Neue Regeln für Hochrisiko-Medizinprodukte sollen in der EU die Sicherheit von Patientinnen und Patienten erhöhen und gleichzeitig einen raschen Zugang zu innovativen Lösungen im Bereich der Gesundheitsversorgung gewährleisten.

MS/MD – 03/2017

Neue EU-Vorschriften für Medizinprodukte

Fünf Jahre haben die Verhandlungen zum Abschluss der neuen Verordnungen für Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika gedauert. Nachdem sich bereits im vergangenen Jahr das Europäische Parlament, der Ministerrat und die Europäische Kommission im Rahmen von informellen Trilog-Verhandlungen auf einen Kompromiss geeinigt hatten, haben im März 2017 die Gesundheits- und Sozialminister dem redaktionell überarbeiteten Texten und heute auch das Europäische Parlament formal zugestimmt.  

 

GKV: Reform des Medizinprodukterechts war überfällig

Die Skandale um korrodierende Metall-auf-Metall-Hüftprothesen, brechende Defibrillator-Sonden und gesundheitsgefährdende Silikonbrustimplantate machten deutlich, dass dringender Handlungsbedarf bestand, das Medizinprodukterecht zu modernisieren. Für die gesetzlichen Krankenkassen war klar, dass strengere Regeln für den Marktzugang und die Prüfung von Hochrisiko-Medizinprodukten, eine deutlich verbesserte Transparenz und klarere Informationspflichten sowie eine strengere Marktüberwachung notwendig sind, um die Patientensicherheit nachhaltig zu verbessern. Mit diesen Forderungen hatten die Krankenkassen sich in den europäischen Gesetzgebungsprozess mit Expertise und verschiedenen Stellungnahmen eingebracht.  

Marktzugang

Im Gegensatz zu Arzneimitteln gibt es für Medizinprodukte kein behördliches Zulassungsverfahren. Stattdessen sind privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen, sogenannte benannte Stellen, für die Begleitung der Marktzugangsverfahren zuständig, die ihrerseits im Wettbewerb zueinander stehen. Medizintechnikhersteller konnten in der Vergangenheit unter bis zu neunzig dieser Unternehmen europaweit frei wählen und auch mitten im Bewertungsprozess wechseln. Das mag bei Produkten mit niedrigem Anwendungsrisiko (z.B. Fieberthermometer und Mundspatel) angemessen sein, für Hochrisikoprodukte ist es das nicht. Im Sinne der Patientensicherheit forderte die GKV daher deutliche Verschärfungen. 

 

Ein behördliches zentrales Zulassungsverfahren wie für Arzneimittel war politisch nicht durchsetzbar. Allerdings wurden Regeln und Kontrollmaßnahmen durchgesetzt, welche die Qualität der benannten Stellen europaweit vereinheitlichen sollen. 

Klinische Prüfung

Nach bisher geltendem Recht können Hochrisiko-Medizinprodukte auf den Markt gebracht werden, ohne dass sie in eigenen klinischen Prüfungen an Patientinnen und Patienten auf ihre Wirksamkeit hin überprüft wurden. Stattdessen reicht eine reine Literaturbewertung mit dem Verweis, dass das neue Medizinprodukt „gleichartig“ zu einem bereits auf dem Markt befindlichen ist. Und wenn doch klinische Prüfungen für den Marktzugang durchgeführt werden, sind sie in der Regel nicht geeignet, Aussagen über den tatsächlichen patientenrelevanten Nutzen zu generieren.  

 

Verbesserungen in diesem Bereich waren für die GKV von essenzieller Bedeutung, denn unzureichend geprüfte Produkte können ein erhebliches Sicherheitsrisiko darstellen. Entsprechend nachdrücklich hat die GKV die politischen Entscheidungsträger auf den Handlungsbedarf hingewiesen. 

 

Die neue Verordnung sorgt hier für deutliche Verbesserungen. Erstens darf bei Hochrisiko-Medizinprodukten künftig nur in sehr wenigen und gut begründeten Ausnahmefällen auf eine klinische Prüfung verzichtet werden. Zweitens dürfen Hersteller ihre Medizinprodukte nur für Anwendungsfelder auf den Markt bringen, für die sie in einer klinischen Bewertung die klinische Leistungsfähigkeit nachgewiesen haben, zu der auch der Nachweis des patientenrelevanten Nutzens gehört. Die „Zweckbestimmung“ eines Medizinprodukts darf also künftig nicht über den klinisch bewerteten Rahmen hinausgehen. 

Transparenz

Nach geltendem Recht sind nahezu keine Daten über Hochrisiko-Medizinprodukte verpflichtend öffentlich zugänglich. Weder lässt sich herausfinden, welche Produkte konkret auf dem Markt verfügbar sind, noch gibt es eine Verpflichtung, die wesentlichen Daten der klinischen Bewertung von Hochrisiko-Medizinprodukten zu veröffentlichen. Die GKV hat darauf hingewirkt, dass besonders in diesem Bereich Verbesserungen vorgenommen werden. 

 

Die Regelungen der neuen Verordnung sorgen für mehr Klarheit: Mit dem Ausbau der europäischen Datenbank EUDAMED wird es künftig für Jedermann möglich sein, sich einen Überblick über die europaweit verfügbaren Medizinprodukte zu verschaffen und bei Implantaten und Produkten der Klasse III Informationen über die klinische Bewertung zu erhalten. 

Marktüberwachung

Nach geltendem Recht ist die Marktüberwachung eine wichtige Aufgabe der Behörden in Europa, die jedoch föderal geregelt ist. Entsprechend uneinheitlich findet die Marktüberwachung statt. Da es kein zentrales Produktregister gibt und die Hersteller weitgehend im eigenen Ermessen Marktbeobachtungsstudien durchführen, ist die behördliche Marktüberwachung letztlich auf Vorkommnismeldungen von Herstellern und Anwendern angewiesen. Auch dieses Defizit wurde von der GKV sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene klar benannt. 

 

Die neue Verordnung sieht in diesem Bereich Verbesserungen vor. So wird beispielsweise eine Produktkennung eingeführt, die eine Rückverfolgbarkeit einzelner Produkte ermöglichen wird. Benannte Stellen werden ermächtigt, Herstellern klare Vorgaben zur Durchführung von Marktüberwachungsstudien zu machen. Ferner wird angeregt, für bestimmte Produktarten europaweit Implantateregister zu etablieren, um Langzeitdaten über Sicherheit und Haltbarkeit der implantierten Medizinprodukte zu erhalten.  

Offene Fragen

Auf dem Papier sind also, wie dargestellt, deutliche Fortschritte hin zu mehr Patientensicherheit erkennbar. Ob diese allerdings umgesetzt und in der Zukunft „gelebt“ werden, wird sich erst zeigen. So sind beispielsweise viele Regelungen davon abhängig, dass die Datenbank EUDAMED die vorgegebenen Anforderungen erfüllt und rechtzeitig ihren Betrieb aufnehmen kann. Hier ist ein klarer politischer Wille notwendig. Eine weitere Herausforderung wird sein, dass viele Regelungen der Verordnung allgemein gehalten sind und durch Rechtsakte konkretisiert werden müssen. Die GKV wird auch diesen Prozess aufmerksam verfolgen und sich einbringen, um die Verordnung zu einem Erfolg für die Patientensicherheit zu machen.  

Die nächsten Schritte

Die nun formal angenommenen Rechtsvorschriften werden in den kommenden Tagen im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Die neuen Vorschriften für Medizinprodukte werden drei Jahre nach ihrer Veröffentlichung zur Anwendung kommen, die für In-vitro-Diagnostika fünf Jahre nach ihrer Veröffentlichung. Sie ersetzen die bestehende Richtlinie 90/385/EWG über aktive implantierbare Medizinprodukte, die Richtlinie 93/42/EWG über Medizinprodukte sowie die Richtlinie 98/79/EG über In-Vitro-Diagnostika. 

 

Hier finden Sie die neuen Vorschriften zu Medizinprodukten und In-vitro-Diagnostika.  

 

Die Position des GKV-Spitzenverbandes zu notwendigen Reformen des Medizinprodukterechts finden Sie hier.