„Alles digital außer Hochzeit und Scheidung“

SW/Dr.S-W – 10/2017

Eine hochrangig besetzte Konferenz der estnischen Ratspräsidentschaft widmete sich am 13. und 14. September ausführlich der „Zukunft der Arbeit“. Thematisch wurden drei Komplexe behandelt: Zukunft der Arbeit, Zukunft der Bildung und Zukunft der öffentlichen digitalen Verwaltung. Hier ist Estland tatsächlich in jeder Hinsicht ein Vorreiter. 

 

Die Hintergründe der zurückliegenden Entwicklungen der Arbeitsbeziehungen hatte EUROFOUND für die Konferenz aufgearbeitet. Im Großen und Ganzen sei – was auch von anderen Teilnehmern bestätigt wurde – der Anteil selbständiger Erwerbstätigkeit sowie der einzelnen Formen atypischer Beschäftigung am gesamten Arbeitsvolumen seit 2005 europaweit relativ stabil. Nur in Großbritannien und den Niederlanden sei ein signifikanter Anstieg selbständiger Arbeit festzustellen. Auffällig sei dagegen eine Neu-Ausrichtung und Differenzierung der Arbeitsformen innerhalb der Gruppe der Selbständigen. Der wachsende Anteil der Solo-Selbständigen sowie die Arbeit über elektronische Plattformen seien herausragende Beispiele, wobei allerdings die meisten Plattform-Arbeiter nur Nebeneinkünfte aus dieser Tätigkeit bezögen. 

Was bedeutet der technische Wandel für die Zukunft der Arbeitswelt?

Es bestand weitgehend Konsens, dass viele alte Jobs verschwinden und viele neue entstehen, ohne dass man die Effekte im Zeitablauf zuverlässig quantifizieren kann. Neue Fertigkeiten und Fähigkeiten sind gefragt. Wie soll man mit dem Wandel umgehen? Hierbei gilt es vor allem zwei Probleme zu bewältigen: Die nachhaltige Sicherung der Finanzierung der sozialen Absicherung und die Anpassung des Inhalts genau dieser Absicherung. 

Die Estnische Präsidentin Kersti Kaljulaid setzte gleich zu Beginn die Akzente: Eine Besteuerung des technischen Fortschritts nach dem Vorbild einer „Maschinen-Steuer“ sei Unsinn, ebenso die Idee eines universellen Grundeinkommens für alle. Es habe sich nicht die Gestaltung des technischen Fortschritts und digitalen Wandels an die Menschen anzupassen, sondern die Menschen an den Wandel. Der unvermeidliche Übergang müsse auch die armen, schlecht ausgebildeten Menschen mitnehmen, notfalls seien sie durch Sozialhilfe aufzufangen. Mit dem Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft änderten sich auch die individuellen Lebensmodelle; in ihnen spielten die traditionellen Elemente der sozialen Sicherheit nicht mehr dieselbe Rolle wie früher. Daher sollte man statt einer durchgängigen obligatorischen Absicherung gegen alle Risiken an flexiblere Modelle eines „opt-ins“ denken, so Kaljulaid. 

 

In dasselbe Horn stieß der Generalkdirektor von Business Europe Markus Beyrer: Selbständige bräuchten nicht „dieselbe“ soziale Absicherung wie die abhängig Beschäftigten, sondern eine „angemessene“ – und das schließe mehr Wahlfreiheiten ein. Vielleicht wollten sich ja z.B. die Plattform-Arbeiter überhaupt nicht gegen alle klassischen Risiken absichern – da sei durchaus mehr Flexibilität angebracht. 

Als zentrales soziales Risiko der Zukunft wurde die „fehlende Beschäftigungsfähigkeit“ identifiziert. Den Einstieg hierzu lieferte der Generaldirektor der Gerneraldirektion „Beschäftigung“ der EU-Kommission Michel Servoz. In den Ländern der Europäischen Union seien 70 Millionen Menschen nicht oder nicht ausreichend qualifiziert, was die digitalen Kompetenzen angehe – ein Eindruck, der vom Wissenschaftlichen Dienst der Kommission im Wesentlichen bestätigt wurde. Danach hätten 100 Millionen Europäer noch nie das Internet genutzt, und 45% der Bevölkerung bzw. 37% der Arbeitskräfte hätte unzureichende digitale Kenntnisse. Von denen, die keine ausreichenden digitalen Kenntnisse besitzen, seien 42% ohne Arbeit. 

Neuer regulatorischer Rahmen zur Gewährleistung der sozialen Sicherheit?

Braucht man angesichts neuer Arbeitsformen wie Plattform-Arbeit einen neuen regulatorischen Rahmen, um die soziale Sicherheit auch in Zukunft zu gewährleisten? Nein, so die Antwort des EUROFOUND-Direktors Juan Menendez-Valdes. Aber die bestehenden Regelungen müssten wohl angepasst werden. In diesem Zusammenhang verwies Valdes ausdrücklich auf die einschlägige Studie der European Social Insurance Platform. Sie zeigt auf, dass es auf Ebene der Mitgliedstaaten durchaus interessante Verfahren gibt, um auch diese Personen in die gesetzlichen Systeme der Alterssicherung einzubeziehen. 

 

Einen Kontrapunkt setzte Prof. Paul Schoukens/Universität Leuven: Systeme der sozialen Sicherheit sollten in Zukunft nicht mehr an der Quelle „Arbeit“ ansetzen, sondern alle Einkommensquellen einbeziehen. Geschäftsmodelle wie AirBNB zeigten, dass zwischen Arbeitseinkommen, professionellen Einkünften und Kapitaleinkommen kaum noch unterschieden werden kann. Daher mache es auch immer weniger Sinn, den Sozialschutz an ein Arbeitsverhältnis mit einem konkreten Arbeitgeber anzuknüpfen wie z.B. im Fall der zweiten Säule der Alterssicherung. Diese Anknüpfung müsse durch eine Universalisierung ersetzt werden. 

Ausflug in die Visionen einer digitalen Verwaltung

Neue Formen der Arbeit könnten neue Formen der Steuererhebung erfordern. Ein Vertreter des Estnischen Finanzministerium machte auf das Problem aufmerksam, dass man bei „digitalen Nomaden“ kaum noch nachvollziehen könne, von welchem Ort aus sie arbeiteten. Letztlich versetze sie das in die Lage, sich im Hinblick auf Abgaben und Soziale Sicherheit die „Rosinen zu picken“. Um so wichtiger werde der grenzüberschreitende Austausch von steuerrelevanten Daten, der bisher allenfalls bilateral funktioniere. Auf nationaler Ebene bestünden bereits erfolgversprechende Ansätze, so z.B die Möglichkeit, dass auf freiwilliger Basis steuerrelevante Daten von Uber-Fahrern über die Plattform automatisch dem Finanzamt mitgeteilt werden. 

 

Einen sehr breiten Raum nahm die Erörterung des „lebenslangen Lernens“ ein. Sowohl die Frage einer „Pflicht“ zur ständigen Weiterbildung als auch die Finanzierungsfrage wurde angesprochen. Manche Teilnehmer sprachen sich eher für einen „Mix“ aus – Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Staat, evtl. gemeinschaftlich finanzierte Fonds, individuelle Vorsorgekonten. Andere sahen dagegen ganz eindeutig den Staat in der Pflicht – ähnlich wie bei der Primär- und Sekundärausbildung. 

Obwohl nicht eindeutig dem Leitthema „Zukunft der Arbeit“ zuzuordnen, konnte beim Gastgeber Estland ein Ausflug in die Visionen – oder im Fall Estland Realität – einer digitalen Verwaltung nicht ausbleiben. Ein estnischer Regierungsvertreter sowie ein Vertreter des Finanzministeriums erläuterten, bis auf Heirat, Scheidung und Immobilienverkehr könne alles andere online erledigt werden, bis hin zu Parlamentswahlen; 30% der Bürger würden ihr Wahlrecht elektronisch wahrnehmen. Auch der Gesundheitssektor sei auf elektronischen Daten- und Informationsverkehr umgestellt. Steuern könnten unter Nutzung elektronischer Bankdaten automatisch deklariert und gezahlt werden. Das mache jährliche Steuererklärungen überflüssig. 

 

Jeder Bürger verfüge über eine e-ID-Karte einschließlich elektronischer Signatur-Funktion, die sowohl für private wie öffentliche Zwecke eingesetzt werden könne. Alle öffentlichen Dienste würden über eine „X-road-Platform“ zusammenlaufen, und es werde das „Once-only“-Prinzip angewandt, wobei ein Bürger eine Information nur einmal angeben muss und alle weiteren Behörden auf diese Angabe zurückgreifen können.  

 

90% der Bürger nutzten elektronische Behördendienste; der Rest müsse noch überzeugt werden. Diese „schöne neue Welt“ ende allerdings an der Grenze, bedauerte der Regierungsvertreter. In der weiteren Debatte wurde dann allerdings ein Zwischenfall zur Sprache gebracht, der die Risiken der „schönen neuen Welt“ zeigt. Bis zu 50% der elektronischen Personalausweise wurden gehackt.