Stehen wir 20 Jahre nach der Sondertagung des Europäischen Rates über Beschäftigungsfragen in Luxemburg heute wieder vor den gleichen Fragen?

BG/IW – 11/2017

Jean-Claude Juncker, damals luxemburgischer Ministerpräsident, hatte im Herbst 1997 die Staats-und Regierungschefs der Europäischen Union zum Beschäftigungsgipfel eingeladen. Auch heute noch ist Juncker, nun in seinem Amt als Kommissionspräsident, die Stärkung der sozialen Union ein Anliegen. Deswegen hat er das Projekt einer „Europäischen Säule sozialer Rechte“ auf den Weg gebracht.  

 

Am 17. November 2017 war es dann soweit: Nach langwierigen Konsultationen und Verhandlungen haben die Staats- und Regierungschefs, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission in Göteburg die Proklamation der Europäischen Säule sozialer Rechte unterzeichnet. Sie soll die politische Bedeutung des Projekts und das Bekenntnis der Unterzeichner zu der Initiative noch einmal betonen. 

Was steckt hinter der Initiative?

Schon heute verfügen die Mitgliedstaaten der EU über die fortschrittlichsten Sozialsysteme der Welt. Doch die Union muss sich nie da gewesenen gesellschaftlichen Herausforderungen stellen und diesen anpassen. Obwohl sich die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in Europa verbessert haben und sich die Beschäftigung auf einem Höchststand befindet, bleiben die Folgen der Krise des vergangenen Jahrzehnts weiter deutlich spürbar. Sie reichen von Langzeit- und Jugendarbeitslosigkeit bis zu Armutsrisiken in weiten Teilen Europas. 

 

Als einen ersten Schritt dahin, „es in Zukunft besser zu machen“ ist die bereits im vergangenen Jahr vorgestellte Idee, eine Europäische Säule sozialer Rechte zu schaffen, zu verstehen. Die Europäische Kommission erhofft sich damit ein neues Gleichgewicht zugunsten eines sozialeren Europas herzustellen. Denn nur ein soziales Europa, das sich positiv auf das tägliche Leben der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Familien auswirkt, hat eine Chance, das Vertrauen der europäischen Bürger in die Union zurückzugewinnen. 

 

Nach einem breit angelegten Konsultationsprozess, an dem sich auch die Spitzenorganisationen der deutschen Sozialversicherung mit einer Stellungnahme beteiligt haben, hat die Europäische Kommission am 26. April 2017 den Text zur Europäischen Säule sozialer Rechte veröffentlicht. 

Zwanzig Grundsätze und Rechte sollen helfen

Die Europäische Säule sozialer Rechte soll „bei der Reaktion auf die derzeitigen und künftigen Herausforderungen als Kompass für effiziente beschäftigungspolitische und soziale Ergebnisse dienen, die unmittelbar die wesentlichen Bedürfnisse der Menschen berücksichtigen“. Sie soll „als Richtschnur dazu beitragen, dass soziale Rechte besser in konkrete Rechtsvorschriften umgesetzt und angewandt werden“.  

 

Hierzu hat die EU-Kommission in der „Säule“ durch die Erstellung von zwanzig Grundsätzen und Rechten bereits in der EU und international bestehende rechtliche Besitzstände bestätigt sowie zur Berücksichtigung neuer Realitäten ergänzt. Sie sind als eine Art „Empfehlung“ an die Mitgliedstaaten gerichtet. 

 

Einige sind auch für die deutsche Sozialversicherung von Interesse, so soll zum Beispiel mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, auch denen aus atypischen Arbeitsverhältnissen, eine sichere und anpassungsfähigere Beschäftigung (Grundsatz Nr. 5), ein angemessenes Einkommen (Grundsatz Nr. 6) und der Zugang zu sozialer Sicherung (Grundsatz Nr.12) ermöglicht werden. Das Recht auf hohe Gesundheitsschutz- und Sicherheitsniveaus (Grundsatz Nr.10) ist für alle Erwerbstätigen sicherzustellen. Menschen mit Behinderungen (Grundsatz Nr.17) sind berechtigt, Einkommensbeihilfen und Dienstleistungen, die ihnen die Teilhabe am Arbeitsmarkt und am gesellschaftlichen Leben ermöglichen, zu erhalten. Die bezahlbare und hochwertige Langzeitpflege (Grundsatz 18) ist zur gewährleisten. Zudem hat die Alterssicherung auf einem Niveau zu erfolgen, das ein würdevolles Leben im Alter (Grundsatz Nr.15) sicherstellt. 

 

Dabei geht es aber um nicht mehr als um allgemeine Prinzipien und nicht, wie man nach dem Wortlaut meinen könnte, um einklagbare Rechte. Darauf hatte auch der Juristische Dienst der Europäischen Kommission hingewiesen und unterstrichen, dass es sich bei der Proklamation nur um einen atypischen Rechtsakt handelt, der nicht rechtsverbindlich und keine unmittelbar durchsetzbaren Rechte begründet. Eine entsprechende Klarstellung des unverbindlichen Charakters in der Präambel der Säule wurde deswegen auf Wunsch zahlreicher Mitgliedstaaten während der Diskussionen im Rat aufgenommen. Ob und inwieweit die Proklamation in der Zukunft indirekte Rechtsfolgen entfalten kann, bleibt abzuwarten. Zumindest in der Vergangenheit hatte der Europäische Gerichtshof bei der Auslegung allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts im Sinne des Artikel 6 Absatz 3 EUV ähnliche Dokumente herangezogen.  

 

Für die Juncker-Kommission war es aber zumindest schon mal ein kleiner Erfolg, dass die Mitgliedstaaten sich geschlossen hinter die von der Kommission formulierten zwanzig Grundsätze und Rechte gestellt haben und lediglich Änderungen in der Präambel gefordert hatten. 

Wie geht es weiter?

Verschiedene Grundsätze und Rechte, die Teil der Europäischen Säule sozialer Rechte sind, erfordern weitere legislative und nichtlegislative Initiativen, damit sie wirksam werden. Erste Initiativen, die die Säule mit Leben füllen sollen, hat die Brüsseler Behörde bereits vorgelegt. Hierzu zählt unter anderem ein Gesetzesvorschlag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Eltern und pflegende Angehörige. Auch zur Arbeitszeitrichtlinie hat sie ein Dokument vorlegt, welches die bestehenden Regelungen und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeitrichtlinie interpretiert. Zu der auch für die Sozialversicherung interessanten Empfehlung, allen Erwerbstätigen den Zugang zum Sozialschutz zu gewähren, wurden bereits die Sozialpartner befragt. Am 20. November wird die zweite Phase der Sozialpartnerkonsultation veröffentlicht und parallel hierzu eine breit angelegte Befragung der Zivilgesellschaft veröffentlicht. Eine darauf aufbauende europäische Initiative ist für nächstes Jahr angekündigt.  

 

Die Verantwortung für ein wohlhabenderes und zukunftsfähiges Europa kann nach Meinung vieler jedoch nicht als „Entweder-oder“ allein bei der EU oder allein bei den Mitgliedstaaten liegen. Vielmehr handelt es sich um eine gemeinsame Verantwortung, vor allem auch der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft. Die EU kann hier als Impulsgeber für die konkrete Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bürgerinnen und Bürger angesehen werden.