Europa vor großen Herausforderungen
Heute und in Zukunft - die sozialen Sicherungssysteme.
TH – 08/2021
Alterssicherung,
Gesundheit und Pflege sind grundlegende Kernthemen jeder Gesellschaft. Die drei großen sozialen Sicherungssysteme - Rente, Gesundheit, Pflege - leiten sich aus den Werten und Normen
des jeweiligen Zusammenlebens ab und prägen diese in nicht unerheblichem Maße.
Ihre Ausgestaltung und Ausstattung wird durch die zur Verfügung stehenden
Ressourcen bestimmt und ist ständigen, dynamischen Veränderungsprozessen
unterworfen.
Die Europäische Kommission erstellt in regelmäßigen Abständen mitgliedslandbezogene Berichte über die Entwicklungen in den drei
Sicherungssysteme. Diese Untersuchungen ermöglichen
langfristige, vorsichtige Prognosen und Projektionen. Drei dieser Studien,
dem Angemessenheitsbericht, dem Altersbericht sowie dem Langzeitpflegebericht,
widmet sich der aktuelle Themenletter ed*
der Deutschen Sozialversicherung.
Die Berichte starten mit einer Betrachtung des heutigen
Ausgangspunktes – im Regelfall das Jahr 2019 - und mit einem mehr oder weniger
tiefen Rückblick.
Renten heute und in Zukunft
Der
Rentenangemessenheitsbericht (siehe News
06/2021) beleuchtet insbesondere zwei Frage: Reichen die Renten, heute und zukünftig, zur Aufrechterhaltung
des Lebensstandards und: Können sie Altersarmut verhindern?
Niedrige
Alterseinkünfte sind oft das Ergebnis niedriger Erwerbseinkünfte und/oder
unterbrochener Erwerbskarrieren, auch sind sie weiterhin oft weiblich. Hier könnten,
so der Bericht, Mindest- und Grundsicherungsleistungen einen wichtigen Beitrag
zur Angemessenheit leisten. Tatsächlich haben bereits einige Mitgliedstaaten in
den letzten Jahren diese Elemente ausgebaut; in Deutschland kommen hier die
Leistungen zur Grundsicherung zum Tragen.
Außerdem hat
sich in vielen Ländern die Dauer des Ruhestands verkürzt: Das Rentenalter steigt schneller als die
Lebenserwartung. Im Lebenszyklus werden nunmehr im Schnitt 40 Jahre aktiv und
20 Jahre im Ruhestand verbracht.
Für die
Zukunft warnt der Angemessenheitsbericht eindeutig vor einem Absinken des Rentenniveaus.
Bereits wer im Jahr 2059 in Rente geht, wird im Verhältnis zu seinem
Erwerbseinkommen eine niedrigere Rente haben als ein Neurentner im Jahr 2019 –
bei gleicher Erwerbskarriere. Bis 2070 ist dann von einem weiteren Absinken des
Rentenniveaus auszugehen. Beleuchtet wird auch die Kluft zwischen gesetzlichem
und tatsächlichem Renteneintrittsalter sowie die anfallenden Kosten gemessen am
BIP.
Auf der
Ausgabenseite kommt man zum Ergebnis, dass langfristig die Ausgaben für
die Alterssicherung relativ stabil bleiben werden, dies jedoch einhergehen wird
mit einem späteren Renteneintritt und verminderter Lohnersatzrate.
Gesundheit wird teurer
Der
demografische Wandel zählt zu einem der Kostentreiber bei den
Gesundheitsausgaben. Gegensteuern ließe sich hier vor allem durch mehr gesunde
Lebensjahre. In der Vergangenheit hatte der medizinische Fortschritt allerdings
einen weit größeren Einfluss auf die Kosten als demografische Faktoren und das
Krankheitsgeschehen.
Demografische
und nicht-demografische Faktoren werden auch in Zukunft einen hohen Druck auf
die Nachhaltigkeit öffentlich finanzierter Gesundheitsausgaben ausüben. Der
öffentliche Sektor wird auch in Zukunft den Hauptanteil der Gesundheitskosten
zu tragen haben. Gesundheitsausgaben werden damit auch auf absehbare Zeit zu
den langfristigen Kostentreibern gehören.
Langzeitpflege- Probleme und Kosten
Den
langfristigen Kosten der Langzeitpflege sind sowohl im Alters- als auch im
Langzeitpflegebericht eigenständige Kapitel gewidmet. Die Projektionen
beschränken sich auf öffentliche Ausgaben; nicht unerhebliche Mittel fließen
jedoch bereits jetzt aus privaten Taschen in die Pflege, zum Beispiel als
Zuzahlungen. Der Langzeitpflege-Bericht beschäftigt sich ausführlich mit der
Bezahlbarkeit und der Qualität von Pflegeleistungen.
Mit der
steigenden Lebenserwartung erreichen auch immer mehr Menschen ein Alter, in dem
sie aufgrund ihrer nachlassenden körperlichen und geistigen Gesundheit auf die
Hilfe anderer angewiesen sind. Dies wird sich naturgemäß auf die Ausgaben für
die Langzeitpflege auswirken, die schneller steigen werden als die Ausgaben für
Gesundheit und Renten.
Familienangehörige
und Freunde, vor allem Frauen, leisten derzeit, oftmals informell, den größten
Teil der Langzeitpflege. Es ist jedoch davon auszugehen, dass das Angebot an
informellen Pflegekräften zurückgehen wird, unter anderem da die Menschen
weniger Kinder bekommen, die möglicherweise auch weiter entfernt von ihren
älteren Eltern leben und nicht in der Lage oder bereit sind, die Pflege zu
übernehmen. Daher werden die Sozialschutzsysteme in zunehmendem Maße für
Pflegebedürftige sorgen müssen. Gegenwärtig bieten jedoch nur wenige EU-Länder
einen umfassenden Sozialschutz zur Deckung des Pflegebedarfs im Alter.
Genauer
beleuchtet werden im genannten Bericht auch die Reduzierung des Eigenanteils
für diejenigen, die sich ihn nicht leisten können, die Qualität der
Pflegeleistungen (bislang gibt es keine EU-weit akzeptierten
Qualitäts-Indikatoren) und die Arbeitsbedingungen von Pflegekräften (insbesondere die Auswirkungen
auf deren Gesundheit).
Die Rolle der
bereits erwähnten informell, und oft unentgeltlich, erbrachten Pflegeleistungen
ist Anlass für einen Appell, für informelle Pflegepersonen zwar mehr soziale
Absicherungen und sonstige Hilfestellungen zur Verfügung zu stellen – aber bitte
nicht auf Kosten eines Ausbaus der formellen Pflege.
Politikempfehlungen
Die Berichte
enthalten auch immer wieder Politikempfehlungen, vor allem der
Angemessenheitsbericht. Diese
Empfehlungen fokussieren zwar auf die Alterssicherung, richten sich aber auch
an die anderen Zweige der Sozialversicherung. Hierzu gehört vor allem der
(nicht neue) Rat, in einem sich wandelnden Wirtschafts- und Arbeitsmarktumfeld
und vor dem Hintergrund des demographischen Wandels die Alterssicherung auf
eine breitere Finanzierungsbasis zu stellen; so sollen lohnbezogene Beiträge
stärker durch andere, weniger das Arbeitseinkommen belastende Quellen ergänzt
werden wie Kapitalerträge oder Vermögen. Der mögliche Beitrag von Verbrauchs-
und insbesondere Umweltsteuern wird dagegen nur vorsichtig diskutiert. Ferner
werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, mehr zur Beseitigung der
Geschlechterungleichheit zu unternehmen sowie atypische und selbständige
Erwerbsarbeit besser zu schützen.
Zum
Gesundheits- und Pflegesektor enthalten die Berichte Passagen, die sich in die
Richtung einer vorsichtigen Privatisierung der Kostenlast auslegen lassen.
Lediglich im Pflegebereich wird man deutlich: der Kostenanstieg ließe sich
unter anderem durch eine Konzentration öffentlicher Ausgaben auf die Menschen,
die Pflege am dringendsten benötigen und sie sich am wenigsten leisten können,
bremsen. Dies widerspräche dem in Deutschland, aber auch in anderen Ländern
geltenden Ansatz, Pflegeleistungen im Grundsatz nicht von einer materiellen
Bedürftigkeit abhängig zu machen.
Den vollständigen Themenletter ed* finden sie hier.