Sozialausgaben in Deutschland
Der aufgeblähte deutsche Sozialstaat - Mythos oder Wahrheit?
VS – 04/2024
Angesichts
knapper Kassen wird die Frage laut, ob es Deutschland mit den Sozialleistungen
übertreibt. Ist der deutsche Sozialstaat zu aufgebläht? Eine Studie des
gewerkschaftsnahen Instituts für
Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) geht
dieser Frage nach. Anhand von Daten der Organisation für wirtschaftliche
Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) zeigen Sebastian Dullien und Katja
Rietzler, dass dies nicht zutreffend ist. Seit dem Jahr 2022 war nur in den
Niederlanden und in Griechenland der Anstieg der öffentlichen Sozialausgaben niedriger
als in Deutschland. Laut OECD liegt auch der Anteil der Nettosozialausgaben am
Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Frankreich und den USA deutlich über dem in
Deutschland.
Moderater Anstieg
Im
Jahr 2019 hat das Sozialbudget in Deutschland erstmals die Marke von einer
Billion Euro übersprungen. Seitdem erreichen die Sozialausgaben immer neue
Rekordwerte. Problematisch an dieser Argumentation ist, dass die „Rekorde“ bei
nominalen Geldbeträgen keine große Aussagekraft haben. Im Bericht wird zu Recht
darauf hingewiesen, dass beispielsweise die Renten an die Lohnentwicklung
gebunden sind. Steigende Löhne führen somit zu einem Anstieg der
Rentenzahlungen. Um festzustellen, ob die Sozialausgaben angestiegen sind, ist
daher der preisbereinigte Anstieg zugrunde zu legen. Anhand der Daten der OECD
sind in Deutschland die öffentlichen Sozialausgaben zwischen 2002 und 2022 um
26 Prozent gestiegen. Im Vergleich der OECD-Länder ist dies ein moderater
Anstieg. So verzeichnen Neuseeland, Island, Irland, Polen und Luxemburg in
diesem Zeitraum einen Anstieg von über 100 Prozent und in weiteren 17 OECD-Ländern
liegt dieser über 50 Prozent.
Anteil am BIP bleibt gleich
Bei
der Frage, ob sich Deutschland diesen Anstieg der Sozialausgaben leisten kann, lohnt
sich der Blick auf die Entwicklung des Anteils der Sozialausgaben am BIP. Nach OECD-Angaben ist der Anteil der öffentlichen Sozialausgaben am BIP zwischen 2002 und 2019
mit 25,6 Prozent konstant geblieben. Infolge der Covid-19-Pandemie ist dieser
zwischenzeitlich auf fast 30 Prozent angestiegen, sank dann aber 2022 wieder auf
26,7 Prozent. Der temporäre pandemiebedingte Anstieg entspricht dem
durchschnittlichen Verlauf in der OECD. Vergleicht man den Anteil der
öffentlichen und privaten Nettoausgaben für Soziales am BIP mit den aktuellen
Zahlen für das Jahr 2019, ist deren Anteil in Frankreich und in den Vereinigten
Staaten mit etwa 30 Prozent am höchsten. Deutschland, Belgien und die
Niederlande bilden mit gut 25 Prozent die Gruppe mit den nächsthöchsten
Anteilen. Aber auch in der Schweiz ist der Anteil der Nettosozialausgaben mit
24 Prozent nicht wesentlich niedriger.
Internationaler Vergleich
Die Zahlen
sagen jedoch noch nichts darüber aus, ob die Sozialausgaben in Deutschland
besonders hoch oder niedrig sind. Für einen Vergleich der Sozialausgaben mit
anderen OECD-Staaten genügt es nicht, nur die öffentlichen Sozialausgaben zu
betrachten. In Ländern wie der Schweiz, den Niederlanden oder den Vereinigten
Staaten überwiegen private Krankenversicherungen, die weitgehend verpflichtend
sind. Im Bericht wird dabei betont, dass es gesamtwirtschaftlich irrelevant ist,
ob man verpflichtend in einer privaten oder gesetzlichen Krankenversicherung
versichert ist. Zudem seien die unterschiedlichen Steuersysteme zu
berücksichtigen. Die steuerliche Behandlung von Sozialausgaben variiert stark.
Daher weist die OECD die Nettosozialausgaben
am BIP aus.
Die Höhe sagt noch nichts über deren Wirkung aus
Im
Rahmen ihren vergleichenden
Analysen zu Sozialausgaben betont die OECD, dass mehr Sozialausgaben durch
private Einrichtungen und steuerliche Regelungen, die zu einer größeren
länderübergreifenden Gleichheit der Ausgabenniveaus führen, nicht unbedingt
mehr Umverteilung und Solidarität bedeuten. Arbeitnehmer mit niedrigem
Einkommen haben häufig gar keinen Zugang zu privaten Sozialleistungen. Und Steuervorteile
kommen den Wohlhabenden in der Regel mehr zugute als den Geringverdienern.