Jeder dritte Italiener unter 35 Jahre ist arbeitslos. Öffentliche Gesundheits- und Rentenkassen sind finanziell herausgefordert. „Portugiesische Zustände“ könnten eintreten.

10/2016

Seit rund einem halben Jahr wirbt der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi für eine mehrheitliche Zustimmung zu seinem Verfassungsreferendum. Es soll die wesentlichen Veränderungen der Verfassung und infolgedessen der administrativen Strukturen absegnen und „nebenbei“ die Gesamtleistung seiner Regierung stärken. Nachdem Renzi anfänglich seinen Rücktritt für den Fall einer Referendumsniederlage verkündet hatte, ist er, wie die italienische Zeitung „Il Messagero“ berichtet, davon zwischenzeitlich eher abgerückt. Neben der Abschaffung der Gleichberechtigung der zwei Parlamentskammern durch eine Reduktion der Macht des Senats, sollen italienische Regierungen künftig nicht mehr einfach gestürzt werden können. Überdies soll es unmöglich sein, Gesetzesvorhaben der Regierung dauerhaft zu blockieren. Renzis Popularität ist nach italienischen Meinungsumfragen ebenso gesunken wie die generelle Zustimmung zur EU und den von dieser im Zuge der zahlreichen italienischen Finanzkrisen angeregten Binnenreformen. 

Sieben Jahre Wirtschaftskrise, Überschuldung und zahlreiche Korruptionsfälle in allen politischen Lagern haben den Verdruss gesteigert. Die als Wutbürger zusammengefassten Gegner des Referendums finden sich links wie rechts einer laufend weiter geschwächten politischen Mitte. Sowohl die linkspopulistische Bewegung Fünf-Sterne (Cinque stelle) um den Exkomiker Beppe Grillo als auch Neo-Berlusconianer und eine wachsende extreme Rechte sowohl im Norden als auch im Süden des Landes sehen ihre Stunde dann gekommen, wenn Neuwahlen abzuhalten wären. Umfragen zweifeln an einem leichten Erfolg Renzis. Entsprechend habe er mit nunmehr ausweichenden Antworten auf einen möglichen Rücktritt nach einer Niederlage den Eindruck, man könne ihn „auf diese Art loswerden“, verwischen wollen. Die sozialökonomische Lage ist in der Tat dramatisch: jeder Dritte unter 35 Jahre ist arbeitslos, der Sozialstaat funktioniert sehr schlecht und 4,6 Millionen Italiener leben unterhalb der Armutsgrenze. 

Im Oktober konnte eine serielle Krise des italienischen Bankenwesens nur mit Mühen und finanztechnischen Kunstgriffen abgebogen werden. Ausgehend von der maroden Banco Monte Paschi di Siena, dem wohl ältesten Geldhaus Europas, gerieten Kreditrückzahlbarkeiten und allfällige Überforderungen der Gläubigerbanken im ganzen Land ins Rampenlicht. Wie „Il Messagero“ berichtet, beliefen sich die unsicheren Kreditlasten auf weit über 320 Milliarden Euro. Weder die italienische Nationalbank, noch bislang existente EU-Rettungsschirme könnten dies auffangen. Zumal für den Fall einer um sich greifenden Bankenpleite die Solvenz der Nationalbank selbst nachzuweisen wäre. Die Eurohüter haben daher ein ausgeprägtes Interesse daran, im entscheidenden Wahljahr 2017 eine dramatische Stabilitätskrise in Italien unbedingt zu vermeiden. Mit Wahlen in Deutschland und Frankreich wäre der Zeitpunkt dafür politisch nicht eben unbedenklich. Wie dies aber zu geschehen hat, ist weitgehend offen. 

Italien ist nach wie vor wachsend verschuldet, sinkend wettbewerbsfähig und durch zunehmende Kapitalabflüsse bestimmt. Die Arbeitslosigkeit wird nicht nennenswert verbessert, der Sozialstaat ächzt in allen seinen Fugen. Aus Kreisen der Arbeitslosigkeitsversicherung ertönt bereits der Ruf nach einer, wie auch immer gearteten, „Europäisierung“ der Refinanzierungsgrundlage. Die anderen Sozialsparten würden wohl nahtlos folgen, stehen sie, insbesondere das regional hoch unterschiedlich leistungsfähige, jedoch verbreitet marode öffentliche Gesundheitswesen, ebenso vor großen Herausforderungen wie die Rentenkassen. Neuwahlen würden in der aufgeheizten Stimmung möglicherweise „portugiesische Zustände“, d.h. eine unvermindert die Ausgaben steigernde Linksregierung an die Macht bringen. Angesichts der Bedeutung der italienischen Volkswirtschaft wäre dies jedoch eine „andere Liga“.