Die Europäische Kommission wird wohl nicht gegen Deutschland klagen.

UM – 08/2021

Das Vertragsverletzungsverfahren Nr. 2013/4075 hat Aussichten auf ein baldiges Ende. Folgt die Eurpäische Kommission einer Empfehlung ihrer Dienststellen, wird sie im Verfahren gegen Deutschland ihre Ermessensspielräume nutzen und den Europäischen Gerichtshof (EuGH) nicht anrufen. Streitgegenstand sind die einheitlichen Apothekenabgabepreise für verschreibungspflichtige Arzneimittel, die in Deutschland auch auf im Ausland ansässige (Versand-)apotheken Anwendung finden.

Das neue Apothekengesetz hält an gleichen Preisen fest

Nachdem der EuGH bereits in einem Urteil vom 19. Oktober 2016 (C-148/15) entschieden hatte, dass die Bindung von ausländischen Versandapotheken an einheitliche Abgabepreise in Deutschland gegen europäisches Recht verstößt, suchten deutsche Politiker nach einem Weg, ihre Standort-Apotheken zu schützen. Gefunden wurde die Lösung, die Vorgabe einheitlicher Preise vom Arzneimittelgesetz in das Sozialgesetzbuch V zu verschieben. So geschehen mit dem Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken (VOASG). Ein Kunstgriff, der auch dem Bundesjustizministerium Bauchschmerzen bereitete, weshalb der Gesetzentwurf, der am 15. Dezember des letzten Jahres in Kraft getreten ist, Brüssel zur Prüfung vorgelegt wurde (siehe dazu auch News 08/2019).

Brüssel hat reagiert. In einem Schreiben der Generaldirektion Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU (GD GROW) vom 8. Juli dieses Jahres an die betroffenen Online-Apotheken wird angekündigt, das Verfahren gegen Deutschland einstellen zu wollen. Der Darlegung ihrer Rechtsauffassung und Aufforderung an die Bundesrepublik vom 7. März 2019, Deutschland möge sich in der Sache äußern, sollen zunächst keine weiteren Schritte folgen. Vorangegangen waren zahlreiche Besuche der Hausspitzen des Bundesministeriums für Gesundheit zwischen August 2019 und August 2020 bei der Kommission. Am 11. September 2020 und damit 14 Monate nach der Kabinettsentscheidung konnte sich dann der Bundestag in erster Lesung mit dem Entwurf befassen.

Deutschlands Argumente überzeugen zwar nicht …

Die Argumentation der Kommissionsdienststellen ist aufschlussreich. Der Standpunkt, dass das Boni-Verbot für verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel genauso zu werten ist wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung und damit gegen EU-Recht verstoße, wird aufrechterhalten. Den Verweisen des deutschen Gesetzgebers auf das finanzielle Gleichgewicht und den Schutz des gesetzlichen Krankenversicherungssystems wird nicht gefolgt.

... es gibt aber "Opportunitätsgründe"

Erstaunlicherweise springen die Kommissionsdienststellen aber der Bundesregierung mit neuen Argumenten hilfsweise zur Seite: Deutschland sei sehr damit befasst, bis 2022 die Infrastruktur für das elektronische Rezept aufzubauen. Wie wichtig dies sei, habe die Corona-Pandemie gezeigt. Eine Auseinandersetzung über nationale Preispolitik sei diesem wichtigen Umstellungsprozess nicht zuträglich. Gegenwärtig würde ein stabiler Rechtsrahmen gebraucht. Was kommt, wenn der Digitalisierungsprozess in Deutschland vorangekommen ist, bleibt offen.

Die Kommission verfügt über einen Ermessensspielraum, ob und wann sie ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet oder den EuGH anruft. Ein Ermessen, das sie durchaus strategisch nutzt. Im vorliegenden Fall soll den Kommissionsmitgliedern vorgeschlagen werden, den Fall aus „Opportunitätsgründen“ abzuschließen. Es sei denn, die Beschwerde führenden Online-Apotheken warten mit zusätzlichen Argumenten oder Informationen auf.

Das letzte Wort steht noch aus

Vorerst also gilt: Sollte die Kommission der Empfehlung der GD GROW folgen, kann Entwarnung für die deutschen Standort-Apotheken gegeben werden. Aber wird sie von Dauer sein? Die Kommissionsdienststellen wollen die Situation auf dem Apothekenmarkt in Deutschland weiter beobachten. Und natürlich bleibt auch die Würdigung durch nationale Gerichte unberührt. Einen Gang dorthin könnten die hauptsächlich betroffenen, niederländischen Versandapotheken, durchaus erwägen. Für diese ist die Empfehlung der Kommissionsdienststellen erst einmal ein herber Rückschlag. Sie bricht auch keine Lanze für eine wirtschaftliche und zeitgemäße Arzneimittelversorgung.