Forderung nach mehr EU-Kompetenzen in Gesundheitspolitik

AG – 05/2022

Wie wird Europa handlungsfähiger und mit welchen Themen soll sich die EU befassen? Mit diesen Fragen beschäftigten sich ein Jahr lang EU-Bürgerinnen und Bürger im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas. Am 9. Mai – am Europatag – wurde der Abschlussbericht dem Rat der Europäischen Union, der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament in einer feierlichen Zeremonie übergeben.

Mehr als 320 Maßnahmen werden unter neun Themenblöcken empfohlen, vom Klimawandel über Gesundheit und Soziales sowie Migration bis hin zur Rolle der EU in der Welt.

Stärkere Angleichung im Bereich der Sozialpolitik

Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger fordern einen EU-Rahmen für Mindestlöhne, stärkere gemeinsame Anstrengungen bei der Geschlechtergerechtigkeit und angemessene Sozialwohnungen in ganz Europa. Zudem wünschen sich die EU-Bürgerinnen und Bürger, dass jeder Mitgliedstaat Mindestrenten einführt, die den Lebensstandard, die Armutsgrenze und die Kaufkraft im jeweiligen Land berücksichtigen. In den Forderungen der Konferenz zur Zukunft Europas wird deutlich, dass die nationalen Kompetenzen der Mitgliedstaaten nicht geändert werden sollen. Es besteht aber der Wunsch nach einer stärkeren Angleichung von arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen. Das Projekt Europa soll sozialer, einheitlicher und greifbarer werden. Die Mitgliedsländer sehen dies sicherlich etwas kritischer.

Gesundheit: Mehr Kompetenz für Europa gefordert

Anders sieht es hingegen bei den Forderungen der Bürgerinnen und Bürger im Bereich Gesundheit aus: Im Abschlussbericht sprechen sie sich explizit für mehr Befugnisse in der Gesundheitspolitik auf europäischer Ebene aus. Aktuell liegt die Kompetenz zur Gestaltung des Gesundheitssystems bei den Mitgliedstaaten (Art. 168 AEUV). Das heißt, dass die Organisation der Gesundheitspolitik national geregelt wird und die EU eine ergänzende, koordinierende und unterstützende Rolle einnimmt. Die EU hat durch Art. 168 AEUV nur eingeschränkte Handlungsfelder, in denen sie tätig werden kann, zum Beispiel bei der Bekämpfung weit verbreiteter Erkrankungen oder bei der Kooperation bei der Abstimmung der Gesundheitsversorgung in grenznahen Regionen. Sollte die Forderung nach größeren Befugnissen auf europäischer Ebene umgesetzt werden, würde dies eine Änderung der EU-Verträge mit sich ziehen.

Außerdem fordern die Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmer, dass die Abhängigkeit von Drittländern bei Medizinprodukten und Arzneimitteln verringert wird. Auf der Wunschliste stehen des Weiteren Themen wie Lebensmittelkennzeichnung, Reduzierung von Antibiotikaresistenzen sowie gemeinsame Mindeststandards bei der Gesundheitsversorgung in allen EU-Ländern.

Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips

In dem Abschlussbericht forderten die Bürgerinnen und Bürger auch die Stärkung des Europäischen Parlaments. Es soll noch mehr in die Gesetzgebungsprozesse eingebunden werden. Zwar kann das Parlament Initiativen anstoßen, bleibt aber von dem guten Willen der Europäischen Kommission abhängig, ob ein Thema durch die Veröffentlichung eines Gesetzesvorschlags vorangetrieben wird. Zudem soll das Einstimmigkeitsprinzip im Rat bei den Themen Außen-, Sozial-, Steuer- oder Haushaltspolitik sowie bei Sanktionen wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit abgeschafft werden. Die vollständigen Forderungen der Konferenz zur Zukunft Europas sind hier zu finden.

So geht es weiter

Mehr Kompetenzen in der Gesundheitspolitik und die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips würden Änderungen der EU-Verträge mit sich bringen sowie die Einberufung eines Konvents.

Eine Änderung der EU-Verträge ist aktuell eher unwahrscheinlich und wurde seitens der Kommission ausgeschlossen. In einem veröffentlichten Non-Paper erinnerten 13 EU-Mitgliedstaaten daran, dass alle Beschlüsse im Rahmen der festgelegten Kompetenzverteilung und unter Wahrung von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit gefasst werden. Eine Vertragsänderung war nie das Ziel, so die unterzeichneten Mitgliedstaaten.

Grundsätzlich geben die Empfehlungen der Konferenz sowie die derzeitige Lage durch die COVID-19-Pandemie und den Ukrainekrieg genügend Anlass, das politische Miteinander in der Europäische Union neu zu überdenken. Ob sie auch neu strukturiert werden sollte, muss sich erweisen.

Die EU-Kommission, der Rat und das Europäische Parlament prüfen nun, wie und welche der Vorschläge weiterverfolgt werden können. Erste Ergebnisse werden im Herbst 2022 erwartet. Dann soll es für die beteiligten Bürgerinnen und Bürger eine Feedback-Veranstaltung geben. Dazwischen wird es auf Ebene der europäischen Institutionen erste bilaterale Verhandlungsrunden geben, um die Positionen festzulegen.