
Aktuelle Vorschläge zur Sozialversicherung von Plattformarbeitern
Globale Organisation von Arbeit erfordert globales Vorsorgesystem.
Dr. Sch.-W. – 07/2019
Ganz neue Wege geht in der Debatte um die Zukunft
der sozialen Sicherheit der sogenannten „Plattformarbeiter“ Prof. Enzo
Weber, Arbeitswissenschaftler am Institut für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung. Er hatte bereits der Fachgruppe
„Europäische Sozialpolitik“ der Spitzenorganisationen der Deutschen
Sozialversicherung die Gelegenheit gegeben, seine Vorschläge intensiv zu
diskutieren; siehe hierzu die News 10/2018.
„Digitale Soziale Sicherung“
Nach einer Überarbeitung liegt
nunmehr eine präzisierte und geschärfte Version
seines Konzepts einer globalen und standardisierten „Digitalen Sozialen
Sicherung“ (DSS) vor. Es wurde von der Hans Böckler Stiftung im Mai
2019 veröffentlicht unter dem Titel „Digitale Soziale Sicherung –
Entwurf eines Konzepts für das 21. Jahrhundert“. Spätestens
diese aktuelle Version macht klar, dass es um mehr geht als die bloße
Verlagerung bestimmter Verwaltungsvorgänge auf die internationale Ebene.
Vielmehr würden Inhalte und Niveau des Sozialschutzes für bestimmte
Wirtschaftssektoren auf globaler Ebene neu aufgestellt
und – sollte das Modell erfolgreich sein – der Gestaltungsmacht der
teilnehmenden Staaten jedenfalls teilweise entzogen.
Im Zentrum der Vorschläge Webers steht ein internationales individuelles,
temporäres DSS-Konto bzw. Kontensystem, auf das der Plattformbetreiber, egal,
wo er weltweit angesiedelt ist, einen bestimmten einheitlichen Prozentsatz der
über die Plattform transformierten Zahlungen überweisen muss, d.h. der
Leistungsentgelte des Nutzers, welche die Plattform elektronisch an den
Plattformarbeiter transferiert. Dieses System könnte z.B. bei der Weltbank oder
der ILO angesiedelt werden. In den DSS-Konten sammeln sich die „global
generierten Beiträge, die in regelmäßigen Abständen in die Sozialversicherung
des Heimatlandes der Plattformarbeiter und Plattformarbeiterinnen übertragen werden. Die zuständigen
Träger würden dann die eingehenden Träger unter sich aufteilen, ggfs. mit der
Konsequenz, dass die hieraus generierten Geldleistungen wie z.B. Renten
anteilig gekürzt werden.
Eine ausführliche Analyse des Konzepts von Weber finden Sie auf
unserer Webseite als „Hintergrundpapier“.
„Modell Künstlersozialkasse“?
Auch wenn Weber sein
Modell nicht mit dem „Aufbau einer umfassenden internationalen
Sozialversicherung“ verwechselt wissen will – es ist deutlich mehr als eine internationale Beitragseinzugsstelle im Auftrag der Träger. Weber würde
sogar auf das DSS-Konto verzichten und eine direkte Beitragsüberweisung an die
nationalen Systeme zulassen, solange nur das Prinzip eines einheitlichen
Beitragssatzes gewahrt bleibt. In der Sache entspricht das Modell einer Art
internationaler Künstlersozialkasse (KSK) nach deutschem Muster, wobei dieser
Bezug allerdings kein einziges Mal erwähnt wird. Man muss die etwas eigenartige
Konstruktion der KSK nicht lückenlos verstanden haben, um sie als Vergleich
heranzuziehen. Nur so viel: Um Künstler im eigentlichen Sinne geht es gewiss
auch, aber nicht nur; um eine Kasse im Sinne eines Sozialversicherungsträgers
wie z.B. eine Krankenkasse handelt es sich erst recht nicht, und das soziale
Element besteht insbesondere in einer massiven Bezuschussung aus Steuermitteln.
Die KSK sammelt die Beiträge und Zuschüsse und überweist
sie an die zuständigen „klassischen" Sozialversicherungsträger,
welche die Versicherung nach ihren allgemeinen Regeln durchführen. Wie
im DSS-Modell sind damit alle Beitragsansprüche gegen die
Wirtschaftsbeteiligten abgegolten, wie im DSS-Modell wird mangels
Arbeitgeber der Nutzer der Leistungen in Anspruch genommen, wie
im DSS-Modell erhält der „Schaffende“ zu äußerst günstigen Bedingungen
Zugang zu einem hochwertigen Sozialschutz, und wie im DSS-Modell müssen
die endemischen Finanzierungslücken durch einen anonymen Außenstehenden
geschlossen werden.
Es ist daher nachvollziehbar,
dass sich das KSK-Modell in Teilen der deutschen Plattformwirtschaft
auf allen Seiten großer Beliebtheit erfreut. Weber greift diesen
unsichtbaren Faden auf und verwebt ihn konsequent auf globaler Ebene,
über die rein nationale Dimension hinaus.
„Digital Single Window“ auf EU-Ebene
Das Konzept von Weber wurde nun aufgegriffen und weiterentwickelt durch eine von der EU-Kommission
eingesetzte „Hochrangige Gruppe“. Sie schlägt die Schaffung eines
„Digital Single Window“ durch die Europäische Union vor. Hierüber
sollen zwischen Behörden sozialabgaben- und steuerrelevante Daten von
Selbständigen ausgetauscht werden, die über elektronische Plattformen –
und alle anderen Arten von Arbeitsvermittlern (labour market
intermediaries) für eine Vielzahl von Auftraggebern arbeiten.
Die Plattform-Betreiber müssten dem „Window“ automatisch alle
entsprechenden Einkommensdaten in einem standardisierten Format
übermitteln, unabhängig davon, wo die Auftraggeber ihren Sitz oder
Wohnort haben.
Das „Window“ würde dann die Daten an die für die
Besteuerung und Erhebung der Sozialabgaben des jeweiligen
Plattformarbeiters zuständigen nationalen Behörden weiterleiten. Auch
aus der Sicht der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer hätte das Projekt
große Vorteile, weil es die Berichterstattung und die Befolgung
von Pflichten (compliance) vereinfacht und sicherstellt, unabhängig
davon, ob nach nationalem Recht der Auftraggeber oder
(typischerweise) der selbständige Plattformarbeiter zur Meldung der
Einkünfte verpflichtet ist.
Mit Hilfe dieser europäischen Lösung
soll verhindert werden, dass Plattformen ihre Meldungen an eine
Vielzahl von nationalen Behörden abgeben müssen – ein Schritt zur
Vollendung eines harmonisierten digitalen Binnenmarktes. Allerdings soll
es den Mitgliedstaaten ausdrücklich überlassen bleiben,
ob sie das System wollen. Was Weber als das Kernstück einer globalen
„Digitalen Sozialen Sicherung“ ansieht, wäre nach dem Vorschlag der
Hochrangigen Gruppe optional: ein Modul, welches es den Plattformen
ermöglichen würde, im Auftrag der zuständigen Behörden
Abgaben bereits an der Quelle einzuziehen und an diese Behörden
weiterzuleiten. Diese Variante hätte zudem den Vorteil, dass sie nicht
in die Kompetenz der Mitgliedstaaten eingreift, den Beitragssatz – auch
für Plattformarbeiter – selbst zu definieren.
Welcher Staat ist letztlich zuständig?
Von der Frage der Ansiedlung eines wie auch immer
ausgestalteten „digitalen Kontos“ strikt zu trennen ist die Frage der
territorialen Ansiedlung des für den Sozialschutz (und die Steuern) des
Plattformarbeiters letztlich zuständigen Staates.
Sie ist nicht trivial, denn sie entscheidet im Zweifelsfall auch über
das Leistungsniveau und – folgt man dem DSS-Modell von Weber – darüber,
welcher Staat die Lasten eines unterfinanzierten Sozialschutzes zu
tragen hat. Es gibt prinzipiell drei Möglichkeiten:
der Ort, an dem die Leistung produziert wird, der (Wohn-) Sitz des
Leistungsempfängers oder der Ort, an dem die Leistung entgegen genommen
wird.
Nach den geltenden Regeln ist erst einmal der Ort der Leistungserbringung als
„Arbeitsort“ maßgeblich. Offenbar aus praktischen Erwägungsgründen
möchte Enzo Weber dagegen beim Wohnsitz-Staat des Leistungserbringers
ansetzen, der in der Regel mit dem Ort der Leistungserbringung
gleichzusetzen wäre. Eine solche Regelung wäre systemwidrig, ließe sich
aber mit ein wenig Aufwand in die richtige Richtung steuern.
Ganz
anders sähe dies nach einem Modell aus, welches vom Europaabgeordneten
Joachim Schuster vorgeschlagen wurde. Er möchte, dass für
Plattformarbeiter für
die Dauer der Leistungserbringung die Regeln des Mitgliedstaates
gelten, in dem die Leistung physisch oder digital empfangen wird.
Dieser Ansatz
ist im Ergebnis schwer umzusetzen, aber nicht von vornherein
unsystematisch, folgt er doch dem Bestimmungslandprinzip der
europäischen Regeln des Entsenderechts und der
Dienstleistungsrichtlinie. Er ist insofern erst einmal überraschend, da
er aus der Feder
eines sozialdemokratischen Abgeordneten und nicht von
Wirtschaftsvertretern stammt.
Der Hintergrund erschließt sich erst auf
den zweiten Blick: die auf EU- und OECD-Ebene geführte Diskussion um die
Einführung einer Digital-Steuer. Im Kern geht es darum, bestimmte
Leistungen nicht mehr nur dort zu besteuern, wo sie erzeugt, sondern stärker dort, wo sie konsumiert werden. So wird der Verbraucher
ins Zentrum der Wertschöpfungskette gerückt – wohl nicht zuletzt aus der
Erkenntnis heraus, dass Europa bei der Erzeugung
digitaler Dienstleistungen global ins Hintertreffen gerückt ist.
Konsum macht reich – Produktion macht arm?
Nur
am Rande sei erwähnt, dass das Thema auch in der makro-ökonomischen
Debatte eine Rolle spielt, und zwar bei der Frage, welche Länder im
europäischen
„Finanzausgleich“ Nettozahler und welche Nettoempfänger sind. Ein portugiesischer Ökonom hat in einer Veröffentlichung für das linke
Netzwerk „Social Europe“ die Position vertreten, Netto-Zahler in Europa
seien im Ergebnis nicht die Länder, deren innergemeinschaftlichen
Exporte die Importe übersteigen, sondern man müsse die wahren
Zusammenhänge genau andersherum betrachten. Den größten Netto-Beitrag
erbrächten die Länder, die am meisten importieren oder – so ließe sich
hinzufügen – die mehr konsumieren als sie produzieren.
Diese These mag man für gewagt halten, denn wenn alle europäischen Länder nach diesem Modell Nettozahler wären, wäre die EU im Ganzen finanziell abhängig und fremdbestimmt vom produzierenden „Rest der Welt“, so dass soziale Leistungen nachhaltig weder national noch von der EU finanziert werden könnten. Jedoch ist sie (diese These) Teil eines
allgemeineren Trends: Im Zentrum der Wertschöpfung wird immer weniger
die Rolle des Produzenten
und immer mehr die des Verbrauchers – etwa als „Ko-Produzent“ –
wahrgenommen. Dies wird erste Konsequenzen für die globalen Steuerregeln
haben, und ein Übergreifen auf die Soziale Sicherheit ist nicht
unwahrscheinlich.