Vorschlag eines „Single Digital Windows“
Einkommen von Plattformarbeitenden sichtbar machen.
Dr. S-W – 08/2020
Bereits die von der EU-Kommission beauftragte „Hochrangige
Gruppe zu den Auswirkungen der digitalen Transformation der EU-Arbeitsmärkte“
hatte im April 2019 einen einschlägigen Bericht vorgelegt. Er gipfelte unter
anderem im Vorschlag eines einheitlichen digitalen Fensters („Digital Single
Window“) auf EU-Ebene. Es hat gewisse Parallelen zu dem von Enzo Weber
vorgeschlagenen Modell einer „Digitalen Sozialen Sicherung“ (DSS),
unterscheidet sich aber auch in wesentlichen Punkten.
Auf der Grundlage des Berichts der Gruppe hat die
EU-Kommission die Wissenschaftlerin Daisy Ogembo und den Wissenschaftler Vili
Lehdonvita aus Oxford beauftragt, die Durchführbarkeit des Konzepts zu
untersuchen und hierzu Vorschläge zu machen.
Ausgangslage des „Oxford-Berichts" ist die Feststellung,
dass Plattformarbeitende in aller Regel selbständige Auftragnehmende sind und daher
die Befolgung von Steuer- und Sozialabgabenpflichten deutlich niedriger ist als
die der Arbeitnehmenden, bei denen bereits an der Quelle ein Abzug erfolgt. Im
Fall von Plattformarbeitenden kommt noch hinzu, dass diese oft im gleichen
Zeitraum mehrere Tätigkeiten verrichten, möglicherweise in verschiedenen
Beschäftigungsformen, und das nicht nur in einem, sondern im rechtlichen
Geltungsbereich mehrerer Länder. Konsequenz ist, dass ihr Einkommen
möglicherweise in mehreren Länder zu versteuern ist (bzw. Sozialabgaben
unterliegt). Noch komplexer werden die Verhältnisse, wenn die Plattform
außerhalb der EU lokalisiert ist.
Die Lücken in der Steuer- und Beitragserhebung bewirken
nicht nur unfaire Wettbewerbsvorteile von Unternehmen, die Plattformarbeit
nutzen. Sie produzieren auch ein Segment von Erwerbstätigen mit unzureichender
Absicherung in der Rentenversicherung und anderen Zweigen der
Sozialversicherung. Auf der anderen Seite hinterlassen plattformvermittelte
Erwerbstätigkeiten digitale Spuren und damit Chancen, eine angemessene
Besteuerung und Zahlung von Sozialabgaben zu unterstützen.
Diese Chance versuchen sich einige Mitgliedstaaten der EU
zunutze zu machen und fordern Einkommensdaten von Plattformarbeitenden direkt bei
den Plattformbetreibern an. Zu diesen Ländern gehören Estland, Dänemark und
Frankreich. Ihre Erfahrungen bilden den Ausgangspunkt für eingehendere
Untersuchungen und Schlussfolgerungen.
Das vorgeschlagene Single Digital Window
soll vor allem dazu dienen, eine Fragmentierung der Berichtspflichten und ihres
Formats zu verhindern, konkret: Es soll vermieden werden, dass 28 (jetzt 27)
Mitgliedstaaten ihre eigenen Systeme, Formate und Protokolle entwickeln, anhand
derer die Plattformen berichten müssen, möglicherweise sogar noch differenziert
nach verschiedenen Empfänger-Behörden. Außerdem sei fraglich, ob alle Länder
überhaupt über die Ressourcen verfügen, eine entsprechende Struktur selbst
aufzubauen. Demgegenüber könnte ein europäisches digitales Meldesystem die
Berichtspflichten vereinfachen. Es könnte sogar noch an weitere Funktionen
gedacht werden, etwa in der Art einer Einzugsstelle; diese Idee wurde aber nicht
weiter verfolgt.
Der Bericht legt vorab Wert auf die Feststellung, dass das
Design eines digitalen Meldesystems davon abhängt, welche Zwecke damit verfolgt
werden: Verringerung der Befolgungskosten für die Plattformarbeitskräfte und die
Plattformen? Oder die Bekämpfung von Steuer- und Abgabenvermeidung und damit
eine Erweiterung der Instrumente der Einzugsstellen?
Hinzu kommt die Frage nach
Erfahrungen mit möglichen Hürden: Sind sie technischer, rechtlicher oder
administrativer Natur? Gegen eine verstärkte Einbeziehung der Plattformen wird
unter anderem das Argument in Stellung gebracht, dass die
Plattformarbeitskräfte hierdurch einen Arbeitnehmendenstatus erhalten
könnten.
Datenschutzanliegen sind ein weiteres Problem; diese stellen gerade
auch an einen grenzüberschreitenden Datenaustausch hohe Anforderungen.
Schließlich ist auch an die Kosten der Einführung und des Betriebs eines
Einkommens-Meldesystems zu denken. Sie sollten zumindest nicht höher sein als die hierdurch erzielten zusätzlichen
Steuern und Abgaben.
Als das wohl größte Problem erweist sich der Zugang zu
Einkommensdaten im Besitz von Plattformen, die nicht im eigenen Land
registriert sind. Teilweise gelang zwar die grenzüberschreitende Kooperation
der Steuerbehörden wie im Fall Dänemark/Niederlande. Der Bericht möchte jedoch
einen Schritt weiter gehen und schlägt den Mitgliedstaaten vor, ihre Kräfte zu bündeln, gemeinsame Strukturen einzurichten und
gegenüber Drittstaaten außerhalb der EU gemeinsam aufzutreten.
Was auf alle Fälle bleibt, ist das Problem der Aufarbeitung
der gewonnenen Einkommensdaten zur Ermittlung der Sozial- und
Rentenabgabenpflicht und der Berechnung ihrer Höhe, gerade dort, wo es sich um
Selbständige handelt. An dieser Stelle übt der Bericht unverhohlen Kritik an
der oft komplexen und angeblich nicht auf die Fälle von Plattformarbeit
zugeschnittenen Regeln zur sozialen Sicherheit Selbständiger. Es sei oft
schwieriger, Einkommensdaten für die Zwecke der Sozialabgaben zur erheben als
für Steuerzwecke, was allerdings nicht näher erläutert wird.
Was die technischen Probleme angeht, so sind diese offenbar
jedenfalls teilweise eng verbunden mit Datenschutzvorschriften. Das macht sich
bei der Identifizierung der Plattformarbeitenden bemerkbar. Manche
Mitgliedstaaten wie Estland verfügen über eine einzige „Nummer“ für alle
Zwecke. Deutschland dagegen wäre hier sehr viel anspruchsvoller – mit
zusätzlichem Verwaltungsaufwand. Außerdem setzt ein grenzüberschreitender
Datenaustausch - will er nicht an datenschutzrechtliche Grenzen stoßen, wäre
hinzuzufügen – mehr voraus als nur die Kenntnis von Geldströmen: es müsste
bekannt sein, wo die Plattformarbeitskraft ihren Sitz hat (residence), und welcher
Staat – oder Staaten? – das Besteuerungsrecht (und das Recht auf die Erhebung
von Sozialabgaben) hat.
Die Natur und Qualität der für ein gemeinsames
digitales Meldesystem erforderlichen
Daten ist daher eine ganz zentrale und noch zu klärende Frage. Eine weitere
kritische Frage bleibt das „Timing“ der zu übermittelnden Daten, damit sie den
zuständigen Behörden für den jeweiligen Abrechnungszeitraum rechtzeitig zur
Verfügung stehen.
Was wären die nächsten Schritte auf europäischer Ebene?
Zunächst müssten sich die Mitgliedstaaten und Steuerbehörden darüber
verständigen, was das Hauptziel eines einheitlichen digitalen Meldesystems wäre:
Vereinfachung der Mitwirkungs- und Befolgungskosten von Plattformen und der
über sie Erwerbstätigen, oder Maximierung des Steuer- und
Sozialabgabenaufkommens? Ersteres dürfte auf Kosten der Genauigkeit gehen,
letzteres auf Kosten der Einfachheit und Benutzungsfreundlichkeit.
Ein weiterer
Schritt wäre eine europäische Richtlinie, welche web-basierte Plattformen
verpflichtet, relevante Einkommensdaten zur Verfügung zu stellen.
Auch dann
blieben allerdings Umsetzungsprobleme: Wer setzt in grenzüberschreitenden
Fällen die Pflichten durch, und auf welchem Wege? Zum Beispiel durch Sperrung
der Web-Seite bei Nichtbefolgung der Regeln? Diese Frage wird vor allem dann
relevant, wenn die Plattform ihren Sitz im Nicht-EU-Ausland hat. Schließlich
wäre auch die Notwendigkeit einer Anpassung der europäischen Datenschutzregeln
zu prüfen.
Einen breiten Raum nimmt im Bericht – aus Platzgründen aber
nicht in diesem Artikel – die Vorstellung von zwei alternativen Modellen zum Aufbau
eines einheitlichen digitalen Meldesystems ein. In aller Kürze:
Die erste Variante
bestünde in einem dezentralen Netzwerk, in dem die mitgliedstaatlichen
Steuerverwaltungen miteinander kooperieren. Dieses Modell kommt heute schon bei
der grenzüberschreitenden Mehrwert- und Einkommensbesteuerung zum Einsatz. Das
zweite Modell arbeitet mit einer zentralen Agentur („Hub and Spoke Model“), die
von den Mitgliedstaaten benannt würde. An sie müssten die Plattformen alle
Einkommensdaten übermitteln, und sie würde die Daten dann an die zuständigen
Stellen der Mitgliedstaaten weiterleiten. Ein solches System wäre in Europa
neu. Es sei unter dem Gesichtspunkt der Einbeziehung von Plattformen aus
Drittländern das sinnvollere Modell. Vor allem aber könnte, so die Autoren des
Berichts, die zentrale Stelle die Daten so aufarbeiten, dass sie den
Bedürfnissen des Empfängerlandes entsprechen.
Die Autorin und der Autor des Berichts sprechen sich für die zweite
Variante aus, ein zentralisiertes System, und schlagen ein
Pilot-Projekt auf freiwilliger Basis vor, mit einem Kern bestehend aus Dänemark
und Estland. In einem weiteren Schritt könnte dann auf europäischer Ebene
gesetzliche Grundlagen geschaffen werden, die das System verbindlich für
Plattformbetreibende und Plattformarbeitskräfte macht. Die Nutzung des Systems durch die
Steuer- und Sozialbehörden der Mitgliedstaaten ist jedoch freiwillig. Eine
weitere Option wäre, eine europäische Institution mit der Aufgabe der zentralen
Agentur zu beauftragen, etwa die neu gegründete europäische Arbeitsbehörde.
Dies würde jedoch einer weiteren gesetzlichen Basis auf europäischer Ebene
bedürfen.
Der Bericht ist positiv zu bewerten, da er auch den Einzug
von Sozialversicherungsbeiträgen im Blick hat. Die EU-Kommission sollte das
Konzept eines „einheitlichen digitalen Meldesystems“ weiter verfolgen. Bis zur
Einführung sind allerdings noch viele Hürden zu überwinden, und vor allem wird
es darauf ankommen, dass die auf diese Weise ermittelten Einkommensdaten auch
aus Sicht der deutschen Sozialversicherungsträger sinnvoll nutzbar sind.