Ungeachtet der Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten ist die Pflege eine gesamteuropäische Herausforderung.

UM – 10/2021

Mit Beginn des laufenden Jahres hatte die Europäische Kommission ihr Grünbuch zum Thema Altern veröffentlicht und im Rahmen eines Konsultationsprozesses eine breite gesellschaftliche Debatte über die Herausforderungen und Chancen des Alterns gestartet. Dieser Prozess soll im nächsten Jahr in eine umfassende Pflegestrategie münden. Die ist auch nötig.

Europa wird älter

Alle Gesellschaften in Europa altern. Und mit der steigenden Lebenserwartung steigt die Zahl derer, die unter Einschränkungen leiden und der Pflege bedürfen. In der Europäischen Union (EU) werden 2050 schätzungsweise 38,1 Millionen Menschen auf Pflege angewiesen sein. 2019 waren es noch etwa 30 Millionen.

Personalengpässe sind programmiert

Mehr Pflegebedürftige werden auf weniger Personen treffen, die sie pflegen können. 90 Prozent der Pflegepersonen sind weiblich, davon ein Drittel schon heute über 65 Jahre alt. Das Problem verschärft sich in dem Maße, in dem Frauen, die heute oft informelle Pflege erbringen, auf die Arbeitsmärkte drängen. Die meisten Mitgliedstaaten rechnen deshalb mit sich verschärfenden Personalengpässen.

Fluch und Segen zugleich

Dabei steigen die Ansprüche ans Personal. Pflege wird zunehmend komplexer und erfordert mehr Wissen, auch in digitaler und technischer Hinsicht. Das macht zwar das Berufsbild attraktiver, gleichzeitig sind entsprechend qualifizierte Kräfte schwerer zu finden. In einem Bericht des Ausschusses für Sozialschutz (SPC) und der Generaldirektion für Arbeit und Soziales (DG EMPL) aus dem Juni 2021 (siehe hier) wird deutlich, dass das Problem aber vielschichtiger ist. Es müssten, so die Autoren, gezielte, systematische Anstrengungen unternommen werden, um diesen Herausforderungen zu begegnen.

Pflege ist weiblich …

Frauen leisten nicht nur den Löwenanteil an pflegenden Tätigkeiten, sie nehmen dafür auch persönliche Nachteile in Kauf: Teilzeitarbeit, niedrigere Einkommen, geringe Rentenansprüche. Denn Pflege wird häufig informell erbracht – zuhause oder fern der Heimat und häufig im rechtlichen Graubereich. Der Anteil informeller Pflege ist groß und in der Regel höher als die Ausgaben der Mitgliedstaaten für Pflege. Er umfasst schätzungsweis 2,4 bis 2,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der gesamten EU.

… und eine soziale Herausforderung

Hinzu tritt, dass ältere Frauen deutlich häufiger auf Pflege angewiesen sind als Männer (33 Prozent zu 19 Prozent). Umgekehrt können sie sich die notwendigen Pflegeleistungen weniger leisten. Nicht nur die Pflege, auch die Pflegebedürftigkeit ist weiblich, und das ist unter den gegebenen Bedingungen ein soziales Problem.

Professionelle Pflege ist vielen zu teuer

Daneben fehlt es schlicht an Pflegeangeboten. Der große Anteil informeller Pflege geht einher mit einer innerhalb der EU erheblich variierenden Zahl der stationären Betten in der Pflege. Professionelle ambulante Pflegestrukturen sind in manchen Ländern garnicht existent. Gibt es sie, ist die Pflege häufig zu teuer für die, die sie brauchen. In der gesamten EU gibt mehr als ein Drittel der Haushalte, die Pflege benötigen an, diese aus finanziellen Gründen nicht in Anspruch zu nehmen. Und auch in den wohlhabenden Staaten mit gut ausgebauten sozialen Versorgungssystemen beinhaltet das solidarisch verbriefte Pflegeleistungsversprechen in der Regel keine Vollversorgung.

Daten sind Mangelware

Der Long-Term Care Report liefert Schlaglichter. Gebraucht werden aber verlässliche und vergleichbare Daten. Sie sind die Grundlage für jedes politische Handeln. Eine erste und wichtige Aufgabe der angekündigten Pflegestrategie wird deshalb sein, die Daten- und Informationsgrundlage zu verbessern. Hier ist Luft nach oben gegeben.