Eine Erhöhung der Regelaltersgrenze belastet sozio-ökonomische Gruppen mit niedriger Lebenserwartung überproportional.

VS – 09/2021

Die fernere Lebenserwartung der 65-Jährigen ist in Deutschland seit der Wiedervereinigung kontinuierlich angestiegen. In den Jahren 2018/2020 lag sie bei Männern mit 17,9 Jahren gut 3,5 Jahre über der in den Jahren 1991/1993. Bei Frauen hat sie in den Jahren 2018/2020 bei 21,1 Jahren betragen und ist in diesem Zeitraum um gut 3 Jahre angestiegen. Diese Werte beziehen sich auf den Durchschnitt der Bevölkerung einer Alterskohorte. Innerhalb einer Kohorte bestehen jedoch deutliche Unterschiede. So geht eine gesundheitlich stark belastende Erwerbstätigkeit oder ein niedriges Einkommen sowie ein niedriger Bildungsstand in der Regel mit einer niedrigeren Lebenserwartung einher.

Unterschiede sind insbesondere bei Männern ausgeprägt

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat in einer Studie im Auftrag des Sozialverbands VdK Deutschland die Ungleichheit in der Lebenserwartung zwischen relevanten sozio-ökonomischen Gruppen anhand des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) untersucht. Dabei liegt der Fokus auf systematischen Unterschieden in der Lebenserwartung nach Einkommen, Stellung im Beruf und gesundheitlicher Belastung.

Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass sich die fernere Lebenserwartung der 65-jährigen Männer deutlich und signifikant nach Einkommen, Stellung im Beruf und gesundheitlicher Belastung unterscheidet. So haben Männer im Alter von 65 Jahren mit einer niedrigen Gesundheitsbelastung im Beruf (gemessen am letzten Beruf) eine Lebenserwartung von knapp 20 Jahren. Bei einer hohen Gesundheitsbelastung im Beruf liegt diese lediglich bei gut 16 Jahren.

Die Unterschiede bei Frauen sind von der Struktur ähnlich, fallen aber deutlich geringer aus. So ist die geschätzte Lebenserwartung von Frauen mit geringer beruflicher Belastung nur etwa zwei Jahre höher als die von Frauen mit Berufen, die eine hohe gesundheitliche Belastung aufweisen. Dabei ist über alle Gruppen beruflicher Belastung hinweg die durchschnittliche fernere Lebenserwartung höher als bei Männern.

Diese Ergebnisse für Deutschland stimmen mit denen einer Vielzahl internationaler Studien überein. Niedriger sozialer Status oder belastende Arbeitsbedingen haben eine signifikante Auswirkung auf die Lebenserwartung. Wobei dieser Zusammengang bei Männern stärker als bei Frauen ausgeprägt ist.

Gruppen mit unterschiedlicher Lebenserwartung sind von Rentenreformvorschlägen unterschiedlich stark betroffen.

Bei der Interpretation der Ergebnisse muss berücksichtigt werden, dass die betrachteten Einflussfaktoren alle eng miteinander verbunden sind. Daher weisen die Autoren der Studie darauf hin, dass ein kausaler Zusammenhang sich nicht abbilden lässt. Bildung wirkt beispielsweise über verschiedene Kanäle sowohl auf Einkommen als auch auf das Gesundheitsverhalten und die Lebenserwartung. Auch kann ein schlechter Gesundheitszustand Rückwirkungen auf das Einkommen haben. So scheinen Chancen und Risiken auf individueller Ebene zu kumulieren, d.h. dass Personen mit höherer Bildung oft in höheren Einkommenspositionen und vermutlich auch weniger belastenden Arbeitsbedingungen anzutreffen sind.

Die Autoren betonen jedoch, dass die Studie erlaubt, die Bevölkerungsgruppen mit einer unter- oder überdurchschnittlichen Lebenserwartung zu identifizieren und damit ermöglicht, die Verteilungswirkung von Rentenreformvorschlägen zu bewerten. Denn Gruppen mit unterschiedlicher Lebenserwartung sind von Reformen unterschiedlich betroffen. Danach ist eine Erhöhung der Regelaltersgrenze nicht verteilungsneutral, sondern würde die Gruppen mit einer systematisch niedrigen ferneren Lebenserwartung überproportional belasten. Ihre Rentenauszahlungen würden aufgrund der kürzeren Rentenphase prozentual überdurchschnittlich gekürzt.

Auch im Grünbuch zum Thema Altern1 der Europäischen Kommission wird die Erhöhung des Renteneintrittsalters thematisiert. Dessen Anpassung an die Entwicklung der Lebenserwartung ist der zentrale Vorschlag zur finanziellen Stabilisierung der Alterssicherungssysteme. Allerdings würden dann in Europa die Gruppen, die über einen niedrigen sozialen Status verfügen oder starker gesundheitlicher Belastung am Arbeitsplatz ausgesetzt sind, den Großteil der sozialen Last der Alterung der Gesellschaft tragen.