
Ungleichheiten bei der Gesundheitsversorgung
Studie des Forschungsnetzwerks ESPN bescheinigt Deutschland ein vergleichsweise gutes Ergebnis.
Dr. WSW/AD – 12/2018
Im Auftrag der Europäischen Kommission hat das Europäische
Forschungsnetzwerk „ESPN“ eine umfassende Studie zu Ungleichheiten beim Zugang
zur Gesundheitsversorgung erstellt. In der nur auf Englisch verfügbaren
Untersuchung unter dem Titel „Inequalities
in access to healthcare“ geht es weniger um die so genannten objektiv
messbaren Gesundheitsergebnisse, sondern vielmehr im Zentrum um die von den
Patientinnen und Patienten individuell wahrgenommen Lücken in der Gesundheitsversorgung.
Fortschritte werden im Rahmen der „Europäischen Säule Sozialer Rechte“ am
Maßstab des Scoreboard-Indikators des selbst wahrgenommen ungedeckten Bedarfs
an Gesundheitsversorgung („unmet need“) gemessen.
Ausgangspunkt und Maßstab ist das Recht aller Menschen auf
einen rechtzeitigen Zugang zu einer bezahlbaren und hochwertigen
Gesundheitsversorgung. Hier werden relevante Lücken festgestellt, sowohl
zwischen als auch innerhalb der untersuchten 35 europäischen Länder. Als
problematisch werden vor allem beurteilt a) die oft unzureichende finanzielle Ausstattung
des öffentlichen Gesundheitssystems, b) Eigenbeteiligungen an den Kosten, c)
Wartelisten und ihre mangelnde Transparenz, und d) die fragmentierte formelle
Absicherung. Im Fokus steht ferner auch die tatsächliche Erreichbarkeit für
sozial marginalisierte („vulnerable“) Gruppen.
Eine Unterfinanzierung des öffentlichen Gesundheitswesens
wird immerhin für zehn Länder festgestellt. Deutschland zählt zwar nicht
hierzu, aber die Budgetierung wird als eine mögliche Quelle „informeller
Rationierung“ benannt.
Deutschland gehört zur (vergleichsweise größeren) Gruppe von
Ländern, in denen Zuzahlungen zu leisten sind, wenn auch gedeckelt – und zwar
unter sozialen Kriterien, was wiederum nur eine Minderheit von Ländern
vorsieht.
Höhere Vergütung bewirkt schnellere Behandlung
Wartelisten sind in der Mehrzahl der untersuchten Länder
zumindest „ein Thema“, wobei nicht in erster Linie die Wartezeiten als solche
kritisiert werden, sondern die Möglichkeit, sie durch private (Zu-) Zahlungen
abzukürzen. Deutschland wird für den schnelleren Zugang von Privatpatientinnen und Privatpatienten im
Vergleich zu Kassenpatientinnen und Kassenpatienten kritisiert. In Ländern ohne Privatversicherung ist der Anteil verdeckter Vergütungen („Schwarzgeldzahlungen“) vermutlich höher.
In diesem Zusammenhang übt der Bericht auch offene Kritik an der Krankenversorgung in den Betrieben, wie sie zum Beispiel in
Finnland und in den Niederlanden bestehen. Sie erlaubten vor allem finanziell
besser gestellten Bevölkerungsgruppen einen leichteren und schnelleren Zugang.
Auch wenn diese Form der Absicherung in Deutschland eher die Ausnahme sein
dürfte – schon wegen der hier gut funktionierenden gesetzlichen
Unfallversicherung – erscheinen die Ausführungen des Berichts in dieser Form
eher fehl am Platz.
Betriebliche Systeme sind wie auch in der Alterssicherung
nicht die Ursache, sondern die Reaktion auf Lücken in der öffentlichen
Versorgung und dienen nicht zuletzt der schnelleren Wiedereingliederung am
Arbeitsplatz.
Zugangsquoten
Beim formellen Zugang für die Einwohnerinnen und Einwohner steht Deutschland mit fast 100% gut
da, während z.B. Polen mit 90% oder Griechenland mit 80% noch erhebliche
Deckungslücken aufweisen.
Jedenfalls beim Erstzugang zu ärztlicher Versorgung im Sinne
einer medizinischen Untersuchung wird für Deutschland ein erheblicher Rückgang
der Versorgungslücken („unmet need“) auf 0,3% festgestellt, während diese in
bestimmten anderen Ländern weit über 10% betragen. Eine besondere Rolle spiele
der ökonomische Status: Oft hätten die Inaktiven, vor allem Arbeitslose und
Rentnerinnen und Rentner, vergleichsweise größere Schwierigkeiten beim Zugang.
Empfehlungen
An die Mitgliedstaaten gerichtet formuliert der Bericht die
Empfehlung, Zuzahlungen – vor allem für marginalisierte Gruppen – so zu
begrenzen, dass sie den Zugang zur Gesundheitsversorgung praktisch nicht behindern.
Die Prioritätensetzung bei Wartelisten solle transparenter werden,
und Ärztinnen und Ärzte sollten keine Anreize mehr haben, solche Patientinnen und Patienten vorrangig zu
behandeln, die mehr bezahlen.
„Freiwillige Krankenversicherungssysteme“ [Redaktionelle Anmerkung: Die freiwillige Krankenversicherung innerhalb der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung ist hiermit nicht gemeint] sollten
weder direkt noch indirekt staatlich gefördert und die Ressourcen stattdessen
besser in das öffentliche Gesundheitswesen investiert werden.