
Alternde Gesellschaft – Mythen und Realitäten
Ein Faktencheck des European Observatory
VS – 07/2022
Die Alterung der Gesellschaft ist in der öffentlichen
Diskussion oft negativ belegt. Vielfach wird das Narrativ eines Konflikts
zwischen den Generationen verwendet. Die Alterung wird als eine Gefahr für die Finanzierbarkeit
des Sozialstaats und des Gesundheitswesens gesehen, die weitreichende
Einschnitte im Sozialsystem erfordere. Aufgrund des Widerstands der immer
größer werden Gruppe der älteren Wählerinnen und Wähler sowie der politischen
Pragmatik in Demokratien ließen sich diese jedoch nicht oder nur eingeschränkt
umsetzen.
Das European Observatory hinterfragt in einer aktuellen
Studie, ob diese Narrative sich mit Fakten belegen lassen, und hat drei oft
genannte Aussagen zur alternden Gesellschaft untersucht. Handelt es sich hierbei
um gut belegte Realitäten oder nur um immer wieder bemühte Mythen?
Die alternde Gesellschaft ist eine Erfolgsgeschichte
Vorab heben die Autoren und Autorinnen hervor, dass der Anstieg
der Lebenserwartung und der verbesserte Gesundheitszustand insbesondere älterer
Menschen ein großer Erfolg der medizinischen Versorgung, der wirtschaftlichen
Entwicklung sowie der Bildungs- und Sozialpolitik ist. Dies sei ein Trend, der
für alle Länder Europas gelte. Bei näherer Betrachtung zeige sich allerdings,
dass innerhalb Europas große Unterschiede bei Lebenserwartung,
Gesundheitszustand, sozialer Absicherung oder dem Wahlverhalten Älterer
bestehen. Die Diskussion, welche gesellschaftlichen Anpassungen aufgrund der Alterung
der Gesellschaft erforderlich seien, werde wiederum in allen Ländern und auch
auf der europäischen Ebene geführt.
Mythos von nicht mehr finanzierbaren Gesundheitssystemen
Eine viel verwendete Aussage in der öffentlichen Debatte
ist, dass die Alterung der Gesellschaft zu einem starken Anstieg der
Gesundheitsausgaben führe und das Gesundheitssystem nicht finanzierbar sei. Die
Autoren und Autorinnen finden hierzu jedoch nur wenige empirische Belege. Die
Alterung sei danach nur für vergleichsweise geringe Anstiege der
Gesundheitsausgaben verantwortlich. Auch blieben bei diesen Betrachtungen in
der Regel die Beiträge Älterer durch unbezahlte Arbeiten im Bereich von Pflege und
ehrenamtliche Tätigkeiten unberücksichtigt.
Mythos von den selbstsüchtigen Älteren
In der öffentlichen Diskussion wird oft unterstellt, dass
das Wahlverhalten Älterer sich primär an den versprochenen Leistungen für ihre
Generation ausrichte. Die Autorinnen und Autoren stellen jedoch fest, dass
ältere Wählerinnen und Wähler, wie alle anderen Altersgruppen, sich in
vielfacher Weise nach Identität, Ideologie, Einkommen und weiteren Faktoren
unterscheiden. Ältere stellen dabei keinen homogenen Wählerblock dar. Auch
ändern sie mit zunehmendem Alter nicht automatisch ihre politische
Orientierung.
Mythos von einer sich bei Älteren anbiedernden Politik
Der Anteil der Älteren an den Wahlberechtigten steigt und in
einigen Ländern wie Deutschland werden Ältere bald zur bedeutendsten
Wählergruppe. Daher ist eine gängige These, dass sich die Politik immer stärker
auf die Interessen Älterer ausrichte, insbesondere auch mit zusätzlichen
Leistungsversprechungen.
Die Autoren und Autorinnen sehen hierfür keine ausreichenden
Belege. Sie heben vielmehr hervor, dass Wahlprogramme komplex sind. Diesen lägen
Wertvorstellungen und politische Überzeugungen zugrunde. Die von den Wählerinnen
und Wählern wahrgenommene Politik spiegle dabei Interessengruppen, Partei- und
Koalitionspolitik sowie das Verständnis der politischen Entscheidungsträgerinnen
und -träger für Bedürfnisse und Sachzwänge wider. Dies müsse bei der Analyse
von Wahlprogrammen berücksichtigt werden. Sind beispielsweise in einem Land
Ältere besonders von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht und setzt die
Politik den Schwerpunkt auf die Bekämpfung von Altersarmut, dann kann dies
schwerlich als Beleg für eine sich bei Älteren „anbiedernde“ Politik
herangezogen werden.
Zusammenfassend plädieren die Autoren und Autorinnen dafür, sich
von schlagzeilenträchtigen Mythen zu verabschieden. Vielmehr sollten in der
Diskussion um Chancen und Risiken einer alternden Gesellschaft politische
Maßnahmen im Sinne von Win-Win-Lösungen im Vordergrund stehen. Eine
erfolgreiche Sozial- und Gesundheitspolitik könne es nur mit und für alle
Altersgruppen geben.