BMAS veröffentlicht Begleitband zu sozialpolitischen Schwerpunkten.

Dr. S-W – 08/2020

Im Juli dieses Jahres hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) einen voluminösen (350 Seiten) Begleitband zur Deutschen Ratspräsidentschaft veröffentlicht. Er orientiert sich an den Schwerpunkten der Präsidentschaft auf dem Weg zu einem sozialen Europa. Diese sind insbesondere:

  • ein Europäischer Rechtsrahmen für angemessene nationale Mindestlöhne und die Einigung auf eine soziale Grundsicherung in Europa,
     
  • die Zukunft der Arbeit einschließlich der neuen digitalen Arbeitsformen und Plattformökonomie,
     
  • einOrdnungsrahmen für Künstliche Intelligenz, der Sicherheits-, Haftungs-und Datenschutzaspekten gerecht wird sowie
     
  • menschenwürdige Arbeit in globalen Lieferketten.
     

Der Band ist nicht so sehr eine Präsentation der Regierungsüberlegungen. Vielmehr lässt er eine Reihe von Vertreterinnen und Vertretern der Mitgliedstaaten, europäischer und internationaler Institutionen, Nicht-Regierungsorganisation, Sozialpartner, Wissenschaft und Expertinnen und Experten aus der Praxis zu Wort kommen.

Thematisch nehmen zunächst europäische Mindeststandards beim Lohn und Grundsicherung (v. a. in Form von Mindesteinkommen) einen breiten Raum ein. Die Beiträge der „Social Platform“ sowie des „European Minimum Income Network“ zeigen einige der Probleme auf, die sich bei einer europäischen Definition eines „angemessenen Mindesteinkommens" stellen: Orientierung am Durchschnitts-(Median-) Einkommen oder an einem Warenkorb? Verpflichtende Teilnahme an Aktivierungsmaßnahmen? Gebot, die nationale Armutsgrenze nicht zu unterschreiten? Verhältnis zum Mindestlohn? Professor Miriam Hartlapp beleuchtet die Optionen (wohl permanenter) solidarischer Finanztransfers zugunsten ärmerer Mitgliedstaaten zur Finanzierung des Ausbaus der Mindestsicherung – auf der Rechtsgrundlage von Art. 175 AEUV, und im mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union (EU) über den ESF+. Auf diese Weise ließen sich manche der bisher zögernden osteuropäischen Länder überzeugen.

Sharon Baute (Universitäten Amsterdam und Leuven) geht der heiklen Frage nach, was denn die Bürger von einer verstärkten Rolle Europas im sozialen Bereich halten, konkret: Sind sie der Meinung, dass das Niveau der sozialen Leistungen und der sozialen Dienstleistungen in ihrem Land eher steigen oder eher sinken wird, wenn die Entscheidungen in diesem Bereich stärker auf EU-Ebene getroffen würden? Wenig überraschend: Nur wenige Menschen in Nord- und Westeuropa nehmen an, dass es ihnen besser gehen würde, aber mehr als doppelt bis dreimal so viele, dass es ihnen schlechter gehen wird. In Süd- und Osteuropa ist es eher umgekehrt. Dessen ungeachtet stünden – nach einer anderen Studie – die Mehrheit der Bürger, auch in wohlhabenderen Staaten, der Einführung einer europäischen Mindestsicherung für nicht erwerbstätige alleinstehende Personen positiv gegenüber – auch wenn diese eine Umverteilung über Ländergrenzen hinweg einschließen würde.

Ausführlich kommen die Vertreterinnen und Vertreter einer globalen gesellschaftlichen und Unternehmensverantwortung für globale Lieferketten zu Wort; dies ist der zweite große Themenkomplex. Hierbei wurde aber auch deutlich, dass es für ein Unternehmen faktisch nicht möglich ist, für die gesamte Lieferkette die Verantwortung zu übernehmen. Vor allem von Seiten der Wirtschaft werden Bedenken geäußert, aber auch gute Beispiele vorgestellt.

Der dritte Themenkomplex betrifft die „Neue Arbeitswelt“ und hier insbesondere die „digitale“ Arbeitswelt mit den Kernthemen Künstliche Intelligenz, Plattformökonomie und Weiterbildung. In seinem Eingangsbeitrag spricht sich Staatssekretär Björn Böhning unter anderem für eine „gute Arbeit in einer starken Plattformökonomie“ aus. Sie brauche gute - und teilweise auch neue – Regelungen. Dabei gehe es zum Beispiel auch um die Frage, wie man Plattformen, die mit (Solo-) Selbständigen arbeiten, stärker in die Verantwortung nehmen könne. Gerade die neuen Arbeitsformen der Selbstständigen rücken, so Böhning, Lücken in ihrer sozialen Absicherung in den Vordergrund der internationalen Debatte. Dies gilt nicht zuletzt vor dem Hintergrund der oft grenzüberschreitenden Dimension der Plattformarbeit, womit sich klassische Fragen stellen wie: Welches Recht ist anwendbar, und wie kann der Plattformarbeiter seine Rechte durchsetzen?

Das Thema „Plattform“ und „Plattformarbeit“ zieht sich als roter Faden durch eine Reihe von Beiträgen. Die „Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft“ des BMAS greift den Faden auf und stellt die Frage in den Raum, ob wegen der mit Arbeitnehmenden vergleichbaren Schutzbedürftigkeit der (in der Regel selbständigen) Plattformarbeitenden spezifische gesetzliche Regeln für diesen Personenkreis geschaffen werden sollten.    

Schließlich wird in einem vierten Komplex der Einsatz von Künstlicher Intelligenz behandelt, sowohl in der betrieblichen Praxis als auch in der Verwaltung. Letzteres geschieht am Beispiel des Österreichischen Arbeitsmarktservice mit seinem AMS-Algorithmus. Er klassifiziert Arbeitslose und macht Vorschläge, wer im Einzelfall mit Weiterbildungsmaßnahmen unterstützt werden sollte. Der Algorithmus lernt durchaus aus vorangegangenen Fällen, was aus Sicht von Professor Katharina Zweig (TU Kaiserslautern) Risiken wie Chancen birgt: Das Risiko, dass sich Diskriminierungen der Vergangenheit fortsetzen, aber auch die Chance, dass sie aufgedeckt werden und man ihnen durch gezielte Maßnahmen gegensteuert.