Angesichts der digitalen Revolution im Gesundheitsbereich ist es unerlässlich, an allgemeinen, solidarischen, inklusiven und nicht diskriminierenden Krankenversicherungssystemen festzuhalten.

GD – 10/2017

In einer Initiativstellungnahme hat der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss zum Themenbereich „digitale Revolution im Gesundheitswesen“ mit den denkbaren Auswirkungen auf die Krankenversicherung Position bezogen. 

Digitalisierung ersetzt kein Sozialsystem

Der von dem belgischen Experten aus dem Bereich der Krankenversicherung (KV), Alain Coheur, initiierte Bericht kommt darin u.a. zu dem Schluss, dass es angesichts der absehbaren Einwirkungen der „digitalen Revolution“ unerlässlich sei, am allgemeinen, solidarischen, inklusiven und nicht-diskriminierenden KV-System festzuhalten. Insbesondere dem „gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen“ wird hohe Bedeutung zuerkannt. Neben einer Reihe von technischen Erfordernissen – darunter z.B. einer „kongruenten territorialen Abdeckung unter Berücksichtigung digital unterversorgter Gebiete“ sollte auch die „digitale Kluft“ bei den Anwendungsmöglichkeiten zwischen den Bürgern, den Angehörigen der Gesundheitsberufe und den Akteuren der sozialfinanzierten Kostenträgersysteme als Bedingung für eine lebensnahe Umsetzung der „digitalen Revolution“ begriffen werden.  

EU-weite Vernetzung und echte Datensicherheit

Weiterhin sei die „Interoperabilität der gesamten digitalen Architektur - z.B. Datenbanken und medizinische Geräte, eine beachtenswerte Anforderung. Ausdrücklich nimmt die Stellungnahme Bezug auf die Interessen eines „Schutzes der Gesundheitsdaten“, die „keinesfalls zum Nachteil der Patienten verwendbar sein dürften. In diesem Zusammenhang bezieht sich die Stellungnahme ausdrücklich auf das Problem einer „überhöhten Eigenverantwortung“ für diejenigen Bürger, die sich künftig um ihr „individuelles Gesundheitsmanagement“ bemühten. Konkret erwähnt werden dabei die Themen „prädikative Medizin“ in Verbindung mit vernetzten Geräten und der absehbaren Menge an Informationen über die Gesundheitsrisiken des Individuums. Gerade die Individualisierbarkeit von Gesundheitsrisiken und individuelle Ungleichheiten würden etliche ethische Fragen aufwerfen. Mithin solle die „Digitalisierung“ ein „Mittel zur Stärkung der individuellen und kollektiven Fähigkeiten „ darstellen. 

Elektronische Patientenakte und Individualisierung der Gesundheit

Nach Auffassung des EWSA ist die Individualisierung der Gesundheit stark mit der Digitalisierung verbunden. Die „elektronische Patientenakte“ rücke mithin in den Fokus der medizinischen Versorgung. Daten könnten in Zukunft nicht mehr nur beim Dienstleister, sondern theoretisch auch auf Servern außerhalb Europas gespeichert sein. Hierbei sei offen, inwieweit der gewünschte Datenschutzgrad sicherzustellen sei. Unstreitig sei hingegen, dass zusammengeführte Daten wichtige Fortschritte bei der Erforschung und Heilung von Krankheiten brächten, heißt es. Die dynamische Entwicklung hin zur Personalisierung von Medizin und Behandlung werde wesentlich durch die Informationsquellen „Genom-Entschlüsselung“ mit deren innewohnenden „prädikativen“ Möglichkeiten eine „völlig neue Dimension“ für die bisherige Präventivmedizin erschließen. Darüber hinaus ergäben sich weitere Durchbrüche aus den E-Health-Geräten, darunter insbesondere „vernetzten Objekten“, die in die Gruppe der Selbstvermessung „fielen und dem Anwender Augenblicksinformationen zu seinem Gesundheitszustand vermittelten.  

 

Als Frage leitet die Stellungnahme u.a. ab, inwieweit die „Krankenversicherung von morgen“ durch die Genomentzifferung wahrscheinlich gewordene Erkrankungsrisiken vorzeitig auffangen könne. Auch das KV-Management von morgen sei, etwa durch Massendatenverarbeitung in neuer Dimension – „Big Data“ betroffen. Das Spektrum ginge jedoch weiter und solle ggf. die Erstattungsspielräume für die Kostenträger erweitern. Ausdrücklich verweist der Bericht auf „digitale Disruptoren“, darunter das Risiko, dass am Weltmarkt tätige Multis im Datengeschäft „die Kontrolle“ über die bedingte Kontrolle über etliche solcher Datenverarbeitungsprozesse übernehmen könnten. 

 

 

Zukunftsbotschaft im globalisierungsgläubigen Zeitalter

Kritiker ordnen diese Stellungnahme in eine Reihe früherer Äußerungen aus dem EU Umfeld ein. Ihnen gemein seien demnach eine weitgehende Definitionslosigkeit des Begriffes „Digitale Revolution“, insbesondere, wenn es um Bewertungsansätze realistischer Praxisumsetzung und nicht nur Hochrechnungen des eventuell technisch Machbaren gehe. Das in verschiedenen, offenbar praktisch nicht lösbaren, Zukunftsproblemen gefangene EU-Modell setze mit der argumentativen Dramatik, die dem technischen Fortschritt in der Anwendung digitaler Prozesse zugemessen werde eine verheißungsvolle Zukunftsbotschaft im globalisierungsgläubigen Zeitalter.  

 

Angesichts real existierender Systemkrisen in der Bewirkung des in vielen EU-Sozialmodellen sozialrechtlich Versprochenen infolge der unbewältigten Staatsverschuldung, sei dies nun ein zu Taten und Plänen verlockendes Thema. Gerade die Vielschichtigkeit mache jedoch enge und alltagsnahe Definitionen unverzichtbar. Wer, wie etwa das Sozialsystem Griechenlands oder Lettlands, aber auch viele andere, alltägliche Versorgungsleistungen ins private Risiko abdrängt, weil die verfügbaren Mittel nicht reichten, könne kaum an der schon investitionsseitig teuren digitalen Wunderwelt von morgen teilhaben.  

 

Auch die unterschiedlich belastbare Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU-Staaten erschwere es, deutsche Rechtssicherheitsvorstellungen auf andere EU-Welten zu übertragen. Mithin hätte die breit geforderte „Interoperabilität“ der vernetzten Systeme erhebliche Lücken, gerade für Patienten, die unser Niveau gewohnt seien.  

Fördert eine EU-weite Digitalisierung standardisierte Ablaufprozesse?

Überdies erfordere eine EU-weite Digitalisierung mit alltagsrelevanter Verbesserung von Datenflußsteuerung und Informationsprozessen eine Reihe völlig standardisierter Ablaufprozesse, sowohl im medizinischen, als wohl auch im sozialrechtlichen Ablaufgeschehen. Die einheitliche Sozialversicherungsnummer – problematisch, wie sie aus deutscher Sicht ist, - stünde dabei wohl eher am Anfang.  

 

Unter dem Begriff der „Individualisierten Medizin“ schließlich begegneten dem Betrachter eine ganze Reihe alter Bekannter. Darunter im Bereich Pharma einst als „Cluster-Medizin“ gepriesene Ansätze zum verstärkten Absatz angeblich „auf das Individuum“ – oder -Kohorten davon - zugeschnittener, jedenfalls patentgeschützter und mithin teurer Arzneimittel, für die dann jedenfalls die ungeliebten „Head-to Head-Studies“ zum bestehenden „Standard“ als Wirksamkeits- und Verbesserungsnachweis schwierig erbracht werden könnten. 

Chancen und Risiken der Genomdechiffrierung

Sämtliche Fragen um die Chancen und Risiken der Genomdechiffrierung und der daraus ableitbaren individuellen Erkrankungsvorhersagen wären datenschutzrechtlich völliges Neuland. Fest steht, einmal in falschen Händen wären die Folgen kaum absehbar. Eine daraus u.U. ableitbare regelhafte Labordiagnose oder gar Prophylaxe Behandlung würde in der Tat die Frage aufwerfen, wo „Gesundheit“ aufhört und „Behandlungsbedürftigkeit“ beginnt. Die ökonomischen Folgen seien jedenfalls nicht ohne Gewicht. Es geht nicht um das „Ob“, sondern allenfalls um das „Wie“, wenn die Möglichkeiten künftiger Datentechnik und Sozialschutz weiterentwickelt werden sollen. Hierzu stellten Kirchenvertreter fest, dass trotz aller gewaltigen Fortschrittsvisionen, der schwerkranke und vor allem sterbliche Mensch gewiss der Teilhabe an der Zukunftstechnik bedarf. Sie könne jedoch gerade in den seelisch schweren Momenten einer ernsten Krankheit das emotionale Bedürfnis nach menschlicher Zuwendung gerade durch Ärzte und Pflegepersonal kaum ersetzen. Auch hier gäbe es europaweiten Diskussionsstoff, natürlich weit weg von den ökonomischen Visionen der verschiedenen digitalen Entwicklungsebenen, jedenfalls wenn man die Anzahl der entsprechenden Themenkongresse zugrunde legt.