„Social Platform“ will Europäisches Mindesteinkommen
Rechtsverbindliche Vorgaben sollen Druck ausüben
Dr. S-W – 10/2020
Anders
als im Rat ist in Kreisen der europäischen Zivilgesellschaft der Ruf nach
verbindlichen Vorgaben für nationale Mindesteinkommensregeln weit verbreitet. Die
jüngste Stellungnahme hierzu hat im September der europäischen Dachverband
„Social Platform“ veröffentlicht, unter dem englischen Titel „An
EU Framework Directive on Adequate Minimum Income“.
Im Wege einer Richtlinie sollen EU-weit gültige
Mindeststandards für die Berechnung einer angemessenen Einkommensunterstützung
geschaffen werden. „Angemessen“ setzt nach Auffassung der Plattform ein
Einkommen voraus, welches mindestens den Wert der nationalen Armutsschwelle
erreicht - der Schwelle zum
Armutsrisiko. Dies sind 60% des nationalen Medianeinkommens. Dabei ist „Median“
nicht der Durchschnitt, sondern der Wert, der von der einen Hälfte der Menschen
überschritten und von der anderen Hälfte unterschritten wird.
Nur zwei Länder
erreichen nach Berechnungen der OECD und der Europäischen Kommission zur Zeit
dieses Ziel: Irland und die Niederlande. Deutschland zum Beispiel verfehlt es um mehr
als 20%, im EU-Durchschnitt sind es sogar 40%.
Das 60%-Ziel sei zu ergänzen
durch den Maßstab eines Warenkorbs, gemessen in nationalen Preisen.
Das adäquate Mindesteinkommen müsse zeitlich unbefristet
jedem gewährt werden, der es benötigt und sich „de facto“ auf dem Gebiet der EU
aufhält. Es soll also im Prinzip eine Bedürftigkeitsprüfung zulässig sein. Sanktionen,
teilweise oder vollständige Kürzungen sind dagegen auszuschließen. Offenbar schließt
sich die Plattform der Auffassung an, dass das Mindesteinkommen auch dann
gezahlt werden soll, wenn Empfängerinnen und Empfänger nicht bereit sind, eine Arbeit
aufzunehmen.
Neben dem Mindesteinkommen soll auch ein Zugang zu hochwertigen
und bezahlbaren Gesundheits- und (Sozial-) Dienstleistungen garantiert werden,
die der gesellschaftlichen und der Arbeitsmarktintegration dienen.
Abseits ihrer Kernforderungen identifiziert die Plattform
bestimmte Personengruppen, die besonders von Armut und Ausgrenzung bedroht sind
oder einen vergleichsweise höheren Sicherheitsbedarf haben, wie insbesondere
Menschen mit Behinderung.
Zu diesen Gruppen werden schließlich auch ältere Personen gezählt.
Sie hätten im Vergleich zu Jüngeren einen höheren Einkommensbedarf, etwa durch
höhere Mobilitäts-, Gesundheits- oder Pflegekosten. Das sei bei der Kalkulation
eines speziell auf diese Personengruppe zugeschnittenen Referenz-Warenkorbs zu
berücksichtigen. „Mindestrenten“ seien eine wichtige Form eines
Mindesteinkommens zur Vermeidung von Altersarmut.
Formulierungen wie diese
zeigen, dass sich die Ideen eines europäischen „bedarfsgerechten“ und
armutsverhütenden Mindesteinkommens sehr schnell in Forderungen an die
Sozialversicherungssysteme niederschlagen können – die dann in der Regel auch
ohne Bedürftigkeitsprüfung leisten.