Verschiedene Wege führen zu Qualität und Standards
ed* Nr. 03/2017 – Kapitel 2
Drei parallele „Schöpfungswelten“ leisten ihren Beitrag zum Zustandekommen von einheitlichen Vorgaben im weitesten Sinne. Die erste Welt ist zugleich die vertrauteste: Gesetze und nachgeordnete Rechtsnormen, Richtlinien usw. Diese Welt ist allerdings nicht der Normalfall, vor allem dann, wenn es um die Standardisierung von materiellen Gütern geht.
Stattdessen hat der Gesetzgeber seine Steuerungsfunktion weit in Gesellschaft und Wirtschaft zurückverlagert und eine zweite Regulierungsebene geschaffen. Staatlich anerkannte, aber private Normierungsinstitute, wie z. B. das Deutsche Institut für Normung (DIN), entwickeln auf Initiative von z. B. Wirtschaftskreisen in einem komplizierten Verfahren technische Normen und Standards. Ihre Nutzung durch die Wirtschaftsteilnehmer ist (zunächst einmal) freiwillig. Dafür bleiben sie aber geistiges Eigentum der Standardisierungsinstitutionen. Der Zugang zur Normungsarbeit und der Erwerb von Normen sind gebührenpflichtig.
Schon an dieser Stelle muss auf die unterschiedlichen Pfade hingewiesen werden, denen die Standardisierung von Gütern einerseits und die von Dienstleistungen andererseits folgt. Sie haben, wie sich noch zeigen wird, Konsequenzen für die Positionen und Forderungen der deutschen Sozialversicherung. Ob greifbare Güter einem bestimmten Standard entsprechen, wird z. B. bei den meisten Medizinprodukten im Wege des „Konformitäts-Bewertungsverfahrens“ von akkreditierten Stellen entschieden; in Deutschland sind dies in der Regel die (dezentralen) Technischen Überwachungsvereine (TÜV). Der Blick liegt hierbei auf dem Ergebnis des Produktionsprozesses und weniger auf diesem selbst. Anders verhält es sich bei Dienstleistungen. Sie lassen sich nicht auf demselben Wege beobachten wie anfassbare Güter. Oft fallen, wie zum Beispiel bei Gesundheitsleistungen, Produktion und Verbrauch zeitlich zusammen. Der Schwerpunkt der Qualitätssteuerung liegt dann auf der Überprüfung der Einrichtung, ihrer Ausstattung, der Qualifikation der Leistungserbringer und der inneren Prozessabläufe. Stehen diese im Einklang mit den Beschreibungen in einem Standard, so erfüllt die Einrichtung die Voraussetzung einer „Zertifizierung“. Derartige Zertifikate können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Austauschbarkeit von Dienstleistungen untereinander aus Verbrauchersicht viel fragwürdiger ist als die Austauschbarkeit von Gütern.
Nur zur Vervollständigung sei auf den dritten Weg hingewiesen: Wirtschaftsteilnehmer und sonstige interessierte Kreise können sich von Fall zu Fall auf Spezifikationen in Form von „codes of conduct“ oder „good practices“ verständigen, ohne den Weg über Standardisierungsinstitutionen wie DIN oder CEN zu nehmen. Auch hier spricht man oft von Qualitätsstandards, wobei es sich eben nicht um Normen im engeren Sinne handelt. Mit der Globalisierung der Waren- und Dienstleistungsströme verschiebt sich auch die formale Standardisierung auf die globale Ebene. In Europa ist es die Normung, die den Boden für den Binnenmarkt bereitet. Auch hier findet man den Dualismus von gesetzlicher Regelung und formaler technischer Standardisierung. Es ist allgemein bekannt, dass der europäisch harmonisierte Rechtsrahmen keinen Raum mehr für abweichende nationale Regeln lässt. Weniger bekannt ist, dass europäische Normen des European Committee for Standardization (CEN) abweichende nationale Normen verdrängen, soweit diese von formellen nationalen Standardisierungsinstituten wie DIN erlassen wurden. Ihre Befolgung ist jedoch freiwillig. Ebenso können europäische „Standards“ kein nationales Recht verdrängen; dieses ist übergeordnet. Jedoch ist schon an dieser Stelle erkennbar, dass Europa seinen Binnenmarkt nicht nur gesetzlich „reguliert“, sondern auch die Selbstorganisation der Marktteilnehmer auf die europäische Ebene lenkt. Die beiden „Schöpfungswelten“ – Rechtsetzung und technische Standardsetzung – überschneiden bzw. ergänzen sich vollends, wenn eine europäische Norm im Auftrag der Europäischen Kommission veröffentlicht wird. Man spricht hier auch von einem Auftrag zur Schaffung „harmonisierter europäischer Normen“. Diese verdrängen dann nationale technische Normen im gleichen Bereich.
Die Nutzung europäischer Normen ist zunächst freiwillig, sie kann aber durch vertragliche Regelungen oder durch Inbezugnahme in Gesetzen verbindlich werden. Im Rahmen des europäischen Binnenmarktes wird Druck ausgeübt, bei öffentlichen Beschaffungsvorgängen möglichst auf standardisierte Güter zurückzugreifen. Ferner werden nationale Aufsichtsbehörden ermutigt, Güter anhand des Maßstabs der Einhaltung von formellen europäischen Normen zu kontrollieren.
Qualitätsdefinition und -sicherung in Deutschland: Verantwortung in der Hand der Selbstverwaltung
In Deutschland wird die Qualität der medizinischen und rehabilitativen Versorgung durch untergesetzliche Leitlinien und Richtlinien, auf vertraglicher Basis und in enger Kooperation zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern gesteuert und gesichert. Dies geschieht durch vielfältige, aufeinander abgestimmte Instrumente. Eine besondere Rolle nimmt hierbei die Selbstverwaltung ein. Im Gemeinsamen Bundesausschuss zum Beispiel beschließen Vertreter von Krankenkassen, Ärzten und Krankenhäusern Richtlinien über die medizinische Versorgung und die Qualitätssicherung. Ferner werden von der ärztlichen Selbstverwaltung, Berufsverbänden und medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften evidenzbasierte Leitlinien entwickelt. Ähnliches gilt für die Setzung von Qualitätsstandards im Bereich der ambulanten, stationären und rehabilitativen Versorgung Arbeitsunfallverletzter. Die von der Deutschen Rentenversicherung erbrachten medizinischen und beruflichen Rehabilitationsleistungen unterliegen einer komplexen und kontinuierlichen internen und externen Qualitätssicherung.
Auf diesem Wege hat die deutsche Sozialversicherung auch ohne Einschaltung technischer Normungsinstitute zahlreiche Instrumente entwickelt, um das Ziel einer möglichst hohen Versorgungsqualität zu gewährleisten.