gemeinsamen Datenaustausch, in der Bekämpfung von Fehlverhalten und in der Verbesserung der Verwaltungsabläufe im Mittelpunkt.

Dr. Matthias Flügge hob den Erfolg von EESSI hervor. Das System habe den Datenaustausch zwischen 3.400 Sozialversicherungsträgern in 32 Ländern vereinfacht und beschleunigt, ohne dass es zu Einbußen bei der Qualität gekommen sei – ein wichtiger Faktor für das Vertrauen der Versicherten. Dr. Francesco Corti kündigte an, dass die Europäische Kommission im Juni 2026 einen Vorschlag vorlegen wolle, um den digitalen Nachweis des PD A1 in den ESSPASS aufzunehmen. Morten Fønsskov Greising plädierte dafür, künftig weitere Nachweise wie eine neue europäische Arbeitskarte einzubinden.


Valeria Bonavolontà unterstrich, dass die vielfältigen Möglichkeiten der Digitalisierung nur genutzt werden können, wenn der grenzüberschreitende Datenaustausch wesentlich verbessert wird. Sie verwies in diesem Zusammenhang auf die in diesem Jahr vereinbarte Kooperation zwischen Italien und Frankreich zur Betrugsbekämpfung. Gemeinsam mit Cosmin Boiangiu forderte sie als nächsten Schritt einen gesamteuropäischen Ansatz.


Abschließend forderte Dr. Francesco Corti die Sozialversicherungsträger dazu auf, ihre Expertise noch stärker auf europäischer Ebene einzubringen und sich dadurch noch mehr Gehör zu verschaffen. Es sei für die Europäische Kommission wichtig, zu erfahren, wie sich europäische Initiativen konkret auf die Sozialversicherungsträger auswirken und wo eventuell positiver Anpassungsbedarf besteht, um die Umsetzung praxistauglicher zu gestalten.

Gemeinsame Verantwortung für die Zukunft

In ihren Schlussworten hob Ilka Wölfle (DSV) hervor, dass die Diskussionen gezeigt hätten, dass nicht nur die Sozialversicherung ein aktiver Treiber für Europas Wettbewerbsfähigkeit ist, sondern dass auch Europa ein Treiber für die Digitalisierung innerhalb der Sozialversicherung sei. Die Veranstaltung habe deutlich gemacht, wie viel Potenzial in der Sozialversicherung steckt – in ihrer Expertise, ihrer Innovationskraft und ihrer Bereitschaft, Verantwortung für den digitalen Wandel zu übernehmen. Jetzt gelte es, dieses Potenzial zu nutzen, die Dinge anzupacken und die europäischen Initiativen konsequent mit Leben zu füllen.

Ilka Wölfle betonte zudem, wie wichtig es sei, diese europäischen Entwicklungen nicht nur in Brüssel zu diskutieren, sondern sie auch auf nationaler Ebene aktiv in die politischen Gespräche einzubringen. Sie ermutigte alle Beteiligten, in ihren Gesprächen mit der Politik regelmäßig auf die europäischen Themen hinzuweisen, gerade weil viele dieser Initiativen in wenigen Jahren unmittelbar von den Trägern der Sozialversicherung umgesetzt werden müssen. Europa beginne nicht erst in Brüssel, sondern dort, wo nationale Akteure sich frühzeitig einbringen und Verantwortung übernehmen.