Gibt es einen Zusammenhang zwischen genetischer Disposition und gesellschaftlichem Erfolg?
Kommissions-Studie fordert zum Nachdenken auf
Dr. S-W – 02/2020
Ist Intelligenz vererblich? Eher nicht. Ist Intelligenz angeboren?
Durchaus möglich. Dies sind Schlussfolgerungen, die man einem von der
Europäischen Kommission veröffentlichten Bericht unter dem etwas sperrigen
Titel „Genome-wide association studies, polygenic scores and social science
generics: overview and policy implications“ entnehmen kann.
Tote leben länger…
Der mögliche Zusammenhang zwischen genetischen Dispositionen und
Intelligenz und gesellschaftlichem Erfolg war lange Zeit Gegenstand heftiger
gesellschaftspolitischer Diskussionen. Dabei ging es immer auch darum,
„Ungleichheiten“ mit Blick auf die persönlichen Anlagen zu rechtfertigen – oder
aber stärker auf die Bedeutung der Umwelt für eine gelungene persönliche
Entwicklung abzustellen.
Eigentlich war diese Debatte in der Praxis erst einmal
beendet – im Vordergrund stehen inzwischen Versuche, durch gezielte bildungs-
und sozialpolitische Interventionen Ungleichheiten zurückzudrängen. Die
Betonung der genetischen Anlagen konnte auch deshalb erst einmal keinen Fuß
fassen, weil es – jenseits von Zwillingsstudien - nicht gelang, einen empirisch
robusten Zusammenhang zwischen einer eindeutigen genetischen Abweichung (an
einem bestimmten Gen) und persönlichen Eigenschaften herzustellen.
Dies scheint sich nun im Zeitalter wachsender Rechen- und
Speicherkapazitäten und der Verfügbarkeit großer Datenmengen („Big Data“) zu
ändern. Genetische Varianten werden jetzt nicht mehr an einem oder wenigen
Genen isoliert, sondern mit Hilfe von „genome-wide association studies“ in
einer Kombination von Dutzenden oder gar hunderten von einzelnen Abweichungen
(„polygenic scores“).
Insofern ist erst einmal die Frage nach der
Vererblichkeit von bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen obsolet: Es ist äußerst
unwahrscheinlich, dass eine größere Gruppe von genetischen Einzel-Merkmalen
komplett an die nächste Generation weitergegeben wird. Was aber bleibt, ist das
Interesse an einer Nutzung zum Zweck von Prognosen auf der Ebene des einzelnen
Individuums.
Dabei geht es um Antworten auf die „alte Frage“ nach dem
genetischen Hintergrund von komplexeren Eigenschaften wie Depression,
Intelligenz, Verhalten, überzeugendes Auftreten, Einkommen, politische
Orientierung, Reproduktionsverhalten (Anzahl der Nachkommen), Schulerfolg,
Wohlbefinden, Berufswahl, Entscheidungen in finanziellen Dingen, Langlebigkeit,
Risikobereitschaft (für Versicherer interessant), usw.
Derartige Zusammenhänge stehen allerdings immer unter dem
Vorbehalt einer Fehlinterpretation der angeblichen Zusammenhänge, weil die
„Ergebnisse“ (gesellschaftlicher Erfolg usw.) nicht das Resultat einer
genetischen Anlage sind, sondern der Art und Weise, wie die Umwelt den Träger
des genetischen Merkmals behandelt – was durchaus einem Wandel unterliegen
kann.
“Baby’s got blue eyes”
…Würden alle Babys, anders als im Song von Elton John, noch
im Erwachsenenalter blaue Augen haben, ginge das im Bericht herangezogene
Gedanken-Experiment zur Erklärung des Phänomens der „Umwelt-Rückkopplung“ oder
„Umwelt-Verstärkung“ ins Leere. So aber illustriert es recht eindrücklich, wie
statistisch durchaus korrekt ermittelte genetische Korrelationen, unreflektiert
in Handlungsanweisungen umgesetzt, in eine sich selbst erfüllende Prophezeiung
umschlagen können („environmental loop“).
Angenommen, eine bestimmte genetische
Kombination lässt sich in Verbindung bringen (polygenic score) mit einem
erhöhten schulischen Erfolg. Und weiter angenommen, eben diese Kombination
kodiert blaue Augen. Und schließlich einmal angenommen, Lehrer/innen neigen
dazu, Kinder mit blauen Augen zu bevorzugen. Wie geht man mit diesem Wissen um?
Auch wenn der Bericht hierzu schweigt, bieten sich mehrere Alternativen:
- Man könnte knappe öffentliche Ressourcen im
Bildungswesen „effizient“ vor allem zugunsten solcher Kinder einsetzen, welche
die genannten Merkmale aufweisen. Dies wäre als negative Diskriminierung allerdings
die ethisch verwerflichste Lösung.
- Man könnte öffentliche Ressourcen gezielt
einsetzen, um diejenigen, welche das Merkmal nicht tragen, gezielt zu
unterstützen (positive Diskriminierung).
- Man könnte die Lehrer austauschen (gezielte
Beeinflussung der Umwelt).
Die Gefahr von Fehlinterpretationen besteht vor allem dann,
wenn sich bestimmte Merkmale konzentriert in einer „Gruppe“ wiederfinden. Der
Bericht vermeidet hier ganz bewusst die Begriffe „ethnische Herkunft“ oder gar
„Rasse“, wie sie noch im Sprachgebrauch der Nachkriegszeit üblich waren. Stellt
sich zum Beispiel heraus, dass die genannten Merkmale in statistisch
signifikanter Weise mit schlechten Bildungsabschlüssen einhergehen, so liegt
dies mit hoher Wahrscheinlichkeit daran, dass die Mitglieder dieser „Gruppe“
einen unzureichenden Zugang zu Bildungseinrichtungen hatten. Politische
Interventionen müssten dann an dieser Stelle ansetzen.
Es ist noch nicht so weit, aber…
Wie der Bericht einräumt, sind bis heute selbst die besten
multi-genetischen Merkmalsbilder (polygenetic scores) nicht in der Lage,
nützliche Erkenntnisse für Vorhersagen des Verhaltens oder der künftigen
Persönlichkeitsmerkmale des individuellen Trägers zu liefern. Identifizierte
genetische Korrelationen scheinen allenfalls gewisse
Wahrscheinlichkeitsaussagen zu erlauben, sind aber weit von biologisch/kausale
Erklärungen entfernt.
…Politische Entscheidungsträger sind zum Handeln aufgefordert
Es ist aber nicht ganz auszuschließen, dass eines Tages
präzisere Aussagen zum individuellen genetischen Potential möglich sind.
Angesichts rapider wissenschaftlicher Fortschritte empfiehlt der Bericht den
Start eines breiten Diskurses über die Auswirkungen und den Einsatz der neuen
Erkenntnisse zum Wohle aller – bis hin zur Klärung der Frage, „in welcher
Gesellschaft wir leben wollen“ – vor allem vor dem Hintergrund der Gefahr von
(negativer) Diskriminierung, basierend auf genetischer Information.
Dem
entgegen stellt der Bericht die Vision einer positiven Diskriminierung im Sinne
einer gezielten Solidarität und Umverteilung zugunsten derjenigen, denen die
„genetische Natur“ schlechtere Chancen mit auf den Weg gegeben hat.
Der Bericht kann hier heruntergeladen werden:
https://publications.jrc.ec.europa.eu/repository/bitstream/JRC117414/technical_report_gwas.pdf