Persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderung auch im europäischen Ausland.

FL/SW – 09/2018

In seinem Urteil vom 25. Juli 2018, Aktenzeichen C-679/16, entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Wege der Vorabentscheidung, dass schwerbehinderten Menschen auch dann eine persönliche Assistenz zustehen kann, wenn sie ein Studium in einem anderen Mitgliedstaat aufnehmen und eine ausschließlich hierauf gestützte Verweigerung nicht mit dem Recht auf Freizügigkeit des Artikels 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vereinbar ist. 

Worum ging es im vorliegenden Fall?

Der schwerbehinderte Kläger hatte in Finnland bei seiner Heimatstadt Espoo, gestützt auf das finnische Gesetz über Dienstleistungen und Unterstützungsmaßnahmen für behinderte Menschen, eine persönliche Assistenz für Verrichtungen des täglichen Lebens, wie zum Beispiel Einkaufen, Putzen oder Wäschewaschen, beantragt. Wegen der Aufnahme eines dreijährigen Jurastudiums würde sich der Kläger an drei bis vier Tagen in der Woche in der estnischen Hauptstadt Tallin aufhalten, an den Wochenenden jedoch nach Espoo zurückkehren. 

 

Der Antrag wurde von der finnischen Behörde nur aus dem Grund abgelehnt, dass der geplante Aufenthalt im Ausland nicht als gelegentlicher Aufenthalt anzusehen sei, auch wenn sich seine Wohnsitzgemeinde nicht ändere. 

Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen

Gegen die Entscheidung der finnischen Behörde legte der Kläger Rechtsmittel ein. Der hiermit befasste finnische Oberste Verwaltungsgerichtshof legte dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor. 

 

Zunächst wollte der Oberste Verwaltungsgerichthof klären, ob die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit Anwendung findet und fragte, ob die persönliche Assistenz für Verrichtungen des täglichen Lebens als „Leistung bei Krankheit“ im Sinne des Artikels 3 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung zu verstehen sei.  

 

Für den Fall, dass die Koordinierungsverordnung keine Anwendung finde, wollte der Oberste Verwaltungsgerichtshof wissen, ob die Verweigerung einer persönlichen Assistenz in einem anderen Mitgliedstaat, in dem der Betroffene ein Studium absolviere, als Beschränkung des allen Unionsbürgern zustehenden Rechts der Freizügigkeit nach Artikel 21 Absatz 1 AEUV zu werten sei. 

Entscheidung des EuGH

Die Richter am EuGH kamen zu dem Schluss, dass eine Leistung, wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende persönliche Assistenz, die u.a. in der Übernahme der durch die täglichen Verrichtungen der Person verursachten Kosten besteht, um dieser wirtschaftlich inaktiven Person eine Studium zu ermöglichen, nicht unter den Begriff der „Leistung bei Krankheit“ i.S. des Artikels 3 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit falle und daher vom Geltungsbereich der Verordnung ausgeschlossen sei.  

 

Ziel der persönlichen Assistenz, so die Richter des EuGH, sei es nicht, den Gesundheitszustand des Betroffenen zu verbessern. Vielmehr diene die persönliche Assistenz dazu, schwerbehinderten Menschen dabei zu helfen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen bei Verrichtungen des täglichen Lebens, bei der Arbeit und im Studium, bei Freizeitbeschäftigungen sowie bei der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und bei der Aufrechterhaltung sozialer Interaktion. 

Ferner entschieden die Richter, dass die Verweigerung einer persönlichen Assistenz ausschließlich aufgrund der Tatsache, dass das Hochschulstudium, das der Kläger aufnehmen wolle, in einem anderen Mitgliedstaat stattfinde, als Beschränkung der jedem Unionsbürger in Artikel 21 Absatz 1 AEUV zuerkannten Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der Union frei bewegen und aufhalten zu können, zu werten sei. 

 

Eine solche Beschränkung lasse sich nur dann rechtfertigen, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen des Allgemeininteresses, wie z.B. dem Schutz des Gleichgewichts des nationalen Systems der sozialen Sicherheit vor überbordenden Ausgaben, beruhen würden. Ferner müssten sie in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimer Weise verfolgten Ziel stehen. Solche, eine Beschränkung der Freizügigkeit rechtfertigenden Elemente, seien im vorliegenden Fall jedoch nicht gegeben.