Deutsches Verfassungsgerichtsurteil in der Kritik
Droht im Zusammenhang mit dem EZB-Anleihekaufprogramm Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren?
Dr. S-W; UM – 05/2020
Im Rahmen des Staatsanleihekaufprogramm (Public Sector Purchase
Programme – PSPP) der Europäischen Zentralbank (EZB) werden in erster
Linie Staatsanleihen in den Mitgliedstaaten erworben. Die so provozierte
Erhöhung der Geldmenge soll Konsum und Investitionen fördern und
Deflationsgefahren abwenden. Bis November 2019 wurden hierüber
Schuldtitel im Wert von über zwei Billionen Euro erworben.
BVerfG: EZB und EuGH handeln ultra vires
Hierzu gab es eine Reihe von Verfassungsbeschwerden, denen das
deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 5. Mai stattgegeben hat.
Die EZB hätte in den hierzu erlassenen Beschlüssen ihr Mandat überspannt
und unterlassen, die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen darzulegen
beziehungsweise zu prüfen. Die vollständige Ausklammerung der
Auswirkungen des Programms auf die Wirtschaftspolitik sei auch
methodisch nicht vertretbar. Damit hat das BVerfG erstmals das Handeln
eines EU-Organs als Kompetenzüberschreitung („Ultra-vires“) eingestuft.
Dem stünde auch das anderslautende Urteil des Gerichtshofes der
Europäischen Union (EuGH) vom 11. Dezember 2018 (Az. C-493/17) nicht
entgegen. Dieses sei hinsichtlich der Beurteilung der
Verhältnismäßigkeit der EZB-Beschlüsse „schlechterdings nicht mehr
nachvollziehbar und damit ebenfalls ultra vires ergangen“, so die
Karlsruher Richter in ihrem Urteil (Az. 2 BvR 859/15)
Im Spannungsfeld der Europäischen Integration …
Die Fragen der Rechtsfolgen eines Ultra-vires-Handelns gehören zu den
zentralen Problemen der europäischen Integration. Wenn einerseits
nationale Gerichte über die Gültigkeit von Unionsrechtsakten
entscheiden, droht der Anwendungsvorrang europäischen Rechts ins Leere
zu laufen. Wenn aber andererseits die Mitgliedstaaten vollständig auf
die Ultra-vires-Kontrolle des Handelns der europäischen Organe und
Einrichtungen verzichten würden, könnte dies im Zweifel auf
eigenmächtige Vertragsänderungen oder Kompetenzausweitungen der Union
hinauslaufen. Schließlich gilt das Prinzip der begrenzten
Einzelermächtigung und die europäischen Organe dürfen nur soweit
handeln, wie ihnen die Mitgliedstaaten dafür die Kompetenzen eingeräumt
haben.
Im vorliegenden Fall sehen die Karlsruher Richter erstens
ein Versäumnis bei der EZB. Dies lässt sich recht einfach heilen, indem
die EZB die Verhältnisprüfung nachholt. Allerdings ist es der
Bundesbank bis dahin untersagt, PSPP-Beschlüsse umzusetzen. Zweitens
hätte der EuGH wirksamer kontrollieren müssen.
Das Karlsruher
Urteil ist in erster Linie aber ein Politikum, denn es berührt das
Selbstverständnis der Union und das sehr sensible Spannungsverhältnis
zwischen der Souveränität der Mitgliedstaaten und der Union, zwischen
einem „Staatenbund“ und einem „Bundesstaat“. Entsprechend scharf fallen
die Reaktionen in Brüssel aus. Die Kommission soll derzeit die
Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland prüfen.
Mitten in der Corona-Krise …
Auch scheint auf den ersten Blick der Zeitpunkt des Urteils
ungünstig. Manche sagen, das BVerfG hätte früher einschreiten müssen –
schon in der Finanzkrise. Auf der anderen Seite kam es nicht völlig
überraschend. Bereits in den „Solange“- Beschlüssen aus den Jahren 1974
und 1986 behielt sich das Gericht die Letztkontrolle über die
Vereinbarkeit europäischer Rechtsakte mit den im Grundgesetz
garantierten Grundrechten vor. Dies wurde mit dem Maastricht-Urteil aus
dem Jahr 1993, auf dem letztlich auch das jüngste Urteil aufbaut,
bestätigt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätten die Europäischen
Institutionen handeln können, so wie sie es vielleicht heute tun werden.
Allerdings gab es einen entscheidenden Unterschied zu heute:
Währungsunion und Euro waren damals noch nicht in „trockenen Tüchern“.