
Auf der Suche nach dem Königsweg
Sozialversicherung im Spannungsfeld der digitalen Transformation der Arbeitsmärkte.
SW – 12/2019
Die Digitalisierung
und die Anwendung Künstlicher Intelligenz hat Auswirkungen auf die
Arbeitsmärkte und wird diese nachhaltig verändern. Es entstehen neue Formen der
Arbeit, andere Tätigkeiten werden wegfallen. Die Einschätzungen reichen dabei
von technologiebedingten normalen Verschiebungen in der Art der Tätigkeiten bis
hin zu Befürchtungen massiver Jobverluste.
Roberto Viola,
Generaldirektor der Generaldirektion „Kommunikationsnetze, Inhalte und
Technologien“ wies darauf hin, dass die strukturellen Verschiebungen der Art
von Arbeitsplätzen entsprechende Anpassungen in der allgemeinen und beruflichen Bildung erfordere. Bereits heute seien für rund 90% der Arbeitsplätze
mindestens grundlegende digitale Fähigkeiten notwendig. Dennoch fehlten rund
ein Drittel der EU-Arbeitskräfte diese grundlegenden Fähigkeiten.
Er
thematisierte auch die Auswirkungen der Digitalisierung und des Anstiegs
atypischer Beschäftigungsformen auf die Systeme der sozialen Sicherheit und
ihre Finanzierung und verwies auf die vom Rat am 8. November 2019 förmlich angenommene Empfehlung zum Zugang zum Sozialschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Selbständige.
Darin wird den Mitgliedstaaten empfohlen, den formellen Zugang zu
Sozialschutzleistungen bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und
Gesundheitsleistungen, Mutterschaft und gleichgestellte Leistungen bei
Vaterschaft, bei Invalidität, bei Alter und Hinterbliebenenleistungen sowie bei
Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verpflichtend zu
machen, unabhängig von der Art des Beschäftigungsverhältnisses.
Für Selbstständige
wird empfohlen, den Zugang zumindest auf freiwilliger Basis zu ermöglichen und
gegebenenfalls verpflichtend zu machen. Bei der Empfehlung handelt es sich aber
um einen rechtlich nicht-verbindlichen Akt, der Reformen auf nationaler Ebene
stimulieren soll. Die Mitgliedstaaten werden angehalten, die in der Empfehlung
enthaltenen Grundsätze so bald wie möglich umzusetzen und bis zum 15. Mai 2021
einen Plan mit Informationen über die auf nationaler Ebene zu ergreifenden
Maßnahmen vorzulegen.
Die zunehmende
Hinwendung zu atypischen Arbeitsformen, so Generaldirektor Viola, setze jedoch die
Finanzierung der Sozialschutzsysteme, einschließlich der Renten- und
Gesundheitsfonds, unter Druck. Diese Finanzierung basiere zu einem erheblichen
Teil auf Beiträgen aus traditionellen Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen. Die
Empfehlung benötige den Input und das konkrete Fachwissen von Praktikerinnen und Praktikern sowie
die Beteiligung der Online-Plattformen, um für die Bürgerinnen und Bürgern von Nutzen zu sein. Darüber
hinaus stelle sich die Frage nach einer Vereinfachung sozialer Ansprüche, die
derzeit für verschiedene Arten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, manchmal ohne
offensichtlichen logischen oder funktionalen Grund, sehr fragmentiert seien.
Eine von der Europäischen
Kommission im Mai 2018 eingesetzte hochrangige Expertengruppe zu den Auswirkungen der digitalen
Transformation auf die EU-Arbeitsmärkte kommt in ihrem Abschlussbericht vom 8. April 2019 zu deutlich
weitergehenden Empfehlungen (Bericht liegt nur in Englisch vor).
Die Expertinnen und Experten raten zu
einem Sozialschutz, der hinsichtlich der Technologie, der Beschäftigungsformen
und der Selbständigkeit neutral ist. Dies könnte auch die Übertragbarkeit von Rechten
einbeziehen, die an den Beschäftigten und nicht an ein bestimmtes
Arbeitsverhältnis anknüpfen sollten sowie eine „Unterbeschäftigungsversicherung“
oder eine Sozialversicherung, die schwankendes und episodisches Einkommen berücksichtigt.
Ein neutraler Sozialschutz sollte allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, einschließlich
Selbständigen, gleichermaßen zugutekommen. Während die Einzelheiten zwischen
den EU-Mitgliedstaaten durchaus variieren könnten, sei dies jedoch ein
wichtiges politisches Unterfangen, das nach Ansicht der Expertinnen und Experten auf
europäischer Ebene geplant und vereinbart werden sollte.
Ein im Dezember
2019 vom European Policy Center (EPC) veröffentlichter Bericht warnt hingegen davor, vorschnell die
Grundlagen vergangener Jahrzehnte aufzulösen. Dies sei ein riskantes
Unterfangen mit schwerwiegenden Konsequenzen für Einzelne und die
Gesellschaft insgesamt, solange keine tragfähige Lösung gefunden sei, die ein
Gleichgewicht zwischen einerseits dem größeren Bedarf an sozialem Schutz und andererseits
angemessenen finanziellen Ressourcen gewährleiste.
Diskutiert
werden steuerfinanzierte Möglichkeiten der Finanzierung. Einerseits könne ein rein
durch allgemeine Steuern finanziertes System erwogen werden. Dies wirft nach
Ansicht der Autorinnen und Autoren jedoch die Frage auf, ob dies zu einem fairen Verhältnis der
Verantwortlichkeit zwischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einerseits sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern andererseits führen würde.
Erstere würden weiterhin „Sozialbeiträge“ zahlen müssen, während es äußerst
schwierig sein würde, sicherzustellen, dass Letztere im Gegenzug für die
erhaltene Arbeitsleistung ihren gerechten Anteil zum Allgemeinwohl beitragen
würden. Andererseits könnten neue steuerfinanzierte Mittel erwogen werden, beispielsweise
eine Erhöhung der Steuern auf Gasemissionen, Finanztransaktionen oder Roboter.
Die Autorinnen und Autoren sehen es jedoch als nicht gesichert an, dass diese Einnahmequellen den Verlust
der Arbeitgeberbeiträge ausgleichen und den Deckungsbedarf des künftigen
Sozialschutzsystems decken würden. Neben der Frage der Verantwortung der
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber gegenüber ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihres Beitrags zum Gemeinwohl berge
die Beseitigung der traditionellen Verbindung zwischen Beschäftigung und
Sozialschutz auch die Gefahr eines Systemwechsels von einem System mit
obligatorischen Beiträgen hin zu einem System mit freiwilligen Beiträgen, verbunden
mit dem Risiko eines Opt-out der Versicherten.