Wirtschaftswachstum durch Wohlergehen, geht das überhaupt? Ja, sagt der Rat der Europäischen Union.

UM – 10/2019

Finnland nutzt seine Ratspräsidentschaft, um Wirtschaft und Soziales besser miteinander zu verknüpfen. In einer „Ökonomie des Wohlbefindens“ sei dies kein Widerspruch. Auf dem Fundament eines soliden Binnenmarktes lohnen sich Investitionen in soziale Nachhaltigkeit, in Gesundheit, kurz: ins Wohlergehen der Menschen. Auf­grund der ste­tig stei­gen­den Her­aus­for­de­run­gen auf den Arbeits­märk­ten durch Digi­ta­li­sie­rung, demo­gra­fi­schen Wan­del und einer zuneh­men­den Glo­ba­li­sie­rung sei dies auch notwendig.

Säule und Binnenmarkt gehören zusammen

Im Zentrum der „Ökonomie des Wohlbefindens“ steht die Säule der Sozialen Rechte mit ihren umfassenden sozialen Empfehlungen. Ein starker, funktionierender Binnenmarkt mit all seinen Dimensionen bildet die Grundlage. Am 24. Oktober 2019 hat sich der Rat „Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz“ der Europäischen Union (EPSCO) dazu erklärt.

An Kompetenzen wird nicht gerüttelt

In seinen Schlussfolgerungen unterstreicht der EPSCO, dass der horizontale, kollaborative Politikansatz schon im Vertrag über die Funktionsweise der EU und der Europäischen Sozialcharta von 1961 angelegt ist. Er setze den „Health in all Policies“-Ansatz aus dem Jahr 2006 konsequent fort. Insofern bedürfe es keiner neuen Strukturen; Kompetenzen und Zuständigkeiten würde nicht geändert. Die Impulse, welche von der „Ökonomie des Wohlbefindens“ ausgingen, seien ohne Abstriche an die Kompetenzen der Mitgliedstaaten und unter vollem Respekt der Autonomie der Sozialpartner auf nationaler und europäischer Ebene umsetzbar. Soweit die zentrale Botschaft der Schlussfolgerungen des Rates.

Mitgliedstaaten über das Europäische Semester motivieren

Die Mitgliedstaaten sind aufgefordert, politische Maßnahmen hinsichtlich ihrer Wirkung auf das Wohlergehen der Menschen im Land einer übergreifenden Bewertung zu unterziehen und hierfür geeignete Indikatoren zu entwickeln. Für Arbeitslose oder Menschen, die Gefahr laufen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, sollen spezifische Unterstützungsmaßnahmen konzipiert werden. Ein adäquater Sozialschutz soll über den Zugang zu entsprechenden qualitätsgesicherten, wirtschaftlichen und nachhaltigen Angeboten sichergestellt werden. Gesundheitsförderung und Prävention sollen gestärkt, ein lebenslanges Lernen ermöglicht werden. Für die Umsetzung dieses Prozesses ist das Instrument des Europäischen Semesters zu nutzen.

Kommission strategisch einbinden

Die Europäische Kommission wird angehalten, eine langfristig angelegte Strategie zu entwickeln, um die Europäische Union in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zum stärksten zusammenhängenden und zudem klimaneutralen Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Dazu müsse sie unter anderem den strategischen Rahmen für Gesundheit und Schutz am Arbeitsplatz überarbeiten und sicherstellen, dass konkrete Maßnahmen getroffen werden, geschlechtsbezogene Einkommensunterschiede abzubauen. Sie soll Initiativen ergreifen, um die Politik für Menschen mit Behinderungen fortzusetzen und Kindern in einem frühen Alter neben einer guten Betreuung in Kindergärten und Kitas ein frühzeitiges Lernen zu ermöglichen. Eine Mitteilung der Kommission soll die Einflüsse auf die mentale Gesundheit der Menschen bereichsübergreifend bündeln und mit einer Strategie für die mentale Gesundheit verknüpfen.

Steter Tropfen ...

Eine Ratspräsidentschaft ist „eine sanfte Kraft“. Schlussfolgerungen, die der Rat anlässlich halbjährlich wechselnder Präsidentschaften trifft, sind naturgemäß weich formuliert. Sie sind auch nicht verbindlich. Je besser es der Europäischen Union gelingt, ihre sozialpolitischen Instrumente – die Säule der Sozialen Rechte und das Europäische Semester – zu schärfen, umso eher kann aus sanfter Kraft spürbare Gestaltungskompetenz entstehen. Den Willen dazu wird die neue Kommission, die voraussichtlich am 1. Dezember ihre Arbeit aufnehmen wird, haben. Sie wird auch einen langen Atem brauchen.