Internationale „Sozialkasse“ für Plattformarbeiter
Wie kann nationales Recht im globalen Kontext durchgesetzt werden, wenn der Plattformbetreiber im europäischen oder gar im außereuropäischen Ausland sitzt?
Dr.WSW – 10/2018
Dieser Frage ist Prof. Dr. Enzo Weber nachgegangen. Prof. Dr. Enzo Weber, seit dem Jahr 2011 leitender Mitarbeiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und Hochschullehrer an der Universität Regensburg, stellte Vertreterinnen und Vertretern der Deutschen Sozialversicherung in Berlin am 10. Oktober seinen internationalen Lösungsansatz für eine soziale Absicherung der Arbeiter in der Plattform-Ökonomie vor. Er löste eine lebhafte Diskussion aus, in deren Verlauf die ganze Tragweite der Globalisierung der Arbeitsmärkte bewusst wurde.
Weber startete seinen Beitrag mit Zahlen. In Deutschland hätte nach Schätzungen 12% der Bevölkerung irgendwann einmal Plattformarbeit ausgeübt, 6,2% würden dies laufend (pro Woche mindestens einmal) tun; von ihnen würde immerhin ein Viertel die Mehrheit ihres Erwerbseinkommens hieraus beziehen. Die Schätzungen mögen vielleicht etwas übertrieben sein. Eine jüngste Studie des „JP Morgan Chase Institute“ ergab für die USA eine laufende Beteiligung von 1,6% und eine Quote von 4,5% der Haushalte, die irgendwann einmal über eine Plattform als Anbieter aktiv wurden – und hier sind Wohnraum „sharing platforms“ wie AirBNB schon inbegriffen.
Aber es ist unübersehbar: Plattform-Arbeit ist nicht mehr nur ein Randphänomen und die soziale Absicherung der oft unter prekären Verhältnissen arbeitenden Plattformarbeiter alles andere als durchweg gelungen. Dies gilt nicht nur für Deutschland. Die traditionellen Systeme der sozialen Sicherheit seien, so Weber, auf die Realität der oft aus Klein- und Kleinstaufträgen bestehenden „Gig-Economy“ nicht vorbereitet und müssten daher dringend angepasst werden. Denn allein durch neue und innovative Formen von Arbeit würden sich die sozialen Risiken „nicht in Luft auflösen“.
Gleichzeitig trifft die globale Dimension des Phänomens auf nationale Strukturen – Anbieter von Leistungen, Nachfrager und Plattformbetreiber können unter drei verschiedenen Rechtsordnungen auftreten. Da braucht es klare Regeln für die Frage, wer für Besteuerung, Verbraucherschutz, wettbewerbsrechtliche Fragen und nicht zuletzt für die Organisation und Finanzierung des Sozialschutzes zuständig ist. Was den letzten Aspekt angeht, ließ Weber keine Zweifel aufkommen: Es sind die Staaten, in denen der Arbeiter wohnt bzw. arbeitet. Dies löst aber nicht das Problem, wie nationales Recht im globalen Kontext durchgesetzt werden kann, vor allem dann, wenn der Plattformbetreiber im europäischen oder gar im außereuropäischen Ausland sitzt.
Hierzu macht Weber einen wohldurchdachten Lösungsvorschlag, der im Ergebnis auf die Schaffung einer internationalen Behörde hinausläuft. Das faszinierende – und zugleich Widerspruch herausfordernde – Element ist jedoch die Rückwirkung auf das materielle Niveau und den „Preis“ des Sozialschutzes selbst. Der Plattformarbeiter würde letztlich einem Sonderregime unterworfen, welches sich deutlich von dem unterscheidet, welches für den „rein national“ auftretenden Erwerbstätigen gilt.
Webers „Grundmodell“ besticht erst einmal durch seine Einfachheit. Alle Internet-Plattformen, die Arbeit und Dienstleistungen vermitteln, werden verpflichtet, einen pauschalen, nicht zu hoch bemessenen Anteil von allen Umsätzen der Plattformarbeiter auf ein individuelles „Digital Social Security“ Konto (DSS) zu überweisen. Dies gilt völlig unabhängig vom Status des Plattformarbeiters als „Selbständiger“ oder „Beschäftigter“. Das noch zu schaffende und bei einer internationalen Institution wie ILO oder Weltbank anzusiedelnde DSS-System würde diesen „Beitrag“ an den zuständigen nationalen Träger oder eine nationale Kontaktstelle überweisen, zusammen mit den zur Identifizierung nötigen Daten. Diese nationale Stelle entscheidet dann darüber, wie die Beitragsmittel verwendet werden.
Es wird also keine „internationale Sozialversicherung“ geschaffen, sondern diese verbleibt in nationaler Kompetenz. Weber schlug jedoch eine Hierarchie vor, eine Reihenfolge, in der die Mittel den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung sinnvollerweise zugewiesen werden sollten. Im Vordergrund solle ein angemessener Beitrag zu den Sozialversicherungszweigen bestehen, die nicht nach dem Äquivalenzprinzip arbeiten wie vor allem die Krankenversicherung. Was dann übrig bleibe, könne dann für den Erwerb von „skalierbaren“ Sozialleistungsansprüchen wie z.B. Renten verwendet werden. Letzteres sei auch dann sinnvoll, wenn der Betroffene schon in einem anderen „Hauptjob“ krankenversichert sei.
Das ist eigentlich schon alles. Das Risiko von Betrug oder Nicht-Befolgung sei bei dieser Lösung gering, so Weber. Dies allein schon deshalb, weil der Plattform-Arbeiter ein ureigenes Interesse habe, dass seine Abzüge ihm tatsächlich selbst zugeschrieben werden.
Das gewiss größte Problem dieses Modells besteht darin, dass die vom DSS-System eingesammelten und weitergeleiteten Beiträge nicht ausreichen, um die nach den Gepflogenheiten des zuständigen Staates erforderlichen Beitragspflichten zu erfüllen. Jedoch ist das Modell von Weber flexibel genug, hier Abhilfe zu schaffen. So könne man es dahingehend abändern, dass der zuständige Staat dem System den jeweils geltenden individuellen (Gesamt-) Sozialversicherungssatz meldet und das System diesen vom Plattformbetreiber einfordert.
Dem Problem unvollständiger (oder auch überzahlter) Beiträge auf das DSS-Konto könnte man aber auch dadurch umgehen, dass man an seiner Stelle lediglich ein internationales Daten-Register einrichtet. Die Plattform-Betreiber würden verpflichtet, alle Geldtransaktionen einschließlich der korrekt identifizierten Empfänger zu speichern und den jeweils zuständigen Trägern zur Verfügung zu stellen. Einer solchen „abgespeckten“ Variante erteilt Weber jedoch eine klare Absage. Mit ihr würde der Zweck des DSS verfehlt, auch aus Sicht der Plattform-Arbeiter Akzeptanz und Anreize zur Kooperation zu schaffen, insbesondere durch eine korrekte Identifizierung seiner Person. Auch gingen die potentiellen Vorteile des von ihm vorgeschlagenen Abzugs „an der Quelle“ verloren: die sofortige Verfügbarkeit der Beiträge und die Vermeidung von Beitragsrückständen.
Ein kritischer Punkt schließlich ist auch die Rechtsquelle der Verpflichtung von Plattform-Betreibern, die geforderten Beiträge zu überweisen. Hier bedürfe es, so Weber, bilateraler Abkommen mit den Ländern, in denen der zu verpflichtende Betreiber seinen Sitz hat. Ohne ein solches Abkommen bestünde zwar technisch die Möglichkeit, den Zugang zur jeweiligen Plattform zu sperren. Weber warnte aber vor nationalen Alleingängen. Auch wenn an dieser Stelle manches offen blieb - in der Tat müsste erst einmal geprüft werden, welche Anhaltspunkte die heute schon bestehenden Welthandelsregeln bieten, vor allem mit Blick auf den Handel mit Dienstleistungen (GATS).
Versucht man eine erste Bewertung des Modells, so bleibt als ernsthaftester Kritikpunkt die Weichenstellung zugunsten einer Art Sozialversicherung „light“ mit vergleichsweise vermindertem Sicherungsniveau, geringeren Beiträgen oder beidem. Dies würde ein fatales Signal an all diejenigen richten, die als „traditionelle“ Arbeitnehmer oder Selbständige keine Möglichkeit haben, sich den vollen Beitragspflichten zu entziehen. Allerdings lässt sich der Ansatz von Weber dahingehend variieren, dass er derartige Systemeingriffe weitgehend vermeidet. Vor allem aber sollte die von ihm vorgeschlagene Idee eines internationalen digitalen Kontos der Sozialen Sicherheit als Wegweiser verstanden werden, globale Lösungen zu suchen, wo nationale wahrscheinlich versagen.
Vgl. zu diesem Thema auch die jüngste Studie von Eurofound in englischer Sprache vom September 2018.