Belgien schlägt Fokussierung auf Humankapital vor.

VS – 11/2023

Nach dem Vorschlag für eine Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung der Europäischen Kommission vom 26. April sollen Investitionen, die im Sinne der gemeinsamen europäischen Priorität das Wachstums fördern, eine zeitliche Streckung der Schuldenanpassungspläne ermöglichen. Aus Sicht der europäischen Sozial- und Arbeitsminister sollten hierbei auch Investitionen entsprechend der gemeinsamen Zielsetzungen der europäische Säule sozialer Rechte (ESSR) berücksichtigt werden (siehe News 10/23). Aus Sicht der Sozialversicherung stellt sich insoweit die Frage, ob künftig auch soziale Investitionen als wachstumsfördernd einzustufen sind? Käme das so, würde die Bedeutung des Sozialen auf der europäischen Ebene deutlich gestärkt. Der belgische Vizepremierminister Frank Vandenbroucke treibt das Thema voran und hat gemeinsam mit dem spanischen Sozialminister Escrivá eine informelle Arbeitsgruppe eingerichtet.


Auf einer am 8. November von der spanischen und kommenden belgischen Ratspräsidentschaft gemeinsam mit dem Centre for European Policy Studies (CEPS) durchgeführten Veranstaltung sind nun hinsichtlich der Frage der Einbeziehung von sozialen Investitionen in die wirtschaftspolitische Steuerung Europas Unterschiede in der Sichtweise von Finanz- und Sozialpolitik deutlich geworden. Dies scheint weniger am Thema zu liegen als an Kompetenzfragen zwischen den Generaldirektionen für Finanzen einerseits und Beschäftigung und Soziales andererseits. Als eine mögliche Lösung diese unterschiedlichen Positionen zu überbrücken hat der stellvertretende belgische Ministerpräsident und Sozial- und Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke vorgeschlagen, sich auf Investitionen in Humankapital zu fokussieren.

Deutliche Kluft zwischen finanz- und sozialpolitischer Sichtweise

Auf der gemeinsamen Veranstaltung ist jedoch auch deutlich geworden, dass für die Finanzseite Fragen um Transparenz und angewandter Methodik im gegenwärtigen Verfahren der Haushaltskonsolidierung im Vordergrund stehen. Eine Gruppe von Mitgliedstaaten, zu denen auch Deutschland zählt, sieht im Kommissionsvorschlag die Gefahr, dass das gemeinsame Ziel tragfähiger öffentlicher Haushalte verwässert werden könnte. Einer zusätzlichen Einbeziehung sozialer Investitionen steht man dabei skeptisch gegenüber.

Soziale Investitionen können nicht den gesamten Beitrag der Sozialpolitik auf Wirtschaftswachstum und Resilienz unserer Volkswirtschaften abbilden

Viele sozialpolitische Leistungen, die wesentlich zu Resilienz und Wachstum der Volkswirtschaften der EU beitragen, können nicht als soziale Investitionen definiert werden. Trotzdem tragen diese wesentlich zur wirtschaftlichen Entwicklung bei. Minister Vandenbroucke hat auf der Veranstaltung hierfür das Beispiel leistungsfähiger Gesundheitssysteme angeführt. Während der Covid19-Pandemie haben diese entscheidend zur Resilienz der Mitgliedstaaten beigetragen. Auch wenn Sozialschutzsysteme einen wichtigen Beitrag für das Wirtschaftswachstum erbringen, ist deren primäres Ziel die soziale Absicherung und die Sicherung der Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger. Daher ist es wichtig, dass die Prinzipien und Grundsätze der ESSR als Ganzes im Europäischen Semester berücksichtigt werden.

Ist Humankapital die Lösung?

In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur werden die Fähigkeiten der Menschen als Hunmakapital angesehen. Investitionen in das Humankapital - beispielsweise in Form von Bildung oder Weiterbildung - versetzen danach die Menschen in die Lage sich produktiver in den Wirtschaftsprozess einzubringen, wodurch das Wirtschaftswachstum steigt. Investitionen in das Humankapital erhöhen dabei auch die Teilhabechancen der Bürgerinnen und Bürger.


So hat auch der Bericht der von der Europäische Kommission eingesetzten hochrangigen Expertengruppe zur Zukunft des Sozialschutzes und des Wohlfahrtsstaates in der EU Investitionen in Bildung und Qualifikationen in den Vordergrund seiner sozialpolitischen Empfehlungen gestellt. Die Menschen und damit die Gesellschaft als Ganzes werden dadurch besser in die Lage versetzt, auf die zukünftigen Herausforderungen und mögliche Schocks zu reagieren. Dabei betonen die Autorinnen und Autoren die Bedeutung von Investitionen in die Qualifikation und Bildung über den gesamten Lebenszyklus.


Minister Vandenbroucke betont zusätzlich, dass bereits heute in weiten Teilen Konsens über die Definition von Investitionen in Humankapital besteht und diese im Budget der öffentlichen Haushalte nach einheitlichen Kriterien abgebildet werden. Dabei wird vielfach der Erfolg von Bildungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen evaluiert. Somit gehe es im Austausch mit den Finanz- und Wirtschaftsministerinnen und – minister nicht mehr um technische Fragen, sondern um ein gemeinsames Verständnis, dass Investitionen in Humankapital im Rahmen der wirtschaftspolitischen Steuerung genauso wichtig sind, wie beispielsweise Investition in die Infrastruktur.


Hierzu soll der erste gemeinsamen Rat von EPSCO und ECOFIN im März 2024 entscheidend beitragen.